15 - Ferienbeginn

An einem ruhigen, strahlendhellen Nachmittag schloss Anne die Schultür zu. Der Wind summte in den Fichten auf dem Schulhof und die Bäume am Waldrand warfen lange, unbewegte Schatten. Sie steckte den Schlüssel mit einem zufriedenen Seufzer in die Tasche. Das Schuljahr war um, und da alle mit ihr zufrieden waren, war sie für das nächste wieder eingestellt worden - nur Mr Harmon Andrews hatte gesagt, sie solle öfter den Stock benutzen. Jetzt winkten ihr zwei herrliche Monate wohlverdienter Ferien. Anne war im Einklang mit sich und der Welt, als sie mit ihrem Korb voll Blumen in der Hand den Hügel hinunterging. Seit die ersten Frühlingsblumen blühten, hatte Anne nicht ein einziges Mal ihren allwöchentlichen Gang zu Matthews Grab versäumt. Alle in Avonlea, außer Marilla, hatten bereits den stillen, schüchternen, unbedeutenden Matthew Cuthbert vergessen. Aber in Anne war die Erinnerung an ihn lebendig und würde es immer bleiben. Sie konnte diesen guten Mann nicht vergessen, der ihr all die Liebe und Zuneigung gegeben hatte, nach der sie sich in ihrer Kindheit so gesehnt hatte.

Am Fuße des Hügels saß im Schatten der Fichten ein Junge auf dem Zaun - ein Junge mit großen, verträumten Augen und einem schönen ausdrucksstarken Gesicht. Er schwang sich hinunter und schloss sich lächelnd Anne an. Aber er hatte geweint.

»Ich habe auf Sie gewartet, weil ich mir dachte, dass Sie auf den Friedhof gehen«, sagte er und schob seine Hände in ihre. »Ich gehe auch dahin. Ich will diesen Strauß Geranien von Großmutter auf Großvater Irvings Grab legen. Und schauen Sie, diesen Strauß weiße Rosen lege ich zum Gedenken an meine Mutter neben Großvaters Grab, weil ich ihr Grab nicht besuchen kann. Aber meinen Sie nicht auch, sie weiß es trotzdem?«

»Ja, ganz bestimmt, Paul.«

»Verstehen Sie, genau heute vor drei Jahren ist meine Mutter gestorben. Das ist eine lange, lange Zeit, aber es tut noch immer genauso weh ... und ich vermisse sie noch genauso. Manchmal kommt es mir vor, als könnte ich es nicht aushalten, so weh tut es.«

Pauls Stimme und seine Lippen zitterten. Er sah auf die Rosen und hoffte, dass seine Lehrerin die Tränen in seinen Augen nicht bemerkte.

»Und doch«, sagte Anne sehr sanft, »würdest du nicht wollen, dass es aufhört weh zu tun. Du würdest deine Mutter nicht vergessen wollen, selbst wenn du es könntest.«

»Nein, bestimmt nicht, genauso empfinde ich es auch. Sie verstehen immer alles so gut, Miss. Bei niemand sonst ist das so, nicht einmal bei meiner Großmutter, obwohl sie sehr gut zu mir ist. Höchstens noch bei meinem Vater, aber trotzdem habe ich nie viel mit ihm über meine Mutter geredet, weil ihm dann so elend zumute wurde. Wenn er sich die Hand vors Gesicht legte, wusste ich schon immer, dass ich besser aufhöre damit. Armer Vater, er muss sich schrecklich allein fühlen ohne mich. Aber verstehen Sie, er hat jetzt nur die Haushälterin und er meint, Haushälterinnen eignen sich nicht dafür, kleinejungen aufzuziehen, vor allem, wo er aus geschäftlichen Gründen sooft von zu Hause weg ist. Großmütter eignen sich besser, sie kommen gleich nach den Müttern. Eines Tages, wenn ich groß bin, gehe ich zurück zu meinem Vater und wir werden uns nie wieder voneinander trennen.«

Paul hatte ihr so viel von seiner Mutter und seinem Vater erzählt, dass es Anne vorkam, als würde sie sie kennen. Seine Mutter musste ihm im Temperament und im Charakter sehr ähnlich gewesen sein. Und Stephen Irving stellte sie sich ziemlich zurückhaltend, tiefgründig und empfindsam vor, was er vor allen ängstlich verbarg.

»Mit meinem Vater wird man nicht so leicht warm«, hatte Paul einmal gesagt. »Ich habe ihn erst richtig kennen gelernt, nachdem meine Mutter gestorben war. Aber wenn man ihn erst einmal richtig kennt, ist er großartig. Ihn mag ich am liebsten von allen auf der Welt, dann Großmutter Irving und dann Sie. Ich würde Sie gleich nach meinem Vater am liebsten mögen, wenn es nicht meine Pflicht wäre, erst Großmutter zu mögen, weil sie so viel für mich tut. Sie verstehen schon. Allerdings wünschte ich, sie würde mir die Kerze dalassen, bis ich eingeschlafen bin. Sie nimmt sie immer gleich, wenn sie mich zugedeckt hat, mit hinaus und sagt, ich solle nicht so ein Angsthase sein. Ich habe keine Angst, aber trotzdem hätte ich gern eine Kerze. Meine Mutter hat sich immer zur mir ans Bett gesetzt und meine Hand gehalten, bis ich eingeschlafen war. Bestimmt hat sie mich verwöhnt. Mütter tun das manchmal, wissen Sie.«

Nein, das wusste Anne nicht, obwohl sie es sich vorstellen konnte. Sie dachte traurig an ihre »Mutter«, die Mutter, die sich Anne als eine »vollkommene Schönheit« vorgestellt hatte und die vor so langer Zeit gestorben und neben ihrem noch so jungen Ehemann in dem Grab weit weg, das niemand besuchte, begraben worden war. Anne hatte an ihre Mutter keine Erinnerung und sie beneidete Paul fast darum. »Nächste Woche habe ich Geburtstag«, sagte Paul, als sie den weiten roten Hügel hinaufgingen, der von der Junisonne erwärmt wurde. »Mein Vater hat mir geschrieben, dass er mir etwas schicken würde, über das ich mich wie verrückt freuen würde. Es muss schon angekommen sein, weil Großmutter die Schublade im Bücherschrank abgeschlossen hat und das hat sie noch nie getan. Als ich sie danach fragte, tat sie nur geheimnisvoll und sagte, kleine Jungen sollten nicht so neugierig sein. Ein Geburtstag ist aufregend, nicht wahr? Ich werde elf Jahre alt. Das hätten Sie nicht gedacht, nicht wahr? Großmutter findet, ich wäre für mein Alter sehr klein. Es käme nur daher, weil ich nicht genug Porridge äße. Ich tue mein Bestes, aber Großmutter lädt den Teller immer randvoll - geizig ist Großmutter nicht, das kann ich Ihnen sagen. Seit Sie und ich uns damals auf dem Nachhauseweg von der Sonntagsschule über das Beten unterhalten haben - wo Sie sagten, man müsste all seine Sorgen ins Gebet einschließen -, seither hab ich jeden Abend gebetet, dass Gott mir gnädig sein und mir die Kraft geben möge, dass ich morgens meine Porridge bis auf den letzten Krümel aufessen kann. Aber bis jetzt habe ich es noch nicht geschafft. Ob das nun daran liegt, dass Gott mir nicht gnädig ist oder weil es einfach zu viel Porridge ist, das kann ich wirklich nicht sagen. Großmutter behauptet, mein Vater wäre mit Porridge groß gezogen worden und in seinem Fall hat es ja auch prima geklappt. Sie sollten mal sehen, was der für Schultern hat! Aber irgendwann«, sagte Paul mit einem Seufzer und nachdenklicher Miene, »bringt mich dieses Porridge noch um.«

Da Paul sie nicht ansah, lächelte Anne in sich hinein. Ganz Avonlea wusste, dass die alte Mrs Irving ihren Enkelsohn nach dem altbewährten Methoden der Ernährung und Erziehung aufzog. »Hoffentlich nicht, mein Lieber«, sagte sie fröhlich. »Wie geht es deinen Felsen-Menschen? Benimmt sich der älteste Zwilling noch anständig?«

»Das muss er«, sagte Paul bestimmt. »Er weiß, dass ich mich mit ihm nicht abgebe, wenn er sich nicht ordentlich benimmt. Er ist ein böser Bursche, finde ich.«

»Hat Nora schon die Sache mit der Goldenen Frau herausgefunden?«

»Nein, aber ich glaube, sie hat Verdacht geschöpft. Ich bin mir fast sicher, dass sie mich das letzte Mal, als ich zur Höhle ging, beobachtet hat. Mir macht es nichts aus, wenn sie dahinterkommt - ich möchte es nur ihretwegen nicht, um sie nicht zu kränken. Aber wenn sie es unbedingt herausfinden will, ist ihr auch nicht zu helfen.«

»Wenn ich abends einmal mit dir ans Ufer gehen würde, meinst du, ich könnte die Felsen-Menschen auch sehen?«

Paul schüttelte ernst den Kopf.

»Nein, ich glaube nicht, dass Sie meine Felsen-Menschen sehen könnten. Ich als Einziger kann sie sehen. Aber Sie könnten Ihre eigenen Felsen-Menschen finden. Sie gehören zu der Sorte Mensch, die das kann. Wir gehören beide zu der Sorte. Sie verstehen schon«, fügte er hinzu und drückte ihr freundschaftlich die Hand. »Ist es nicht großartig, zu der Sorte Mensch zu gehören?«

»Großartig«, stimmte Anne zu und grüne strahlende Augen sahen in blaue strahlende Augen. Anne und Paul wussten beide:

»So schön auch das Land, nur Phantasie öffnet den Blick hinein.«

Und beide kannten den Weg in dieses glückliche Land. Dort blühten in den Tälern und an den Flüssen immerwährende Glücksrosen; keine Wolke verdunkelte den strahlenden Himmel; nie ertönte ein Misston von den süß klingenden Glocken; und verwandte Seelen gab es in Hülle und Fülle. Das Wissen, wo dieses Land »östlich der Sonne, westlich des Mondes« liegt, ist unschätzbar und gibt es auf keinem Markt zu kaufen. Es muss ein Geburtstagsgeschenk der guten Feen sein und die Jahre können es nicht verunstalten und es einem nicht nehmen. Es ist mehr wert, es zu besitzen, mag man auch in einer Dachkammer wohnen, als in einem Palast zu wohnen und es nicht zu besitzen.

Der Friedhof von Avonlea war wie eh und je mit Gras bewachsen und lag abgeschieden da. Gewiss, die Verschönerer kümmerten sich darum und Priscilla hatte vor dem letzten Treffen des Vereins einen Aufsatz über Friedhöfe gelesen, ln nächster Zukunft wollte der Verein den mit Flechten bewachsenen wackligen alten Bretterzaun durch einen ordentlichen Drahtzaun ersetzen, das Grün mähen und die umgekippten Grabsteine aufrichten lassen.

Anne legte die mitgebrachten Blumen auf Matthews Grab und ging dann hinüber zu der kleinen von Pappeln beschatteten Ecke, wo Hester Gray begraben lag. Seit jenem Frühjahr-Picknick hatte sie jedes Mal, wenn sie Matthews Grab besuchte, auch Blumen auf Hesters Grab gelegt. Am Abend zuvor war sie zu dem kleinen abgeschiedenen Garten im Wald gewandert und hatte welche von Hesters eigenen weißen Rosen gepflückt.

»Ich dachte, sie gefallen Ihnen besser als irgendwelche anderen, meine Liebe«, sagte sie leise.

Anne saß noch immer dort, als ein Schatten auf das Gras fiel. Sie sah auf und erblickte Mrs Allan. Zusammen gingen sie nach Hause.

Mrs Allans Gesicht war nicht mehr das der jungen Braut, die der Pfarrer vor fünf Jahren mit nach Avonlea gebracht hatte. Es hatte an rosiger Frische und Jugendlichkeit verloren, um Augen und Mund zeigten sich feine Linien. Ein kleines Grab auf eben diesem Friedhof war schuld daran, ein paar neue Fältchen waren hinzugekommen, als ihr Sohn krank geworden war. Inzwischen allerdings hatte er alles heil überstanden. Aber Mrs Allans Grübchen zeigten sich so unvermutet und waren so niedlich wie eh und je, wie ihre Augen hell und strahlend und aufrichtig waren.

»Du freust dich sicher auf die Ferien, Anne?«, sagte sie, als sie den Friedhof verließen.

Anne nickte.

»Ja, das Wort zergeht mir auf der Zunge wie ein Leckerbissen. Es wird bestimmt ein herrlicher Sommer. Denn im Juli kommt Mrs Morgan auf die Insel und Priscilla und sie wollen uns besuchen. Beim bloßen Gedanken daran überläuft mich wie früher eine Gänsehaut.«

»Ich hoffe, du verlebst eine schöne Zeit, Anne. Du hast im vergangenen Jahr hart gearbeitet und einiges erreicht.«

»Ach, ich weiß nicht. Ich habe so viele Ziele nicht erreicht. Ich habe längst nicht das geschafft, was ich mir vorgenommen habe, als ich letzten Herbst in der Schule anfing. Ich bin meinen Idealen nicht gerecht geworden.«

»Das gelingt keinem«, sagte Mrs Allan mit einem Seufzer. »Du weißt auch, Anne, was Lowell dazu sagt: >Nicht das Scheitern, sondern zu niedrig gesteckte Ziele sind ein Vergehen.< Wir brauchen Ideale und müssen sie zu erreichen versuchen, auch wenn uns das nie ganz gelingt. Ohne Ideale wäre das Leben traurig. Ideale machen es großartig und grandios. Halte an deinen Idealen fest, Anne.«

»Ich werde es versuchen. Aber ich habe fast alle meine Theorien sausen lassen«, sagte Anne und lachte ein wenig. »Ich hatte die schönsten Theorien, die man sich nur vorstellen kann, als ich in der Schule anfing, aber eine nach der anderen erwies sich, wenn es darauf ankam, als ein Fehlschlag.«

»Auch die von der Prügelstrafe«, neckte Mrs Allan sie.

Aber Anne wurde rot.

»Ich werde mir nie verzeihen, dass ich Anthony geschlagen habe.«

»Unsinn, Liebes, er hatte es verdient. Es hat ihm gut getan. Seither hast du keinen Ärger mehr mit ihm gehabt und er findet dich einmalig. Mit Freundlichkeit hast du seine Zuneigung gewonnen und ihm seine dumme Idee >ein Mädchen taugt nichts< ein für alle Mal ausgetrieben.«

»Vielleicht hatte er es verdient, aber das ist nicht der Punkt. Hätte ich ruhig und überlegt entschieden, ihm eine Tracht Prügel zu geben, weil ich es für eine angemessene Strafe hielt, dann würde ich jetzt anders darüber denken. Aber die Wahrheit ist, Mrs Allan, dass ich in Wut geraten bin und ihn deshalb verprügelt habe. Ich habe nicht darüber nachgedacht, ob es richtig oder falsch ist... auch wenn er es nicht verdient gehabt hätte, hätte ich ihn verprügelt. Das ist das Niederschmetternde.«

»Wir machen alle Fehler, meine Liebe, vergiss es also. Wir sollten unsere Fehler bedauern und aus ihnen lernen, aber sie nicht weiter mit uns herumschleppen. Da fahrt Gilbert Blythe mit dem Fahrrad ... wohl auch auf dem Nachhauseweg in die Ferien. Wie kommt ihr mit dem Lernen voran?«

»Ganz gut. Heute Abend wollen wir den Vergil abschließen. Es sind nur noch zwanzig Zeilen. Dann fangen wir erst im September wieder an zu lernen.«

»Meinst du, du gehst irgendwann noch einmal aufs College?«

»Ich weiß nicht.« Anne blickte verträumt in die Ferne zum opalfarbenen Horizont. »Mit Marillas Augen wird es nicht besser; wir können schon froh sein, dass es nicht noch schlechter wird. Und dann sind da die Zwillinge - irgendwie glaube ich nicht so recht, dass ihr Onkel sie zu sich holen wird. Vielleicht liegt das College ja hinter der Biegung in der Straße, aber bis jetzt bin ich nicht zur Biegung gelangt und denke nicht weiter darüber nach, damit ich nicht unzufrieden werde.«

»Ich fände es gut, wenn du aufs College gingest, Anne. Aber wenn nichts daraus wird, sei nicht traurig. Irgendwie leben wir unser Leben, wo auch immer. Das College ermöglicht uns nur ein bequemeres Leben. Je nachdem, was wir daraus machen, ist es ein erfülltes oder ein unerfülltes Leben. Man kann hier, überall, ein reiches und erfülltes Leben leben, wenn man nur lernt, sein Herz voll und ganz dem Reichtum und der Fülle zu öffnen.«

»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Anne nachdenklich. »Da ist so viel, wofür ich dankbar bin, so viel - meine Arbeit, Paul Irving, die lieben Zwillinge und alle meine Freunde. Wissen Sie, ich bin so dankbar für Freundschaft. Sie verschönt das Leben.«

»Wahre Freundschaft ist in der Tat sehr hilfreich«, sagte Mrs Allan. »Man sollte sie in Ehren halten und niemals durch Unaufrichtigkeit oder Unehrlichkeit trüben. Ich fürchte, Freundschaft wird oft mit einer Art Vertrautheit verwechselt, die nichts mit wirklicher Freundschaft zu tun hat.«

»Ja, wie bei Gertie Pye und Julia Bell. Sie tun sehr vertraut und unternehmen alles zusammen. Aber Gertie zieht hinter Julias Rücken dauernd über sie her und alle denken, sie wäre eifersüchtig auf sie, weil sie sich immer so freut, wenn jemand an Julia etwas auszusetzen hat. Eine Schande, so was als Freundschaft zu bezeichnen. Man sollte in seinen Freunden nur das Beste sehen und ihnen sein Bestes geben, meinen Sie nicht? Dann ist Freundschaft das Schönste auf der Welt.«

»Freundschaft ist etwas Schönes«, lächelte Mrs Allan, »aber eines Tages . ..«

Dann brach sie abrupt ab. In dem zarten hellen Gesicht an ihrer Seite mit den aufrichtigen Augen und ausdrucksvollen Zügen lag noch viel mehr von einem Kind als von einer Frau. Anne war voller Träume von Freundschaft und hehren idealen. Mrs Allan wollte ihr nicht ihre jugendliche Unverdorbenheit nehmen. Also brach sie den Satz ab, um ihn erst in einigen Jahren zu vervollständigen.

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