28 - Der Prinz kehrt zurück in das Zauberschloss

Der letzte Schultag brach an. Die »Halbjahres-Prüfung« wurde abgehalten, bei der Annes Schüler glänzend abschnitten. Bei Schulabschluss überreichte man ihr eine Dankschrift. Alle anwesenden Mädchen und Damen weinten. Einige der Jungen hatten später auch geweint, obwohl sie es abstritten.

Mrs Harmon Andrews, Mrs Peter Sloane und Mrs William Bell gingen zusammen nach Hause und beredeten das Ganze noch einmal.

»Was für ein Jammer, dass Anne fortgeht, wo die Kinder so an ihr hängen«, seufzte Mrs Sloane, die bei allem und jedem seufzte und selbst ihre Witze mit einem Seufzer beendete. »Sicher«, fügte sie schnell hinzu, »im nächsten Schuljahr bekommen wir auch eine gute Lehrerin.«

»Jane wird gewissenhaft ihre Arbeit tun«, sagte Mrs Andrews ziemlich scharf. »Gewiss wird sie den Kindern nicht so oft Märchen erzählen oder so ausgiebig mit ihnen durch die Wälder streifen. Immerhin steht sie auf der Schulehrenliste und die Eltern in Newbridge sind ganz außer sich, dass sie fortgeht.«

»Ich freue mich für Anne, dass sie aufs College geht«, sagte Mrs Bell. »Das war immer ihr Wunsch, für sie ist das eine feine Sache.«

»Na, ich weiß nicht.« Mrs Andrews war an dem Tag nicht gewillt, einer von beiden voll und ganz Recht zu geben. »Mir will nicht in den Kopf, wozu Anne noch weiter studieren will. Wahrscheinlich heiratet sie sowieso Gilbert Blythe, gesetzt den Fall, er liebt sie noch, bis er mit dem College fertig ist. Wozu braucht sie dann Latein und Griechisch? Wenn man auf dem College beigebracht bekäme, wie man mit einem Mann umgeht, dann hätte es vielleicht ja noch Sinn.«

Mrs Harmon Andrews, so jedenfalls sagte man in Avonlea, hatte nie gelernt, mit ihrem Mann umzugehen. Folglich waren die Andrews nicht gerade ein Musterbeispiel häuslichen Glücks.

»Mr Allan will man an die Kirche nach Charlottetown berufen«, sagte Mrs Bell. »Das würde heißen, dass wir ihn bald verlieren.«

»Sie ziehen erst im September weg«, sagte Mrs Sloane. »Es ist ein großer Verlust für die Gemeinde - obwohl Mrs Allan als Frau eines Pfarrers nun wirklich immer eine Spur zu auffällig angezogen war. Aber kein Mensch ist vollkommen. Ist euch aufgefallen, wie schmuck und adrett Mr Harrison heute aussah? Er ist wie umgewandelt. Er geht jeden Sonntag in die Kirche und hat für das Pfarrersgehalt gespendet.«

»Ist dieser Paul Irving nicht groß geworden?«, sagte Mrs Andrews. »Als er hierherkam, war er sehr klein für sein Alter. Ich hätte ihn heute kaum wieder erkannt. Er sieht seinem Vater immer ähnlicher.«

»Er ist ein hübsches Kerlchen«, sagte Mrs Bell.

»Ja, das schon«, Mrs Andrews senkte die Stimme, »aber er erzählt merkwürdige Sachen. Gracie kam irgendwann letzte Woche mit dem unmöglichsten wirren Zeug nach Hause. Paul hatte ihr irgendwas erzählt von Menschen, die unten am Meer leben - Geschichten, an denen nicht ein wahres Wort ist, versteht ihr? Ich sagte zu Gracie, sie solle es nicht glauben. Das wäre auch gar nicht Pauls Absicht, gab sie mir zur Antwort. Aber wozu erzählt er es ihr dann?«

»Anne hält Paul für ein Genie«, sagte Mrs Sloane.

»Mag sein. Bei diesen Amerikanern weiß man ja nie«, sagte Mrs Andrews. Dass Mrs Andrews das Wort »Genie« überhaupt geläufig war, lag daran, dass man jeden, der merkwürdige Ideen hatte, gern als »verrücktes Genie« bezeichnete. Wahrscheinlich dachte sie, genau wie Mary Joe, dass damit ein Mensch gemeint war, bei dem im Kopf nicht alles stimmte.

Anne saß genau wie an ihrem ersten Schultag vor zwei Jahren allein im Klassenzimmer am Tisch, den Kopf auf die Hand gestützt, und blickte sehnsüchtig aus dem Fenster zum See der Glitzernden Wasser. Die Trennung von ihren Schülern machte ihr so zu schaffen, dass einen Augenblick lang das College all seinen Reiz verlor. Noch immer spürte sie Annetta Beils Umarmung und hörte sie jammern: »Nie werde ich eine Lehrerin so gern haben wie Sie, Miss Shirley, nie, niemals.«

Zwei Jahre lang hatte sie ernst und gewissenhaft ihre Arbeit getan, hatte Fehler gemacht und daraus gelernt. Sie war belohnt worden. Sie hatte ihren Schülern einiges beigebracht und sie das Wichtigste überhaupt gelehrt — Güte, Selbstdisziplin, klaren Verstand und Aufrichtigkeit. Vielleicht hatte sie ihre Schüler nicht zu großartigen Leistungen »anspornen« können. Aber sie hatte ihnen mehr durch ihre eigene Ausstrahlung als durch gründliches Pauken beigebracht, ein anständiges Leben zu leben, aufrichtig zu sein, sich ordentlich aufzuführen und sich von allem fern zu halten, das unaufrichtig, niederträchtig oder gemein war. Vielleicht war ihnen das gar nicht bewusst. Doch sie würden sich daran erinnern und sich noch daran halten, wenn ihnen das Kapitel Afghanistan und die Daten der Rosenkriege längst entfallen waren.

»Wieder ist ein Kapitel meines Lebens abgeschlossen«, sagte Anne laut, als sie das Pult abschloss. Sie war traurig darüber, aber die romantische Vorstellung vom »abgeschlossenen Kapitel« tröstete sie ein wenig.

Anne verbrachte die ersten beiden Ferienwochen in Echo Lodge. Sie verlebten eine herrliche Zeit.

Sie nahm Miss Lavendar mit auf einen Einkaufsbummel in die Stadt und überredete sie, sich ein neues Organdy-Kleid zu nähen. Anschließend kam das aufregende Zuschneiden und dann heftete Charlotta die Vierte es zuerst lose zusammen und steckte es dann ab. Miss Lavendar hatte geklagt, das sie an rein gar nichts mehr Spaß hätte. Aber als sie in dem hübschen Kleid dastand, war wieder das alte Funkeln in ihren Augen.

»Was bin ich doch für eine alberne dumme Gans«, seufzte sie. »Ich schäme mich ja so, dass mich ein neues Kleid - auch wenn es ein traumhaft schönes Organdy-Kleid ist - so aufheitert. Ein reines Gewissen und eine extra Spende für die Mission bringen das nicht zuwege.«

Nach der ersten Woche ging Anne für einen Tag nach Green Gables, um Strümpfe zu stopfen und Davy, der überquoll vor Fragen, Rede und Antwort zu stehen. Am Abend besuchte sie Paul unten an der Uferstraße. Als sie am niedrigen Irving’schen Wohnzimmer vorbeiging, sah sie, wie Paul bei jemand auf dem Schoß saß. Im nächsten Augenblick kam er schon den Flur entlanggesaust.

»Miss Shirley«, rief er aufgeregt, »stellen Sie sich vor, was passiert ist. Etwas ganz Tolles. Vater ist da . . . stellen Sie sich das vor! Vater ist da! Kommen Sie herein. Vater, das ist meine liebe Lehrerin. Du weißt schon, Vater.«

Stephen Irving ging lächelnd auf Anne zu. Er war ein großer ansehnlicher Mann mittleren Alters mit eisengrauen Haaren, tief liegenden dunklen Augen und einem markanten, traurigen Gesicht. »Er sieht genau richtig aus als Held einer Liebesgeschichte«, dachte Anne und bekam tief befriedigt eine Gänsehaut. Hatte jemand, den man sich als Helden auserkoren hatte, eine Glatze, einen Buckel oder nicht die Spur Männlichkeit, so war das enttäuschend. Anne hätte es entsetzlich gefunden, wenn Miss Lavendars Angebeteter anders ausgesehen hätte.

»Das ist also die >liebe Lehrerin<, von der ich schon so viel gehört habe«, sagte Mr Irving und schüttelte ihr herzlich die Hand. »Pauls Briefe handeln fast nur von Ihnen, Miss Shirley, sodass ich Sie schon ganz gut kenne. Ich möchte Ihnen Pauls wegen danken. Jemand wie Sie hat er gebraucht. Meine Mutter ist eine liebe, gute Frau. Aber energisch und sachlich, wie sie nun mal ist, packt sie den Jungen manchmal nicht richtig an. Was ihr fehlt, haben Sie ihm gegeben. So war Paul geradezu ideal hier aufgehoben, das Beste, was einem Kind, das keine Mutter mehr hat, passieren kann.«

Lob hört jeder gern. Bei Mr Irvings Lobgesang stand Anne regelrecht wie »eine Blume in leuchtend roter Blüte«. Der viel beschäftigte, erschöpfte Mann von Welt sah sie an. Noch nie hatte er ein aufrichtigeres und hübscheres Mädchen als diese »Neuenglische« Lehrerin mit den roten Haaren und den schönen Augen gesehen.

Paul saß wonnestrahlend zwischen ihnen.

»Ich hätte mir nie träumen lassen, dass Vater kommt«, sagte er und strahlte sie an. »Großmutter wusste auch nichts davon. Es war eine Riesenüberraschung. Normalerweise«, Paul schüttelte ernst seinen braunen Lockenkopf, »kann ich Überraschungen nicht ausstehen. Dann ist die ganze Vorfreude hin. Aber in diesem Fall ist das schon in Ordnung. Vater kam gestern Abend an, als ich schon schlief. Nachdem Großmutter und Mary Joe die erste Überraschung verwunden hatten, kamen Großmutter und er nach oben, nur um mich anzuschauen, nicht um mich aufzuwecken. Aber ich war gleich hellwach und sah meinen Vater. Ich kann Ihnen sagen, ich habe mich regelrecht auf ihn gestürzt.«

»Mit einer Riesenumarmung«, sagte Mr Irving und legte lächelnd den Arm um Paul. »Ich habe meinen jungen kaum wieder erkannt, so groß und kräftig ist er geworden und so braun gebrannt.«

»Schwer zu sagen, wer sich mehr gefreut hat, Großmutter oder ich«, fuhr Paul fort. »Großmutter hat den ganzen Tag in der Küche gewerkelt und ihm alle seine Lieblingsspeisen gekocht. Das wollte sie nicht Maryjoe überlassen, hat sie gemeint. So zeigt sie eben, dass sie sich freut. Ich sitze am liebsten einfach nur da und rede mit Vater. Aber ich muss Sie kurz allein lassen. Ich muss für Maryjoe die Kühe in den Stall treiben. Das gehört zu meinen täglichen Pflichten.«

Als Paul hinausgesaust war, um seine »tägliche Pflicht« zu erledigen, unterhielten sich Anne und Mr Irving über dies und jenes. Aber Anne spürte, dass er insgeheim mit den Gedanken nicht bei der Sache war. Schließlich konnte er es nicht mehr für sich behalten.

»Paul hat in seinem letzten Brief geschrieben, Sie wollten zusammen eine alte ... Freundin von mir besuchen ... Miss Lewis im Steinhaus in Grafton. Kennen Sie sie gut?«

»Ja, sehr gut sogar, sie ist eine meiner besten Freundinnen«, sagte Anne nüchtern. Ihr war nicht anzumerken, dass sie bei Mr Irvings Frage von Kopf bis Fuß ein Schauer überlief. Anne »spürte instinktiv«, dass da die Liebe um die Ecke lugte.

Mr Irving stand auf, ging ans Fenster und schaute auf das weite, golden schimmernde, wogende Meer, über das ein scharfer Wind fegte. Einige Augenblicke lang herrschte Stille in dem kleinen dunklen Zimmer.

Dann drehte er sich um und sah mit einem halb neugierigen, halb liebevollen Lächeln Anne an.

»Was wissen Sie darüber?«, sagte er.

»Alles«, erwiderte Anne sofort. »Verstehen Sie«, erklärte sie hastig, »Miss Lavendar und ich kennen uns sehr gut. Sie würde es nicht jedem anvertrauen. Wir sind verwandte Seelen.«

»Ja, das glaube ich auch. Nun, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Ich würde Miss Lavendar gerne besuchen, wenn sie nichts dagegen hat. Würden Sie sie fragen?«

Und ob sie sie fragen würde! Ja, das war wahre Liebe, wie in all den Gedichten, Geschichten und Träumen. Vielleicht kam sie ein wenig spät, wie eine Rose, die statt im Juni im Oktober blüht. Aber dennoch eine Rose mit all ihrem süßen Duft und einem golden schimmernden Kelch. Nie hatte Anne lieber einen Botengang gemacht. Am nächsten Morgen ging sie durch den Buchenwald nach Grafton. Miss Lavendar war im Garten. Anne war schrecklich aufgeregt. Ihre Hände waren kalt, ihre Stimme zitterte.

»Miss Lavendar, ich muss Ihnen etwas ausrichten - etwas sehr Wichtiges. Können Sie sich denken, worum es geht?«

Anne hatte nicht geglaubt, dass Miss Lavendar sich das denken konnte, aber die wurde kreidebleich und sagte mit unbewegter, leiser Stimme, ohne jede Munterkeit wie sonst: »Stephen Irving ist da?«

»Woher wissen Sie das? Wer hat es Ihnen erzählt?«, rief Anne enttäuscht vor Ärger, dass ihr jemand zuvorgekommen war.

»Niemand. Ich habe es dir an der Stimme angemerkt.«

»Er möchte Sie besuchen«, sagte Anne. »Darf er kommen?«

»Ja, sicher«, sagte Miss Lavendar aufgeregt. »Warum nicht? Er ist schließlich nur ein alter Freund.«

Darüber war Anne anderer Ansicht. Sie stürzte ins Haus, um am Tisch die Nachricht aufzuschreiben.

»Wie im Märchen«, dachte sie fröhlich. »Es wird, es muss natürlich gut enden und Paul hätte wieder eine Mutter ganz nach seinem Wunsch und alle sind glücklich. Aber Mr Irving wird Miss Lavendar mitnehmen. Was wird dann mit dem kleinen Steinhaus? Also hat das Ganze wie immer auch eine Kehrseite.«

Die wichtige Nachricht war geschrieben. Anne ging höchstpersönlich zum Postamt in Grafton, wo sie den Postboten abfing und ihn bat, den Brief auf dem Postamt in Avonlea abzugeben.

»Es ist etwas ganz Wichtiges«, versicherte Anne ihm besorgt. Der Postbote war ein ziemlich mürrischer alter Mann, der nichts von seiner Rolle als Amors Bote ahnte. Anne war sich keineswegs sicher, dass man sich auf sein Gedächtnis verlassen konnte. Aber er sagte, er würde sich alle Mühe geben daran zu denken, und damit musste sich Anne zufrieden geben.

Charlotta die Vierte spürte, dass ein Geheimnis in der Luft lag - ein Geheimnis, von dem sie ausgeschlossen war. Miss Lavendar wanderte aufgewühlt durch den Garten. Anne war ebenfalls von einer teuflischen Unruhe besessen und ging auf und ab und hin und her. Charlotta die Vierte hielt es eine Weile aus, dann riss ihr der Geduldsfaden. Als Anne das dritte Mal ziellos durch die Küche wanderte, ging Charlotta die Vierte auf sie zu.

»Bitte, Miss Shirley«, sagte Charlotta die Vierte und sah sie entrüstet mit ihren dunklen Augen an, »Sie und Miss Lavendar verheimlichen mir etwas, das ist nicht zu übersehen. Entschuldigen Sie, wenn ich das so offen sage - aber ich finde es gemein, es mir nicht zu erzählen, Miss Shirley. Wo wir die ganze Zeit so dicke Freundinnen waren.«

»Oh, Charlotta, ich hätte es dir längst erzählt, wenn es mein Geheimnis wäre - aber es ist Miss Lavendars Geheimnis, verstehst du. Jedenfalls, so viel kann ich verraten - aber wenn nichts aus der Sache wird, darfst du nie auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlauten lassen. Nun, der Zauberprinz ist gekommen. Er kam einmal vor langer Zeit, doch in einem unglücklichen Augenblick ging er fort, wanderte weit weg und vergaß den Zauberpfad zum Zauberschloss, in dem die Prinzessin wohnte und sich die Augen nach ihm ausweinte. Schließlich erinnerte er sich wieder daran. Die Prinzessin jedoch wartet noch immer - weil niemand anderer als ihr geliebter Prinz sie herausholen kann.«

»Oh, Miss Shirley, was heißt das im Klartext?«, fragte Charlotta verwirrt.

Anne lachte.

»Im Klartext heißt das: Ein alter Freund von Miss Lavendar kommt sie heute besuchen.«

»Sie meinen, ein früherer Verehrer?«, fragte Charlotta nüchtern.

»So kann man es nennen - im Klartext«, antwortete Anne ernst. »Es dreht sich um Pauls Vater, Stephen Irving. Es steht in den Sternen, was daraus wird, aber hoffen wir das Beste, Charlotta.«

»Ich hoffe, er heiratet Miss Lavendar«, lautete Charlottas eindeutige Antwort. »Bei manchen ist von vornherein klar, dass sie alte Jungfern werden. Ich fürchte, zu denen gehöre ich auch, Miss Shirley, weil ich keine Geduld mit den Menschen habe. Miss Lavendar war da immer ganz anders. Ich habe mir solche Sorgen gemacht, was um alles auf der Welt sie tun würde, wenn ich alt genug bin und nach Boston muss. Ich bin diejüngste in unserer Familie und nicht auszudenken, wenn sie eine Fremde nähme, die sie vielleicht wegen ihrer Einbildungen auslachen, die Sachen nicht an ihren Platz stellen würde und nicht Charlotta die Fünfte genannt werden wollte. Vielleicht bekäme sie auch eine, die nicht so ein Pechvogel ist wie ich und dauernd Geschirr zerdeppert. Aber nie und nimmer fände sie eine, die sie so gern haben würde.«

Wie üblich tranken sie ihren Tee, aber niemand hatte groß Appetit. Nach dem Tee ging Miss Lavendar in ihr Zimmer und zog ihr neues sagenhaftes Organdy-Kleid an. Anne frisierte sie. Beide waren furchtbar aufgeregt. Aber Miss Lavendar tat so, als wäre sie die Ruhe selbst und als ginge sie das alles nichts an.

»Morgen muss ich aber endlich das Loch in der Gardine nähen«, sagte sie und besah es sich, als wäre das im Augenblick das Allerwichtigste. »Sie hat nicht besonders lange gehalten, wenn man bedenkt, wie teuer sie war. Jesses, Charlotta hat schon wieder vergessen das Treppengeländer abzustauben. Ich muss wirklich ein ernstes Wort mit ihr reden.«

Anne saß auf den Eingangsstufen, als Stephen Irving den Weg entlang und durch den Garten kam.

»Hier steht die Zeit still«, sagte er und sah sich erfreut um. »Alles ist noch so wie vor fünfundzwanzig Jahren. Da fühlt man sich wieder jung.«

»An einem verzauberten Ort bleibt immer die Zeit stehen«, sagte Anne ernst. »Nur wenn der Prinz kommt, ändert sich das.«

Mr Irving lächelte ein wenig traurig und sah in Annes junges, erwartungsvolles Gesicht.

»Manchmal kommt der Prinz zu spät«, sagte er. Er hatte Anne nicht gebeten, ihre Bemerkung im Klartext zu wiederholen. Wie alle verwandten Seelen »verstand« er.

»0 nein, nicht wenn der wahre Prinz zur wahren Prinzessin kommt«, sagte Anne und schüttelte entschieden ihren roten Haarschopf, als sie die Wohnzimmertür öffnete. Als er eingetreten war, zog sie die Tür fest hinter ihm zu, drehte sich um und sah sich Charlotta gegenüber, die im Flur stand, mit dem Kopf nickte, Zeichen gab und gewunden lächelte.

»Miss Shirley«, wisperte sie, »ich habe durchs Küchenfenster gelugt - er sieht blendend aus und passt auch vom Alter her genau zu Miss Lavendar. Miss Shirley, meinen Sie, es wäre schlimm, wenn ich an der Tür lausche?«

»Abscheulich, Charlotta«, sagte Anne bestimmt. »Gehen wir, damit du erst gar nicht in Versuchung kommst.«

»Tun kann ich nichts und diese Warterei ist fürchterlich«, seufzte Charlotta. »Angenommen, er macht ihr keinen Heiratsantrag, Miss Shirley? Bei Männern kann man da nie sicher sein. Meine älteste Schwester, Charlotta die Erste, hat mal gedacht, sie wäre mit einem verlobt. Aber er war da ganz anderer Ansicht. Seither traut sie keinem Mann mehr, sagt sie. Dann habe ich noch von einem Fall gehört, wo ein Mann ganz versessen auf ein Mädchen war. Zu guter Letzt stellte sich heraus, dass er die ganze Zeit die Schwester des Mädchens gemeint hatte. Wenn ein Mann nicht weiß, was er will, Miss Shirley, wie kann die arme Frau es dann wissen?«

»Wir gehen in die Küche und putzen die Silberlöffel«, sagte Anne. »Dabei muss man zum Glück nicht denken - denn ich kann heute einfach nicht denken. Und die Zeit vergeht schneller.«

Eine Stunde verging. Als Anne gerade den letzten geputzten Löffel hinlegte, hörten sie, wie die Vordertür zugemacht wurde. Sie sahen einander Trost suchend an.

»Oh, Miss Shirley«, rief Charlotta entsetzt, »wenn er jetzt schon wieder geht, dann wird nie und nimmer etwas daraus.«

Sie stürzten ans Fenster. Mr Irving war gar nicht im Gehen begriffen. Miss Lavendar und er schlenderten gemächlich den mittleren Pfad entlang zur Steinbank.

»Oh, Miss Shirley, er hat ihr den Arm um die Taille gelegt«, flüsterte Charlotta die Vierte entzückt. »Er muss ihr doch einen Antrag gemacht haben, sonst hätte sie das nie erlaubt.«

Anne legte Charlotta der Vierten den Arm um die Taille und tanzte mit ihr durch die Küche, bis beide außer Atem waren.

»Oh, Charlotta«, rief sie fröhlich, »ich bin keine Wahrsagerin und auch nicht die Tochter einer Wahrsagerin und doch prophezeie ich: Noch bevor die Ahornblätter sich rot färben, findet in diesem alten Steinhaus eine Hochzeit statt. Soll ich dir das im Klartext sagen, Charlotta?«

»Nein, das habe ich verstanden«, sagte Charlotta. »Eine Hochzeit ist Klartext. Aber, Miss Shirley, Sie weinen ja! Warum denn?«

»Weil alles so schön ist, so märchenhaft, so romantisch ... und traurig«, sagte Anne und blinzelte, dass die Tränen aus den Augen kullerten. »Es ist wundervoll, aber irgendwie auch ein bisschen traurig.«

»Sicher, eine Heirat ist immer ein Risiko«, räumte Charlotta die Vierte ein. »Aber letzten Endes, Miss Shirley, gibt es viel Schlimmeres.«

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