17 - Ein Unglück kommt selten allein

Anne wachte dreimal in der Nacht auf und ging jedes Mal ans Fenster, um sich zu vergewissern, dass Onkel Abes Vorhersage nicht eintraf. Endlich dämmerte klar und strahlend der Morgen. Der Himmel schimmerte silbrig glänzend, der herrliche Tag war angebrochen. Diana erschien kurz nach dem Frühstück mit einem Korb voll Blumen über dem einen Arm und ihrem Musselinkleid über dem anderen -sie würde es erst anziehen können, wenn alle Vorbereitungen für das Mittagessen erledigt waren. Solange trug sie ihr rosafarbenes Baumwollkleid und eine Batistschürze mit wundervollen Rüschen und Krausen; adrett, hübsch und rosig sah sie aus.

»Du siehst einfach süß aus«, sagte Anne bewundernd.

Diana seufzte.

»Aber ich musste schon wieder sämtliche Kleider weiter machen. Seit Juli habe ich vier Pfund zugenommen. Wo soll das noch enden, Anne? Mrs Morgans Heldinnen sind allesamt groß und schlank.«

»Vergessen wir die Sorgen und denken wir lieber an unser Glück«, sagte Anne fröhlich. »Mrs Allan sagte, immer wenn einen etwas quält, soll man auch an etwas Nettes denken, was man dem entgegensetzen kann. Du bist vielleicht ein wenig zu dick, aber dafür hast du niedliche Grübchen. Ich habe zwar Sommersprossen auf der Nase, aber dafür habe ich eine sehr schöne Nase. Meinst du, der Zitronensaft hat etwas geholfen?«

»Ja, ich denke schon«, sagte Diana abwägend. Aufgemuntert ging Anne voran in den Garten, der voll luftiger Schatten und flimmernden goldenen Lichts war.

»Als Erstes schmücken wir das Wohnzimmer. Wir haben viel Zeit.

Priscilla meinte, sie würde um zwölf, spätestens um halb eins hier sein, also essen wir um eins zu Mittag.«

Mag sein, dass es in dem Augenblick irgendwo in Kanada oder den Staaten zwei glücklichere und aufgeregtere Mädchen gab, aber ich bezweifle es. Mit jedem Schnippeln der Schere, als Rosen, Pfingstrosen und Glockenblumen abgeschnitten wurden, schien es zu zwitschern: »Heute kommt Mrs Morgan.« Anne fragte sich, wie Mr Harrison es fertig brachte und in aller Seelenruhe auf dem Feld jenseits des Wegs Weiterarbeiten konnte, so als wäre nichts.

Das Wohnzimmer von Green Gables war ein ziemlich schlichter dunkler Raum mit stabilen, mit Rosshaar gepolsterten Sitzmöbeln, steifen Spitzengardinen und weißen Sofaschonern, die stets tadellos ausgelegt waren, außer wenn irgendein Pechvogel mit dem Knopf daran hängen blieb. Anne hatte das Zimmer nie schöner gestalten dürfen, denn Marilla duldete keine Veränderungen. Aber was kann man mit Blumen nicht alles bewirken, wenn man sie nur richtig zur Geltung bringt. Als Anne und Diana mit dem Zimmer fertig waren, war es nicht wieder zu erkennen: Auf dem blank gewischten Tisch stand eine große Vase mit Schneebällen. Der glänzende schwarze Kaminsims war überhäuft mit Rosen und Farnblätter. Auf jedem Brett des Bücherschranks stand ein Sträußchen Glockenblumen. Die dunklen Ecken an beiden Seiten des Kamins wurden aufgehellt von Krügen voll leuchtend roter Pfingstrosen, der Kamin selbst war entflammt mit gelbem Mohn. All die Blütenpracht, die Farben und das Sonnenlicht, das durch die vielen Blätter der Geißblattreben vor den Fenstern fiel und tanzende Schatten auf Wände und Fußboden warf, verwandelten den sonst düsteren Raum in die »Laube« aus Annes Vorstellung. Er rang sogar Marilla Bewunderung ab, die hereinkam, um ihn sich kritisch zu betrachten, und dann voll des Lobes war.

»Jetzt müssen wir den Tisch decken«, sagte Anne wie eine Priesterin, die im Begriff ist, eine heilige Handlung zu Ehren einer Gottheit vorzunehmen. »Wir stellen eine große Vase mit wilden Rosen in die Mitte, eine einzelne Rose vor jeden Teller, und einen extra Strauß mit noch nicht aufgeblühten Rosen für Mrs Morgan — als Anspielung auf den >Rosenknospen-Garten<, verstehst du.«

Sie deckten den Tisch im Wohnzimmer mit Marillas feinstem Tischtuch und bestem Porzellan, Gläsern und Silberbesteck. Jedes Teil, das auf den Tisch kam, war poliert und so blank geputzt, dass es nur so glitzerte und glänzte.

Dann gingen die Mädchen in die Küche. Sie war erfüllt vom appetitanregenden Duft, der aus dem Ofen strömte, in dem bereits die Hühner herrlich vor sich hin brutzelten. Anne setzte die Kartoffeln auf, Diana die Erbsen und Bohnen. Dann bereitete Anne, deren Wangen bereits glühten, die Maissoße zu den Hühnern, hackte die Zwiebeln für die Suppe und schlug am Schluss die Sahne für die Zitronentörtchen, während Diana sich in die Speisekammer einschloss und den Salat fertig machte.

Und was war mit Davy? Hielt er sein Versprechen und war brav? Ja. Natürlich bestand er darauf, in der Küche zu bleiben, um seine Neugierde zu befriedigen und alles zu verfolgen. Da er ruhig in der Ecke saß und emsig damit beschäftigt war, die Knoten aus dem Fischnetz zu machen, das er von seinem letzten Ausflug ans Meer mitgebracht hatte, hatte niemand etwas dagegen.

Um halb zwölf war der Salat fertig, die goldgelben Törtchen waren mit Schlagsahne verziert, alles, was brutzeln und brodeln sollte, brutzelte und brodelte vor sich hin.

»Wir gehen uns jetzt besser umziehen«, sagte Anne. »Vielleicht kommen sie ja schon um zwölf. Punkt eins müssen wir zu Mittag essen, denn die Suppe muss, sobald sie fertig ist, sofort serviert werden.« Sie gingen in den Ostgiebel und zogen sich festlich an. Anne betrachtete besorgt ihre Nase und stellte hocherfreut fest, dass die Sommersprossen, entweder dank des Zitronensafts oder dank ihrer ungewöhnlich roten Wangen, überhaupt nicht auffielen. Als sie sich umgezogen hatte, sahen sie genauso adrett, schmuck und mädchenhaft aus wie »Mrs Morgans Heldinnen«.

»Hoffentlich bringe ich wenigstens ab und zu ein Wort über die Lippen und sitze nicht die ganze Zeit stumm da«, sagte Diana besorgt.

»Wo Mrs Morgans Heldinnen immer so gekonnt Konservation betreiben. Aber ich fürchte, ich bringe kein Wort heraus und sitze dämlich da. Und bestimmt sage ich wieder >verstehste<. Seit Miss Stacy hier unterrichtet hat, sage ich es nicht mehr ganz so oft. Aber wenn ich aufgeregt bin, platzt es mir bestimmt wieder heraus. Anne, wenn ich in Gegenwart von Mrs Morgan >verstehste< sage, schäme ich mich zu Tode. Es wäre fast noch schlimmer, als wenn ich keinen Ton sage.«

»Ich befürchte einiges«, sagte Anne, »aber ich habe keine Bange, dass ich kein Wort herausbringe.«

Anne verhüllte ihre Musselin-Pracht mit einer großen Schürze und ging nach unten, um die Suppe zuzubereiten. Marilla hatte sich und die Zwillinge umgezogen und sah aufgeregter aus, als man es je an ihr gesehen hatte. Um halb eins kamen die Allans und Miss Stacy. Alles verlief reibungslos, aber Anne wurde allmählich nervös. Es war längst an der Zeit, dass Priscilla und Mrs Morgan eintrafen. Sie ging des Öfteren an die Pforte und sah so gespannt den Weg hinunter, wie ihre Namensschwester in der Blaubart-Geschichte aus dem Turmfenster spähte.

»Angenommen, sie kommen überhaupt nicht?«, sagte sie kläglich. »Nimm es lieber nicht an. Es wäre ein Jammer«, sagte Diana, die langsam ungute Befürchtungen hegte.

»Anne«, sagte Marilla, die aus dem Wohnzimmer kam. »Miss Stacy möchte sich Miss Barrys Servierplatte ansehen.«

Anne eilte an den Wohnzimmerschrank, um sie zu holen. Wie sie es Mrs Lynde versprochen hatte, hatte sie an Miss Barry in Charlottetown geschrieben und sie gebeten, ihnen die Servierplatte auszuborgen. Miss Barry und Anne kannten sich seit langem und sie hatte die Servierplatte prompt hergeschickt zusammen mit einem Brief, in dem sie Anne dringend bat, gut darauf Acht zu geben, denn die Platte hätte 20 Dollar gekostet. Die Servierplatte hatte auf dem Hilfsbasar ihren Zweck erfüllt und war wieder auf Green Gables in den Schrank gestellt worden. Anne mochte sie niemand anvertrauen, der sie in die Stadt zurückbrachte.

Sie ging vorsichtig mit der Servierplatte zur Vordertür, wo die Gäste die kühle Brise genossen, die vom Meer herüberwehte. Die Platte wurde in Augenschein genommen und bewundert. Gerade hatte Anne sie wieder an sich genommen, da ertönte aus der Speisekammer ein grauenvolles Krachen und Klirren. Marilla, Diana und Anne rannten hin. Anne hielt nur kurz an, um die kostbare Servierplatte auf der zweiten Treppenstufe abzustellen.

Als sie bei der Speisekammer ankamen, bot sich ihren Augen ein wahrhaftig herzzerreißender Anblick: Davy kletterte schuldbewusst vom Tisch, das frische Baumwollhemd voller gelber Flecken. Auf dem Tisch lagen die zermantschten Überreste dessen, was einmal zwei ansehnliche Zitronentörtchen mit Sahne gewesen waren.

Davy hatte das Fischnetz entwirrt und es zu einem Ball aufgerollt. Dann war er in die Speisekammer gegangen und hatte es auf das Bord über dem Tisch legen wollen, wo er schon eine ganze Reihe ähnlicher Kugeln aufbewahrte, die, soweit das zu beurteilen war, außer dem reinen Vergnügen, sie zu besitzen, keinem nützlichen Zweck dienten. Davy musste, um daran zu kommen, auf den Tisch klettern und von einer gefährlichen Position aus auf das Regal langen - was Marilla ihm verboten hatte, weil er dabei schon einmal ziemlichen Schaden angerichtet hatte. Das Ergebnis diesmal war verheerend. Davy war ausgerutscht und mitten auf den Zitronentörtchen gelandet. Sein frisches Hemd war fürs Erste hinüber - die Zitronentörtchen waren ein für alle Mal hinüber. Was jedoch des einen Unglück, ist des ändern Glück; in dem Fall profitierte das Schwein von Davys Missgeschick.

»Davy Keith«, sagte Marilla und schüttelte ihn an den Schultern, »habe ich dir nicht verboten, auf den Tisch zu klettern? Hast du verstanden?«

»Ich hab’s vergessen«, wimmerte Davy. »Du hast mir so viele Sachen verboten, dass ich mir nicht immer alle merken kann.«

»Du gehst nach oben und bleibst dort bis nach dem Essen. Vielleicht ist es dir bis dahin wieder eingefallen. Nein, Anne, du brauchst gar nicht Fürsprache für ihn einzulegen. Ich bestrafe ihn nicht, weil er deine Kuchen ruiniert hat - das war ein Versehen. Ich bestrafe ihn, weil er ungehorsam war. Geh, Davy, jetzt gleich!«

»Bekomme ich nichts zu essen?«, jammerte Davy.

»Du kannst nach dem Essen herunterkommen und in der Küche essen.«

»In Ordnung«, sagte Davy ein wenig getröstet. »Anne hebt bestimmt ein paar schöne Hühnchenknochen für mich auf, nicht wahr, Anne? Weil du weißt, dass ich nicht absichtlich auf die Kuchen gefallen bin. Sag mal, Anne, jetzt wo sie sowieso hinüber sind, kann ich da nicht ein paar mit nach oben nehmen?«

»Nein, Davy«, sagte Marilla und schob ihn Richtung Flur.

»Was essen wir jetzt zum Nachtisch?«, fragte Anne und sah kummervoll auf die Überreste und die Verwüstung.

»Hol einen Topf von den eingemachten Erdbeeren«, sagte Marilla tröstend. »Da in der Schüssel ist noch genügend Schlagsahne.«

Es wurde ein Uhr, aber keine Spur von Priscilla und Mrs Morgan. Anne litt Qualen. Alles war gerade durchgebraten, die Suppe war genau so, wie eine Suppe sein sollte - aber nicht mehr lange.

»Ich glaube nicht, dass sie überhaupt noch kommen«, sagte Marilla ärgerlich.

Anne und Diana sahen einander trostsuchend an.

Um halb zwei tauchte Marilla wieder aus dem Wohnzimmer auf. »Mädchen, wir müssen jetzt essen. Alle haben Hunger, es hat keinen Zweck, noch länger zu warten. Priscilla und Mrs Morgan kommen nicht, das ist sicher. Warten nützt da auch nichts.«

Anne und Diana machten sich ohne jede Begeisterung daran, das Essen aufzutragen.

»Ich bringe keinen Bissen hinunter«, sagte Diana traurig.

»Ich auch nicht. Hoffentlich schmeckt es wenigstens Miss Stacy und den Allans«, sagte Anne lustlos.

Als Diana die Erbsen in die Schüssel gab, kostete sie sie und verzog das Gesicht.

»Anne, hast du Zucker an die Erbsen getan?«

»Ja«, sagte Anne und zerstampfte die Kartoffeln mit einer Miene wie jemand, der nur seine Pflicht erledigt. »Ich habe einen Löffel voll Zucker hineingetan. Wir geben immer Zucker hinzu. Magst du es nicht?«

»Ich habe auch einen Löffel voll hineingetan, als ich sie aufs Feuer setzte«, sagte Diana.

Anne ließ den Stampfer sinken und kostete ebenfalls. Dann zog sie eine Grimasse.

»Wie scheußlich! Nicht im Traum wäre ich darauf gekommen, dass du Zucker zugeben würdest, weil ich weiß, dass deine Mutter nie Zucker zugibt. Wie durch ein Wunder habe ich zufällig daran gedacht - ich vergesse es mit schöner Regelmäßigkeit -, also habe ich einen Löffel voll hineingetan.«

»Zu viele Köche . . .«, sagte Marilla, die der Unterhaltung ziemlich schuldbewusst gelauscht hatte. »Ich hatte mir nicht träumen lassen, dass du an den Zucker denkst, Anne. Du hast noch nie Zucker hineingetan - also habe ich einen Löffel voll hineingegeben.«

Die Gäste im Wohnzimmer vernahmen aus der Küche ein ums andere Mal schallendes Gelächter, aber sie hatten keine Ahnung, was der Grund dafür war. Jedenfalls standen an dem Tag keine Erbsen auf dem Tisch.

»Na ja«, seufzte Anne und riss sich wieder zusammen, »wir haben ja den Salat und bei den Bohnen wird wohl auch nichts schief gelaufen sein. Tragen wir die Sachen auf und bringen es hinter uns.«

Man kann nicht behaupten, dass das Essen sehr gesellig verlief. Die Allans und Miss Stacy bemühten sich redlich die Situation zu retten. Marilla ließ sich nicht aus ihrer gewohnten Ruhe bringen. Aber Anne und Diana, hin und her gerissen zwischen Enttäuschung und Erschöpfung von den Aufregungen des Vormittags, konnten weder reden noch essen. Anne mühte sich und beteiligte sich den Gästen zuliebe hin und wieder am Gespräch. Doch im Augenblick war jeder Funke in ihr erloschen. Trotz aller Liebe zu den Allans und Miss Stacy musste sie unaufhörlich denken, wie schön es wäre, wenn sie alle nach Hause gingen und sie ihre Erschöpfung und Enttäuschung in den Kissen im Ostgiebel vergessen konnte.

Es gibt eine alte Redensart, die manchmal nur zu wahr ist: »Ein Unglück kommt selten allein.« Das Maß der Widerwärtigkeiten an diesem Tag war noch nicht voll. Gerade als Mr Allan das Tischgebet beendete, ertönte auf der Treppe ein merkwürdiges, unheilverkündendes Geräusch, so als würde ein harter schwerer Gegenstand von Stufe zu Stufe poltern. Mit einem gewaltigen Krach landete es auf dem Boden. Alle rannten hinaus auf den Flur. Anne schrie entsetzt auf.

Am Fuße der Treppe lag zwischen Scherben, die einmal Miss Barrys Servierplatte gewesen waren, eine große rosa Muschel. Oben an der Treppe kniete der erschrockene Davy und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Verwüstung.

»Davy«, sagte Marilla drohend, »hast du die Muschel mit Absicht hinuntergeworfen?«

»Nein, ehrlich nicht«, wimmerte Davy. »Ich hab nur ganz still hier gekniet, um euch durch das Geländer zu beobachten. Da bin ich mit dem Fuß gegen dieses alte Ding gestoßen und es ist heruntergefallen. Ich hab einen Bärenhunger. Und lieber bekäme ich eine Tracht Prügel und damit basta, statt immer nach oben geschickt zu werden, wo ich alles verpasse!«

»Schimpf nicht mit Davy«, sagte Anne und sammelte mit zitternden Fingern die Scherben auf. »Es war mein Fehler. Ich habe die Platte dort abgestellt und ganz vergessen. Das ist die verdiente Strafe für meine Nachlässigkeit. Aber, oje, was wird Miss Barry sagen?«

»Sie hat sie sich gekauft, also ist es nicht so schlimm, als wenn es ein Erbstück wäre«, versuchte Diana sie zu trösten.

Bald darauf gingen die Gäste in dem Gefühl, dass das am taktvollsten war. Anne und Diana spülten das Geschirr, wobei sie weniger denn je sprachen. Dann machte sich Diana gemartert auf den Heimweg. Anne ging gemartert in den Ostgiebel. Sie blieb dort so lange, bis Marilla bei Sonnenuntergang mit einem Brief von Priscilla, den sie tags zuvor geschrieben hatte, vom Postamt nach Hause kam. Mrs Morgan hatte sich so schlimm den Fuß verstaucht, dass sie keinen Schritt aus ihrem Zimmer tun konnte.

»Anne, Liebes«, schrieb Priscilla, »es tut mir so Leid, aber wir können diesmal nicht nach Green Gables kommen. Bis Tantchens Fuß wieder in Ordnung ist, muss sie zurück nach Toronto. Sie muss bis zu einem bestimmten Datum wieder dort sein.«

»Tja«, seufzte Anne und legte den Brief auf die rote Steinstufe der hinteren Veranda, auf der sie saß, und sah in die Abenddämmerung. »Ich habe gleich gedacht, es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn Mrs Morgan tatsächlich kommen würde. Na . .. das klingt so pessimistisch wie Miss Eliza Andrews. Ich schäme mich dafür. Es war nicht zu schön, um wahr zu sein, schließlich werden bei mir dauernd ebenso schöne und noch viel schönere Dinge wahr. Die Sache hat auch ihre lustige Seite. Vielleicht können Diana und ich darüber lachen, wenn wir alt und grau sind. Aber früher werde ich nicht darüber lachen können, denn es war eine wirklich bittere Enttäuschung.«

»Du wirst vermutlich noch viel mehr und viel schlimmere Enttäuschungen erleben«, sagte Manila, die aufrichtig glaubte, dass Anne das trösten würde. »Mir scheint, Anne, dass du noch immer dein Herz viel zu sehr an etwas hängst und vor Verzweiflung am Boden zerstört bist, wenn es nicht in Erfüllung geht.«

»Ich weiß«, stimmte Anne traurig zu. »Wenn etwas Schönes ins Haus steht, fliege ich regelrecht darauf. Als Erstes stelle ich dann fest, dass ich - Rums! - wieder auf dem Boden lande. Aber, Manila, das Fliegen an sich ist einfach herrlich - so als segelte man durch den Sonnenuntergang. Es entschädigt einen fast für den Fall.«

»Hm, vielleicht«, gab Marilla zu. »Ich bleibe lieber auf dem Boden und verzichte sowohl aufs Fliegen als auch auf den Fall. Aber jeder macht es auf seine Weise. Früher dachte ich, es gäbe nur einen richtigen Weg, doch seit ich dich und die Zwillinge aufziehe, bin ich mir da nicht mehr so sicher. Was willst du wegen Miss Barrys Servierplatte unternehmen?«

»Ihr die zwanzig Dollar geben, die sie dafür bezahlt hat, denke ich. Ich bin heilfroh, dass es kein kostbares Erbstück war, dann könnte kein Geld der Welt sie ersetzen.«

»Vielleicht findest du eine, die gleich aussieht, und kannst sie ihr besorgen.«

»Ich furchte, nein. Solche alten Servierplatten gibt es nur noch sehr wenige. Mrs Lynde konnte schon für das Abendessen nirgends eine auftreiben. Ich wollte, ich fände eine, denn Miss Barry wäre jede recht, Hauptsache sie ist genauso alt und echt. Marilla, sieh dir nur den großen Stern über Mr Harrisons Ahornwäldchen an und die heilige Stille des silbrigen Himmels drum herum. Das ist wie ein Gebet. Solange man Sterne und einen Himmel wie diesen betrachten kann, da können einem kleine Enttäuschungen und Missgeschicke gar nicht so viel ausmachen, nicht wahr?«

»Wo steckt Davy?«, fragte Marilla und sah gleichgültig auf den Stern. »Im Bett. Ich habe Dora und ihm versprochen, sie morgen zu einem Picknick ans Meer mitzunehmen. Natürlich hatten wir ursprünglich ausgemacht, dass er brav sein muss. Aber er hat es nicht mit Absicht getan. Ich habe es nicht übers Herz gebracht ihn zu enttäuschen.«

»Ihr werdet noch ertrinken - im Boot übers Meer zu rudern«, brummte Marilla. »Ich lebe seit zwanzig Jahren hier und bin noch nicht ein einziges Mal auf dem Meer gerudert.«

»Dazu ist es nie zu spät«, sagte Anne verschmitzt. »Wie wäre es, wenn du morgen mitkämst? Wir schließen Green Gables ab, verbringen den ganzen Tag am Meer und vergessen die Welt.«

»Nein, danke«, sagte Marilla betont entrüstet. »Ich würde einen netten Anblick bieten, nicht wahr, wie ich in einem Boot übers Meer rudere! Ich höre Rachel schon. Da fährt Mr Harrison. Meinst du, an dem Gerede ist etwas daran, Mr Harrison wolle Isabella Andrews heiraten?«

»Nein, bestimmt nicht. Er war nur einmal abends in einer geschäftlichen Angelegenheit bei Harmon Andrews. Mrs Lynde hat ihn gesehen und gesagt, bestimmt würde er ihr den Hof machen, weil er ein weißes Hemd anhatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mr Harrison je heiraten wird. Er scheint etwas gegen das Heiraten zu haben.«

»Na ja, bei diesen alten Junggesellen weiß man nie. Aber wenn es stimmt, gebe ich Rachel Recht, dass das verdächtig ist, denn vorher hat man ihn noch nie in einem weißen Hemd gesehen.«

»Das hat er bestimmt nur angezogen, weil er mit Harmon Andrews ein Geschäft abschließen wollte«, sagte Anne. »Er hat einmal gesagt, das wäre der einzige Anlass für einen Mann, besonderen Wert auf sein Äußeres zu legen, weil, wenn man wohlhabend aussieht, würde die Gegenpartei einen nicht so schnell übers Ohr zu hauen versuchen. Mr Harrison tut mir richtig Leid. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit seinem Leben zufrieden ist. Er muss sich sehr einsam fühlen, wo er niemanden hat, um den er sich kümmern muss, außer dem Papagei, meinst du nicht auch? Aber Mr Harrison mag nicht bemitleidet werden. Das mag niemand, könnte ich mir vorstellen.«

»Da kommt Gilbert den Weg hoch«, sagte Manila. »Falls ihr vorhabt, eine Bootsfahrt zu machen, denk daran, Mantel und Gummistiefel anzuziehen. Es ist sehr frisch heute Abend.«

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