23 - Miss Lavendars Romanze

»Ich werde heute Abend einen Spaziergang nach Echo Lodge machen«, sagte Anne an einem Freitag Nachmittag im Dezember.

»Es sieht nach Schnee aus«, sagte Marilla zweifelnd.

»Ich werde da sein, bevor es zu schneien anfängt. Ich will die Nacht über dort bleiben. Diana kann nicht mitkommen, sie hat Besuch. Miss Lavendar erwartet mich bestimmt heute. Es ist schon zwei Wochen her, seit ich das letzte Mal dort war.«

Anne hatte seit jenem Tag im Oktober viele Besuche in Echo Lodge gemacht. Manchmal fuhren Diana und sie über die Straße dorthin, manchmal wandelten sie durch den Wald. Konnte Diana nicht mitkommen, ging Anne allein. Zwischen Miss Lavendar und ihr hatte sich eine lebendige, hilfreiche Freundschaft entwickelt, wie es nur zwischen einer Frau, die sich im Herzen die jugendliche Frische bewahrt hat, und einem Mädchen, das zwar nicht Erfahrung, aber Phantasie und Einfühlungsvermögen besitzt, möglich ist. Anne hatte in Miss Lavendar eine »verwandte Seele« gefunden. Dafür kehrten mit Anne und Diana in Miss Lavendars einsames, zurückgezogenes Leben voller Träume die wohltuende Freude und Heiterkeit der Welt von draußen ein, an der Miss Lavendar »weltvergessen, von der Welt vergessen«, schon lange nicht mehr teilhatte. Sie brachten frischen Wind und Wirklichkeitssinn in das kleine Steinhaus. Charlotta die Vierte begrüßte sie stets mit dem breitesten Lächeln - Charlotta lächelte in der Tat von einem Ohr zum anderen - und mochte die beiden ihrer verehrten Miss Lavendar als auch um ihrer selbst wegen. Nie zuvor hatte es in dem kleinen Steinhaus solche »Übermütigkeit« gegeben wie in dem schönen, sich lange hinziehenden Herbst, in dem der November wie ein zweiter Oktober war und sogar noch der Dezember den Sonnenschein und die Dunstschleier des Sommers nachzuahmen versuchte.

Aber an diesem Tag schien es, als ob sich der Dezember daran erinnerte, dass es Zeit für den Winter war. Plötzlich war es trübe und trist geworden, wie Ruhe vor dem Sturm lag Schnee in der Luft. Trotzdem genoss Anne ihren Spaziergang durch den großen düsteren Irrgarten des Buchenwalds sehr. Auch allein kam er ihr nie einsam vor. In ihrer Phantasie war der Pfad mit munteren Weggefährten belebt, mit denen sie im Geiste lebhafte Unterhaltungen führte. Sie waren geistreicher und faszinierender als Unterhaltungen im wirklichen Leben meist sind, da so mancher leider nicht die Gabe dazu hat. In einer »eingebildeten« Versammlung ausgewählter Seelen sagt jede das, was man ihr in den Mund legt, und man hat Gelegenheit, das zu sagen, was man gern loswerden möchte. Begleitet von dieser unsichtbaren Gesellschaft durchquerte Anne den Wald und erreichte in eben dem Augenblick den Tannenweg, als es in großen federleichten Flocken sanft zu schneien anfing.

An der ersten Biegung stieß sie auf Miss Lavendar, die unter einer mächtigen, ausladenden Tanne stand. Sie trug ein Kleid in einem warmen satten Rot, Kopf und Schultern waren in einen silbergrauen Seidenschal gehüllt.

»Sie sehen aus wie die Königin der Tannenwaldfeen«, rief Anne vergnügt.

»Ich dachte mir doch, dass du heute kommst, Anne«, sagte Miss Lavendar und ging voraus. »Es freut mich umso mehr, als Charlotta die Vierte nicht da ist. Ihre Mutter ist krank, Charlotta musste die Nacht über nach Hause. Ich wäre sehr allein gewesen, wenn du nicht gekommen wärst - auch die Träume und das Echo hätten mir nicht ausreichend Gesellschaft leisten können. Oh, Anne, wie hübsch du bist«, setzte sie plötzlich hinzu und sah zu dem großen schlanken Mädchen mit dem vom Laufen leicht geröteten Gesicht auf. »Wie hübsch und wie jung! Siebzehn ist ein herrliches Alter, nicht wahr? Ich beneide dich«, sagte Miss Lavendar offen.

»Aber im Herzen sind Sie auch erst siebzehn«, lächelte Anne.

»Nein, ich bin alt oder jedenfalls mittelalt, was noch viel schlimmer ist«, seufzte Miss Lavendar. »Manchmal bilde ich mir ein, es stimme nicht, dann wiederum bin ich mir dessen klar bewusst. Anders als die meisten Frauen, die es einfach hinnehmen, kann ich mich nicht damit abfinden. Ich lehne mich noch genauso dagegen auf wie damals, als ich mein erstes graues Haar entdeckte. Na, Anne, schau nicht drein, als würdest du es verstehen. Mit siebzehn kann man es nicht verstehen. Ich tue trotzdem einfach so, als wäre ich auch siebzehn. Jetzt, wo du da bist, gelingt es mir. Du bringst immer wie ein Geschenk die Jugend mit. Wir werden uns einen netten Abend machen. Zuerst gibt es Tee - was möchtest du zum Tee? Überleg dir etwas Leckeres, Herzhaftes.«

An dem Abend war das kleine Steinhaus von Stimmen und Fröhlichkeit erfüllt. Hätte ein Fremder das Kochen, den Festschmaus, das Konfektmachen, das Lachen und das »So-tun-als-ob« beobachtet, so hätte er gewiss gefunden, dass Miss Lavendar und Anne sich ganz und gar nicht würdevoll benahmen, wie es sich für eine alte Jungfer von fünfundvierzig Jahren und eine gesittete Lehrerin gehörte. Als die beiden müde wurden, setzten sie sich auf den Teppich vor dem Kamin im Wohnzimmer. Es wurde nur von dem sanften Feuerschein erhellt und roch herrlich nach Miss Lavendars Rosen auf dem Kaminsims. Der Wind hatte zugenommen und pfiff ächzend und heulend ums Dach. Schneeflocken schlugen leise gegen die Fenster, so als würden Hunderte von Sturmfeen anklopfen und um Einlass bitten. »Ich bin ja so froh, dass du da bist, Anne«, sagte Miss Lavendar und biss ein Stück von ihrem Konfekt. »Wärst du nicht da, wäre ich traurig, sehr traurig, tieftraurig. Träume und Einbildungen sind am Tage und bei Sonnenschein gut und schön, aber wenn es Nacht wird und stürmt, genügen sie einem nicht. Dann verlangt es einen nach wirklichen Dingen. Aber davon verstehst du nichts - mit siebzehn versteht man davon nichts. Mit siebzehn gibt man sich mit Träumen zufrieden, weil man meint, die wirklichen Dinge würden einen später noch erwarten. Als ich siebzehn war, Anne, habe ich mir nicht vorgestellt, dass ich mit fünfundvierzig eine weißhaarige altejungfer sein würde, die nur mit Träumen ihr Leben füllt.«

»Aber Sie sind keine alte Jungfer«, sagte Anne und sah lächelnd in Miss Lavendars aufgeweckte braune Augen. »Alte Jungfern werden geboren - sie werden nicht dazu.«

»Manche sind geborene alte Jungfrauen, manche werden zu alten Jungfern und manche sind es gezwungenermaßen«, sagte Miss Lavendar scherzhaft und schrullig.

»Dann gehören Sie zu denen, die es geworden sind«, lachte Anne. »Und das haben Sie so gut gemeistert, dass, wenn alle alten Jungfern wie Sie wären, es Mode werden könnte.«

»Ich tue eben immer mein Bestes«, sagte Miss Lavendar nachdenklich. »Da aus mir nun mal eine alte Jungfer werden musste, wollte ich eine nette altejungfer sein. Die Leute halten mich für merkwürdig. Aber das liegt nur daran, dass ich meinen eigenen Weg gehe und nicht das herkömmliche Bild einer alten Jungfer abgebe. Anne, hat dir je jemand von Stephen Irving und mir erzählt?«

»Ja«, sagte Anne ehrlich, »dass Sie beide einmal verlobt waren.«

»Das waren wir, vor fünfundzwanzig Jahren, vor einer Ewigkeit. Im Frühjahr darauf hatten wir heiraten wollen. Ich hatte mein Hochzeitskleid fertig, aber das wussten nur meine Mutter und Stephen. Man könnte sagen, wir waren fast von klein auf miteinander verlobt.

Als Stephen noch ein kleiner Junge war, brachte seine Mutter ihn mit, wenn sie meine Mutter besuchte. Das zweite Mal, als er kam - er war neun, ich sechs -, sagte er draußen im Garten zu mir, dass er sich endgültig entschieden hatte und mich heiraten wolle, wenn er groß sei. Ich erinnere mich, dass ich sagte: >Danke<. Als sie gegangen waren, erzählte ich meiner Mutter ganz ernst, dass mir ein Stein vom Herzen gefallen wäre, weil ich jetzt keine Angst mehr haben müsse, eine alte Jungfer zu werden. Wie meine Mutter gelacht hat!«

»Und was ist schief gelaufen?«, fragte Anne atemlos.

»Wir hatten einen dummen, albernen, banalen Streit. Einen so banalen Streit, ob du es glaubst oder nicht, dass ich mich nicht einmal mehr erinnere, wie es dazu kam. Ich weiß kaum mehr, wer mehr schuld daran war. Stephen hat angefangen, aber ich habe ihn durch irgendeine Dummheit dazu gebracht. Es gab da den einen oder anderen Rivalen, verstehst du. Ich war eitel und kokett und machte mir einen Spaß daraus, ihn ein wenig zu necken. Er war sehr empfindlich. Wir sind im Zorn auseinander gegangen. Ich dachte, es würde sich wieder einrenken. Es hätte sich auch wieder eingerenkt, wäre Stephen nicht allzu bald wieder gekommen. Anne, meine Liebe, es ist nun mal so«, Miss Lavendar senkte die Stimme, so als wäre sie im Begriff einen Mord einzugestehen, »dass ich entsetzlich leicht einschnappe. Oh. du brauchst nicht zu lachen, es ist nur zu wahr. Ich schnappe leicht ein. Stephen kam, aber ich war noch immer beleidigt. Ich hörte ihm nicht zu und ich verzieh ihm nicht. Also ging er ein für allemal. Er hatte zu viel Stolz, um noch einmal zu kommen. Dann war ich eingeschnappt, weil er nicht kam. Ich hätte ihn herbitten können, aber dazu wollte ich mich nicht herablassen. Ich hatte genau wie er meinen Stolz - Stolz und Trotz sind eine üble Mischung, Anne. Aber für einen anderen habe ich mich nie interessiert und wollte es auch nicht. Ich wollte tausendmal lieber eine alte Jungfer werden, als jemand anderen als Stephen Irving zu heiraten. Tja, jetzt kommt es mir wie ein Traum vor. Du schaust so anteilnehmend, Anne - so mitfühlend, wie man nur mit siebzehn dreinsehen kann. Aber übertreibe es nicht. Trotz meines gebrochenen Herzens bin ich glücklich und zufrieden. Es hat mir das Herz gebrochen, ja, als mir klar wurde, dass Stephen Irving nicht zurückkommen würde. Aber, Anne, ein gebrochenes Herz im wirklichen Leben ist nicht halb so schlimm, wie es in Büchern steht. Es ist so ähnlich wie Zahnweh - auch wenn das nicht gerade ein romantischer Vergleich ist. Man verspürt hin und wieder einen Schmerz, hat ab und zu eine schlaflose Nacht, aber ansonsten genießt man sein Leben, seine Träume, sein Echo und Erdnussbonbons, als hätte man weiter nichts. Jetzt bist du enttäuscht. Du findest mich nicht mehr halb so interessant wie noch vor fünf Minuten, als du annahmst, ich litte dauernd unter der tragischen Erinnerung, tapfer versteckt unter einem Lächeln. Das ist das Schlimmste - oder Schönste - im wirklichen Leben, Anne. Es lässt einem nicht elend zumute sein. Es setzt alles daran, einen aufzumuntern, und zwar mit Erfolg, selbst wenn man unter allen Umständen unglücklich und romantisch sein will. Schmeckt das Konfekt nicht lecker? Ich habe schon viel mehr gegessen, als gut für mich ist, aber ich esse unbekümmert weiter.«

Nach kurzem Schweigen sagte Miss Lavendar unvermittelt: »Es war wie ein Schock, als du bei eurem allerersten Besuch Stephen Irvings Sohn erwähntest, Anne. Ich konnte nicht mit dir darüber reden. Aber ich will alles über ihn wissen. Was ist er für ein Junge?«

»Er ist der liebste und süßeste Junge von der Welt, Miss Lavendar. Er stellt sich auch Sachen vor, genau wie Sie und ich.«

»Ich würde ihn gern kennen lernen«, sagte Miss Lavendar leise, so als redete sie zu sich selbst. »Ich möchte wissen, ob er Ähnlichkeit mit dem kleinen Traumjungen hat, der hier bei mir wohnt. . . mit meinem Traumjungen.«

»Dann bringe ich ihn einmal mit hierher«, sagte Anne.

»Gern ... aber nicht allzu bald. Ich muss mich mit dem Gedanken vertraut machen. Vielleicht tut es eher weh, als dass es eine Freude ist — wenn er Stephen zu ähnlich sieht oder wenn er zu wenig Ähnlichkeit mit ihm hat. Sagen wir in einem Monat.«

Wie abgemacht gingen Anne und Paul einen Monat später durch den Wald zum Steinhaus. Sie trafen Miss Lavendar auf dem Weg. Sie hatte noch nicht mit ihnen gerechnet und wurde blass.

»Das ist also Stephens Sohn«, sagte sie mit leiser Stimme, nahm Pauls Hand und betrachtete ihn, wie er hübsch und kess vor ihr stand in seinem netten kleinen Pelzmantel und der Mütze. »Er... er sieht seinem Vater sehr ähnlich.«

»Alle sagen, ich wäre ihm wie aus dem Gesicht geschnitten«, bemerkte Paul ungezwungen.

Anne, die das kleine Schauspiel verfolgt hatte, atmete erleichtert auf. Miss Lavendar und Paul waren sichtlich voneinander »angetan«, es würde also nicht gezwungen oder steif zugehen. Miss Lavendar war durchaus vernünftig, trotz ihrer Träume und ihrer Romantik. Sie überwand ihre anfängliche Unsicherheit und plauderte so lebhaft und natürlich mit Paul, als wäre er der Sohn von irgendjemand, der ihr einen Besuch abstattete. Zusammen verbrachten sie einen lustigen Nachmittag und verspeisten zum Abendessen einen wahren Festschmaus fetter Köstlichkeiten, dass die alte Mrs Irving vor Entsetzen, Pauls Verdauung wäre ein für allemal ruiniert, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte.

»Komm wieder, mein Kleiner«, sagte Miss Lavendar und schüttelte ihnen die Hände.

»Wenn Sie wollen, können Sie mir einen Kuss geben«, sagte Paul ernst.

Miss Lavendar beugte sich herunter und gab ihm einen Kuss. »Woher wusstest du, dass ich das gern wollte?«, flüsterte sie.

»Weil Sie mich angeschaut haben wie meine Mutter, wenn sie mir einen Kuss geben wollte. Normalerweise mag ich es nicht. Jungen mögen es nicht. Sie verstehen schon, Miss Lewis. Aber bei Ihnen mag ich es. Bestimmt komme ich Sie wieder besuchen. Wenn Sie nichts dagegen haben, können wir ja Freunde sein.«

»Ich . . . dagegen habe ich nichts«, sagte Miss Lavendar. Sie drehte sich um und ging schnell ins Haus. Aber gleich darauf winkte sie ihnen vom Fenster aus zum Abschied fröhlich lächelnd zu.

»Ich mag Miss Lavendar«, verkündete Paul, als sie durch den Buchenwald gingen. »Ich mag, wie sie mich angeschaut hat, und ihr Haus und Charlotta die Vierte. Ich wünschte Großmutter Irving hätte eine Charlotta die Vierte anstelle von Maryjoe. Charlotta die Vierte würde bestimmt nicht denken, ich wäre nicht ganz richtig im Kopf, wenn ich ihr meine Geschichte erzählte. War das nicht ein sagenhaftes Essen? Großmutter sagt, ein Junge muss essen, was auf den Tisch kommt. Aber wenn ich richtig hungrig bin, spielt es schon eine Rolle, was es gibt. Miss Lavendar würde bestimmt nicht von einem verlangen, dass man zum Frühstück Porridge isst, wenn man Porridge nicht mag. Sie würde einem Sachen machen, die einem schmecken. Aber«, Paul war da sehr aufrichtig, »das bekäme einem vielleicht gar nicht. Doch zur Abwechslung tut es gut. Sie verstehen schon.«

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