27 - Ein Nachmittag im Steinhaus

»Du hast dich so fein gemacht, Anne, wohin gehst du?«, wollte Davy wissen. »Das Kleid steht dir mordsmäßig gut.«

Anne war in einem blassgrünen Musselinkleid zum Mittagessen heruntergekommen - es war das erste Mal nach Matthews Tod, dass sie ein farbiges Kleid trug. Es passte gut zu ihr und brachte die feinen, blumengleichen Farbtöne ihres Gesichts und den Glanz und Schimmer ihres Haars voll zur Geltung.

»Davy, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst das Wort nicht gebrauchen«, ermahnte sie ihn. »Ich gehe nach Echo Lodge.«

»Nimm mich mit«, bettelte Davy.

»Wenn ich fahren würde, würde ich dich mitnehmen. Aber ich gehe zu Fuß und für deine kurzen Beine ist der Weg zu weit. Außerdem kommt Paul mit. Das würde dir sowieso alles vermiesen.«

»Oh, ich kann Paul schon viel besser leiden«, sagte Davy und begann fürchterlich in seinem Pudding herumzustochern. »Seit ich mich gebessert habe, macht es mir nichts mehr aus, dass er noch viel besser ist. Wenn ich durchhalte, hole ich ihn eines Tages ein, sowohl in der Beinlänge als auch im Bravsein. Übrigens ist Paul sehr nett zu uns Jungen aus der zweiten Klasse. Er lässt nicht zu, dass die großenjungen sich mit uns anlegen, und er zeigt uns viele Spiele.«

»Wie kam es, dass Paul gestern Mittag in den Bach gefallen ist?«, fragte Anne. »Er stand tropfnass auf dem Schulhof. Ich habe ihn gleich nach Hause geschickt, damit er sich trockene Sachen anzieht, ohne nachzufragen, wie es passiert ist.«

»Naja, teils war es ein Versehen«, erklärte Davy. »Den Kopf hat er absichtlich hineingesteckt, aber ganz hineingefallen ist er versehentlieh. Wir waren alle unten am Bach. Prillie Rogerson war wegen irgendwas ganz rasend auf Paul. Sie ist sowieso gemein und fies und wenn sie noch so hübsch ist. Sie sagte, seine Großmutter würde ihm jeden Abend die Haare mit Lockenwickler aufdrehen. Paul machte sich nichts daraus. Aber Gracie Andrews fing an zu lachen, da lief Paul rot an. Weil Gracie seine Freundin ist, wisst ihr. Er ist total in sie verschossen - bringt ihr Blumen mit und trägt die ganze Uferstraße lang die Bücher für sie. Er bekam eine knallrote Rübe und sagte, das stimme nicht, er wäre mit Locken auf die Welt gekommen. Dann legte er sich aufs Ufer und steckte den Kopf ins Wasser, damit sie es selbst sehen konnten. Oh, nicht an der Quelle, aus der wir trinken«, sagte er, als er Marillas entsetzten Blick sah, »an der kleineren weiter unten. Das Ufer ist sehr glitschig. Paul landete direkt im Wasser. Ich kann euch sagen, das gab einen mordsmäßigen Platscher! Oh, Anne, Anne, das wollte ich nicht sagen ... es ist mir nur so herausgerutscht. Das gab einen phantastischen Platscher! Er sah furchtbar komisch aus, als er herauskletterte, er war triefnass und voller Schlamm. Die Mädchen konnten sich nicht mehr halten vor Lachen, bis auf Gracie. Ihr tat es Leid. Gracie ist nett, aber sie hat eine Stupsnase. Wenn ich groß genug bin, um eine Freundin zu haben, will ich keine mit einer Stupsnase. Ich suche mir eine, die eine genauso schöne Nase hat wie du, Anne.«

»Einen jungen, der sich beim Puddingessen das Gesicht mit Sirup bekleckert, den sehen Mädchen nicht einmal an«, sagte Marilla streng. »Bevor ich mir eine Freundin suche, wasche ich mir das Gesicht«, wandte Davy ein und versuchte die Flecken abzuwischen, indem er sich mit dem Handrücken übers Gesicht rieb. »Ich wasch mir auch die Ohren, ohne dass man es mir sagen muss. Heute Morgen hab ich auch daran gedacht, Marilla. Ich vergesse es nur mehr halb so oft wie früher. Aber«, seufzte Davy, »man hat so viele versteckte Ecken an sich, dass man fast nicht an alle denken kann. Also, wenn ich nicht mit zu Miss Lavendar darf, gehe ich Mr Harrison besuchen. Mrs Harrison ist furchtbar nett, kann ich euch sagen. In der Speisekammer hat sie für kleine Jungen ein Glas mit Bonbons stehen. Außerdem darf ich immer die Reste aus der Schüssel kratzen, in der sie Pflaumenkuchen zubereitet. An den Seiten kleben immer noch ganz viele Pflaumen, müsst ihr wissen. Mr Harrison war auch immer nett, aber seit er wieder verheiratet ist, ist er noch mal so nett. Heiraten macht die Leute scheint’s netter. Warum heiratest du nicht, Marilla? Das will ich wissen.«

Dass sie nicht verheiratet war, war nie ein heikles Thema für Marilla gewesen. Also antwortete sie liebenswürdig, wobei sie mit Anne viel sagende Blicke austauschte, das läge wohl daran, dass niemand sie hätte heiraten wollen.

»Vielleicht hast du ja auch nie jemanden gefragt, ob er dich heiraten will«,wandte Davy ein.

»Oh, Davy«, sagte Dora artig, die vor Schock etwas sagte, ohne dass sie gefragt worden war, »der Mann muss einen fragen.«

»Warum immer die Männer«, brummte Davy. »Als ob alles auf der Welt die Männer erledigen müssen. Kann ich noch etwas Pudding haben, Marilla?«

»Du hast schon mehr als genug gehabt«, sagte Marilla, aber sie gab ihm noch eine bescheidene Portion.

»Ich wollte, man könnte sich von Pudding ernähren. Warum eigentlich nicht, Marilla? Das will ich wissen.«

»Weil man bald keinen Pudding mehr sehen könnte.«

»Das würde ich gern ausprobieren«, sagte Davy zweifelnd. »Aber immer noch besser an Festtagen und wenn Besuch da ist, Pudding zu bekommen als gar nicht. Bei Milty Boulter gibt’s nie welchen. Milty sagt, wenn Freunde ihn besuchen, gibt seine Mutter ihnen Käse, den sie selbst aufschneidet. Eine Scheibe für jeden und eine extra für gutes Benehmen.«

»Wenn Milty Boulter so von seiner Mutter spricht, brauchst du es ihm noch lang nicht nachzumachen«, sagte Marilla scharf.

»Du meine Güte«, - den Ausdruck hatte Davy von Mr Harrison und benutzte ihn mit Vorliebe -, »Milty hat es als Komplott gemeint. Er ist schrecklich stolz auf seine Mutter, weil alle sagen, sie könnte auf dem Trockenen sitzen und würde trotzdem was zu essen beschaffen.«

»Die verflixten Hühner sind doch schon wieder in meinem Stiefmütterchenbeet«, sagte Marilla, stand auf und ging schnell hinaus.

Die verflixten Hühner waren nicht im Stiefmütterchenbeet. Marilla warf nicht einmal einen Blick hin. Stattdessen setzte sie sich auf die Kellerklappe und lachte, bis sie sich über sich selbst schämte.

Als Anne und Paul am Nachmittag beim Steinhaus ankamen, waren Miss Lavendar und Charlotta die Vierte im Garten. Sie jäteten, rechten, schnitten und stutzten zurecht, als ginge es ums liebe Leben. Miss Lavendar, die kess und hübsch aussah in ihren geliebten Rüschen und Spitzen, ließ die Gartenschere fallen und lief freudig ihrem Besuch entgegen. Charlotta die Vierte grinste fröhlich. »Willkommen, Anne. Ahnte ich es doch, dass du heute kommst. Du machst diesen Nachmittag komplett. Dinge, die zusammengehören, kommen auch zusammen. Welchen Ärger sich manche ersparen könnten, wenn ihnen das klar wäre. Aber sie wissen es nicht und verschwenden viel Energie darauf, Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, um zusammengehörige Dinge zusammenzubringen. Und du, Paul... nanu, bist du groß geworden! Du bist um einen halben Kopf gewachsen, seit du das letzte Mal hier warst.«

»Ja, ich schieße in die Höhe wie Gänsefuß bei Nacht, wie Mrs Lynde immer sagt«, sagte Paul ehrlich erfreut über die Tatsache. »Großmutter sagt, das Porridge wirke endlich. Vielleicht stimmt es. Weiß der Himmel«, Paul seufzte tief, »ich habe so viel davon gegessen, dass es jeden zum Wachsen bringen würde. Hoffentlich wachse ich jetzt so lange weiter, bis ich so groß bin wie mein Vater. Er ist über einen Meter achtzig groß, wissen Sie, Miss Lavendar.«

Ja, das wusste Miss Lavendar. Ihre hübschen Wangen wurden noch ein wenig röter. Sie nahm Paul an die eine und Anne an die andere Hand und ging schweigend aufs Haus zu.

»Ist heute ein guter Tag für die Echos, Miss Lavendar?«, fragte Paul gespannt. Bei seinem ersten Besuch war Paul sehr enttäuscht gewesen, weil es zu windig gewesen war.

»Ja, der beste Tag überhaupt«, antwortete Miss Lavendar und riss sich aus ihren Träumen. »Aber zuallererst gehen wir hinein und essen etwas. Ihr zwei seid den ganzen Weg hierher gelaufen und seid bestimmt hungrig. Charlotta die Vierte und ich könnten Tag und Nacht essen - wir haben mächtig Appetit. Wir plündern schnell einmal die Speisekammer. Zum Glück ist sie hübsch voll. Ich hatte so eine Ahnung, dass ich heute Besuch bekommen würde. Charlotta die Vierte und ich haben dafür gesorgt.«

»Sie gehören zu denen, die immer nette Sachen auf Vorrat in der Speisekammer haben«, verkündete Paul. »Genau wie Großmutter. Aber kleine Imbisse zwischen den Mahlzeiten, das gibt es bei ihr nicht. Ich frage mich«, fügte er nachdenklich hinzu, »ob ich die kleinen Imbisse nicht woanders zu mir nehmen sollte, wo sie nun mal dagegen ist.«

»Nach einem langen Spaziergang würde sie bestimmt eine Ausnahme machen. Dann ist es etwas anderes«, sagte Miss Lavendar und warf Anne über Pauls braunen Lockenkopf hinweg belustigte Blicke zu. »Kleine Imbisse sind ausgesprochen ungesund. Wir halten es genau entgegengesetzt. Charlotta die Vierte und ich, wir leben entgegen aller Regeln der Ernährung. Wir essen zu jeder Tages- und Nachtzeit alle möglichen schwer verdaulichen Sachen und gedeihen wie Bäume am Wasser. Wir nehmen uns immer vor, uns zu bessern. Wenn wir in der Zeitung einen Artikel lesen, in dem vor einer unserer Lieblingsspeisen gewarnt wird, schneiden wir ihn aus und hängen ihn zur Erinnerung an die Küchenwand. Aber irgendwie denken wir erst wieder daran, wenn wir besagtes Essen verspeist haben. Bis jetzt haben wir es heil überstanden. Aber Charlotta die Vierte hatte einmal Alpträume, nachdem wir Krapfen, gefüllte Pastete und Früchtekuchen vor dem Zubettgehen gegessen hatten.«

»Großmutter gibt mir vor dem Zubettgehen immer nur ein Glas Milch und eine Scheibe Butterbrot zu essen. Nur sonntags streicht sie Marmelade aufs Brot«, sagte Paul. »Also freue ich mich immer auf Sonntagabend - aber nicht nur aus dem Grund. Die Sonntage an der Uferstraße sind immer so langweilig. Großmutter kommen sie zu kurz vor. Vater hätte als kleiner Junge Sonntage nicht langweilig gefunden, sagt sie. Ich würde sie auch nicht langweilig finden, wenn ich mich mit meinen Felsen-Menschen unterhalten könnte, aber an Sonntagen hat Großmutter es mir verboten. Also denke ich über dies und jenes nach. Es sind mehr weltliche Gedanken. Großmutter sagt, am Sonntag solle man nur über religiöse Dinge nachdenken. Die Lehrerin hat einmal gesagt, jeder schöne Gedanke wäre fromm, egal, worum es sich handelt oder an welchem Tag man ihn denkt. Großmutter meint, dass man sich nur bei Predigten und in den Unterrichtsstunden in der Sonntagsschule wirklich fromme Gedanken macht. Weil meine Großmutter und die Lehrerin verschiedener Auffassung sind, weiß ich nicht, woran ich bin. Im Innern«, Paul legte die Hand auf die Brust und sah mit seinen ernsten blauen Augen in Miss Lavendars verständnisvolles Gesicht, »stimme ich mit der Lehrerin überein. Andererseits, verstehen Sie, hat Großmutter Vater nach ihren Auffassungen erzogen und das war ein voller Erfolg. Die Lehrerin hat bisher noch niemanden großgezogen, allerdings hilft sie Davy und Dora aufzuziehen. Aber man weiß nicht, was aus ihnen wird, wenn sie erwachsen sind. Manchmal finde ich es sicherer, mich an Großmutters Ansichten zu halten.«

»Das solltest du auch«, stimmte Anne ihm ernst zu. »Wenn deine Großmutter und ich der Sache allerdings auf den Grund gingen, würde sich bestimmt herausstellen, dass wir beide dasselbe meinen und es nur in anderen Worten ausdrücken. Richte dich lieber nach deiner Großmutter, sie spricht aus Erfahrung. Man muss abwarten, was aus den Zwillingen wird, ehe feststeht, dass mein Weg ebenso gut ist.« Nach dem Essen gingen sie wieder in den Garten, wo Paul staunend und voller Wonne das Echo ausprobierte. Anne und Miss Lavendar setzten sich auf die Steinbank unter der Pappel und unterhielten sich.

»Du gehst also im Herbst fort?«, sagte Miss Lavendar gedankenvoll. »Für dich freut es mich, aber was mich angeht, finde ich es schrecklich schade. Ich werde dich sehr vermissen. Manchmal finde ich es direkt sinnlos, Freundschaften zu schließen. Die Freunde verschwinden nach einer Weile und hinterlassen eine Wunde, die schlimmer ist als die Leere, bevor sie in meinem Leben auftauchten.«

»Das klingt nach Miss Eliza Andrews, nicht nach Miss Lavendar«, sagte Anne. »Nichts ist schlimmer als Leere. Aber ich verschwinde ja nicht aus Ihrem Leben. Es gibt so was wie Briefe und Ferien. Sie sehen blass und müde aus, meine Liebe.«

»Huh ... huuuhh ... huuuhhh«, machte Paul, der auf der Steinmauer saß und fleißig Geräusche machte - nicht sehr melodiöse Geräusche, die aber golden und silberhell widerhallten, verwandelt von den Feen jenseits des Flusses. Miss Lavendar machte mit ihrer hübschen Hand eine ungeduldige Geste.

»Ich bin alles leid, sogar das Echo. Mein ganzes Leben besteht nur aus Echos - Echos vergangener Hoffnungen, Träume und Freuden. Das Echo ist schön und spöttisch. Ach, Anne, ich sollte dir gegenüber nicht so reden. Ich werde eben alt und kann mich nicht damit abfinden. Mit sechzig werde ich unausstehlich sein. Vielleicht brauche ich auch nur eine Pillenkur.«

In dem Augenblick tauchte Charlotta die Vierte, die nach dem Essen verschwunden war, wieder auf und verkündete, dass die Nordostecke von Mr Kimballs Weide über und über rot mit ersten Erdbeeren sei. Ob Miss Shirley nicht Lust hätte, ein paar zu pflücken. »Erdbeeren zum Tee!«, rief Miss Lavendar. »Ich bin doch noch nicht so alt, wie ich dachte. Ach was, Pillen! Mädchen, sammelt Erdbeeren! Wenn ihr zurück seid, trinken wir hier draußen unter der Silberpappel Tee. Ich bereite alles vor. Es gibt selbst geschöpfte Sahne.«

Anne und Charlotta die Vierte gingen zu Mr Kimballs Weide. Die Luft war samtweich, duftete nach Veilchen und leuchtete golden wie Bernstein.

»Wie herrlich frisch es hier ist!«, sagte Anne und sog die Luft ein. »Ich fühle mich, als würde ich im Sonnenschein baden.«

»Ja, Miss, so fühle ich mich auch. Genauso fühle ich mich auch«, stimmte Charlotta die Vierte zu, die genau dasselbe geantwortet hätte, hätte Anne gesagt, sie komme sich vor wie ein Pelikan in der Wüste. Nach jedem ihrer Besuche in Echo Lodge war Charlotta die Vierte in ihr kleines Zimmer über der Küche gegangen und hatte vor dem Spiegel geübt wie Anne zu sprechen, wie sie zu schauen und sich wie sie zu bewegen. Das war ihr nie ganz gelungen. Aber Übung macht den Meister, hatte Charlotta in der Schule gelernt. Sie hoffte inständig, dass sie irgendwann auf den Dreh kam, wie man so zart das Kinn hob, schnell und funkelnd die Augen aufschlug und sich wie ein Zweig im Wind zu bewegen. Wenn man sie so sah, konnte man meinen, es wäre ganz leicht. Charlotta die Vierte bewunderte Anne von ganzem Herzen. Nicht dass sie sie für besonders schön hielt. Diana Barry mit ihren rosigen Wangen und schwarzen Locken gefiel ihr viel besser als Anne mit ihren leuchtend graugrünen Augen und den blassen, ständig die Farbe wechselnden rosa Wangen.

»Aber ich würde lieber so aussehen wie Sie, statt hübsch zu sein«, sagte sie ernst zu Anne.

Anne lachte, genoss das Kompliment wie Honig und warf den Stachel fort. Sie betrachtete Komplimente stets mit gemischten Gefühlen. Man war sich nie einig über ihr Aussehen. Manche, die sie vom Hörensagen für hübsch gehalten hatten, lernten sie kennen und waren enttäuscht. Andere, die sie für unscheinbar gehalten hatten, sahen sie und fragten sich, ob manche Leute keine Augen im Kopf hatten. Anne selbst hielt sich nie für schön. Sah sie in den Spiegel, schaute sie in ein kleines blasses Gesicht mit sieben Sommersprossen auf der Nase. Ihr Spiegel enthüllte ihr nie das schwer bestimmbare Wechselspiel ihrer Gefühle, das wie eine leuchtende Flamme über ihr Gesicht huschte, noch den Reiz ihrer Phantasie und das Lachen, das in ihren großen Augen aufleuchtete.

War Anne streng genommen nicht schön, so besaß sie doch einen gewissen, schwer zu beschreibenden Charme, ein auffallendes Äußeres, eine angenehme Mädchenhaftigkeit, aber zugleich auch eine innere Stärke, was im Betrachter ein Gefühl von Zufriedenheit hinterließ. Annes engste Freunde spürten, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass ihre größte Anziehungskraft in ihrer gestalterischen Kraft lag. Sie verbreitete um sich eine Atmosphäre, in der alles geschehen konnte.

Beim Erdbeerpflücken vertraute Charlotta die Vierte Anne ihren Kummer wegen Miss Lavendar an. Das warmherzige kleine Dienstmädchen machte sich ernstlich Sorgen um die von ihr bewunderte Frau des Hauses.

»Miss Lavendar geht es nicht gut, Miss Shirley, gar nicht gut. Obwohl sie sich nie beklagt. Das geht jetzt schon eine ganze Weile so, seit Sie und Paul das erste Mal hier waren. An dem Abend hat sie sich eine Erkältung geholt. Als sie beide gegangen waren, war sie noch lange draußen im Dunkeln im Garten. Sie hatte nur ein dünnes Tuch um. Bestimmt hat sie da gefroren. Seitdem wirkt sie lustlos und hat an nichts Interesse. Sie tut auch nicht mehr so, als erwarte sie Besuch. Sie macht sich nicht mehr fein und gar nichts, Miss. Nur wenn Sie kommen, ist sie ein bisschen munterer. Das Schlimmste ist, Miss Shirley«, Charlotta die Vierte senkte die Stimme, als hätte sie höchst seltsame, schlimme Krankheitsanzeichen zu vermelden, »dass sie sich nicht mal aufregt, wenn ich Sachen kaputtmache. Stellen Sie sich vor, Miss Shirley, gestern hab ich ihre grüngelbe Schale zerdeppert, die immer auf dem Bücherregal stand. Ihre Großmutter hat sie ihr aus England mitgebracht. Miss Lavendar war immer ganz heikel damit. Ich hab sie behutsam wie immer abgestaubt, Miss Shirley. Da ist sie mir weggerutscht. Ich konnte sie nicht mehr auffangen, sie zerbrach in tausend Millionen Teile. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie Leid es mir getan hat. Aber ich hatte solche Angst, Miss. Ich dachte, Miss Lavendar würde furchtbar mit mir schimpfen. Das wäre mir immer noch lieber gewesen, als wie sie es dann hinnahm. Sie kam ins Zimmer, schaute kaum hin und sagte: >Macht nichts, Charlotta. Sammle die Scherben auf und wirf sie weg.< Das war alles, Miss Shirley. >Sammle die Scherben auf und wirf sie weg<, so als wäre es gar nicht die Schale, die ihre Großmutter ihr aus England mitgebracht hat. Oh, es geht ihr gar nicht gut und mir ist auch nicht wohl dabei zumute. Wo sie nur mich hat, die sich um sie kümmert.«

Charlotta der Vierten traten Tränen in die Augen. Anne streichelte ihre kleine braune Hand, in der sie die rosa Erdbeerschüssel mit dem Sprung hielt.

»Miss Lavendar würde ein Tapetenwechsel gut tun, Charlotta. Sie ist zu viel allein. Können wir sie nicht dazu überreden, eine kleine Reise zu machen?«

Charlotta mit ihren buschigen Augenbrauen schüttelte unglücklich den Kopf.

»Das glaube ich nicht, Miss Shirley. Miss Lavendar hasst es auf Besuch zu gehen, ln ihrem ganzen Leben hat sie nur drei ihrer Verwandten besucht. Sie sagt, sie tut es nur aus familiärer Verpflichtung. Als sie von ihrem letzten Besuch zurückkam, hat sie gemeint, das wäre das allerletzte Mal gewesen. >Allein zu Hause und sicher unter meinem Dach ist mir immer noch lieber, Charlotta<, sagte sie zu mir. >Meine Verwandten behandeln mich wie eine alte Jungfer, das bekommt mir ganz und gar nicht.< Genau das hat sie gesagt, Miss Shirley. >Das bekommt mir ganz und gar nicht.< Also hätte es wohl keinen Sinn, sie dazu zu überreden.«

»Dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen«, sagte Anne entschieden, als sie die letzte Erdbeere, die noch hineinpasste, in die rosa Schüssel legte. »Sobald ich Ferien habe, komme ich für eine Woche her. Wir machen jeden Tag ein Picknick, malen uns alles Mögliche aus und versuchen Miss Lavendar ein wenig aufzuheitern.«

»Das ist es, Miss Shirley«, rief Charlotta die Vierte begeistert. Sie freute sich für Miss Lavendar und auch für sich. Eine ganze Woche, in der sie Anne studieren konnte - da würde sie bestimmt lernen, sich wie sie zu bewegen und zu benehmen.

Als sie nach Echo Lodge zurückkehrten, hatten Miss Lavendar und Paul den kleinen viereckigen Tisch aus der Küche in den Garten gestellt und alles vorbereitet. Nichts hatte je so köstlich geschmeckt wie diese Erdbeeren mit Sahne, die sie unter dem weiten blauen Himmel mit den weichen weißen Wölkchen, den langen Schatten der Bäume und dem Lispeln und Rauschen des Windes aßen. Anschließend half Anne Charlotta in der Küche beim Abwasch, während Miss Lavendar mit Paul auf der Steinbank saß und seinen Geschichten über seine Felsen-Menschen zuhörte. Sie war eine gute Zuhörerin, die liebe Miss Lavendar. Doch dann fiel Paul auf, dass sie sich plötzlich nicht mehr für seine Zwillings-Segler interessierte.

»Miss Lavendar, warum sehen Sie mich so an?«, fragte er ernst.

»Wie sehe ich dich denn an, Paul?«

»So, als würden Sie durch mich durch sehen und als würde ich Sie an jemand erinnern«, sagte Paul, der manchmal so unvermittelt geradezu unheimliche Erkenntnisse hatte, dass man in solchen Augenblicken besser keine Geheimnisse vor ihm hatte.

»Du erinnerst mich an jemand, den ich vor langer Zeit einmal kannte«, sagte Miss Lavendar verträumt.

»Als Sie jung waren?«

»Ja, als ich jung war. Findest du mich sehr alt, Paul?«

»Ich weiß nicht so recht«, sagte Paul vertraulich. »Ihre Haare wirken alt - ich habe noch nie jemand gekannt, der noch so jung war und schon weiße Haare hatte. Aber wenn Sie lachen, sind Ihre Augen so jung wie die von meiner Lehrerin. Wissen Sie was, Miss Lavendar?« Pauls Stimme und Miene waren so ernst wie die eines Richters. »Sie wären bestimmt eine prima Mutter. Ihre Augen haben genau den passenden Ausdruck dafür - wie bei meiner Mutter. Ich finde es schade, dass Sie keine eigenen Jungen haben.«

»Ich habe einen kleinen Traumjungen, Paul.«

»Oh, wirklich? Wie alt ist er?«

»Ungefähr so alt wie du. Eigentlich müsste er schon älter sein, denn ich habe ihn mir erträumt, lange bevor du geboren wurdest. Aber ich lasse ihn nicht älter als elf, zwölf Jahre werden. Sonst wäre er nämlich plötzlich erwachsen und dann würde ich ihn verlieren.«

»Ich verstehe«, nickte Paul. »Das ist das Schöne an Traum-Menschen -sie bleiben so alt, wie man möchte. Sie, meine liebe Lehrerin und ich sind die Einzigen auf der Welt, die ich kenne, die Traum-Menschen haben. Ist es nicht lustig und herrlich, dass wir uns kennen gelernt haben? Aber ich glaube, solche Leute finden zueinander. Großmutter hat keine Traum-Menschen, Mary hält mich wegen meiner Traum-Menschen sogar für nicht ganz richtig im Kopf. Aber mir gefällt es. Sie verstehen schon, Miss Lavendar. Erzählen Sie mir von Ihrem Traumjungen.«

»Er hat blaue Augen und einen Lockenkopf. Er kommt jeden Morgen in mein Zimmer gehuscht und weckt mich mit einem Kuss. Dann spielt er den ganzen Tag hier im Garten und ich spiele mit ihm. Alles Mögliche. Wir machen Wettrennen, reden mit dem Echo und ich erzähle ihm Geschichten. Wenn es dunkel wird ...«

»Ich weiß schon«, unterbrach Paul ungeduldig. »Dann kommt er her und setzt sich neben Sie, so, weil er mit zwölf natürlich viel zu alt ist, um auf Ihren Schoß zu klettern. Er lehnt den Kopf an Ihre Schulter, so. Sie legen den Arm um ihn, halten ihn fest, ganz fest und legen Ihre Wangen an seinen Kopf, ja, genau so. Oh, Sie verstehen das, Miss Lavendar.«

Anne kam aus dem Haus und sah die beiden dort sitzen. Als sie Miss Lavendar betrachtete, tat es ihr Leid, die beiden stören zu müssen. »Ich fürchte, Paul, wir müssen gehen, wenn wir vor Anbruch der Dunkelheit zu Hause sein wollen. Miss Lavendar, ich möchte mich demnächst für eine Woche nach Echo Lodge einladen.«

»Ich werde dich zwei dabehalten«, drohte Miss Lavendar.

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