07 - Eine Frage der Pflicht

Es war ein milder Oktoberabend. Anne lehnte sich in ihren Stuhl zurück und seufzte. Auf dem Tisch lagen viele Bücher und Hefte, aber die eng beschriebenen Seiten vor ihr hatten unverkennbar nichts mit Studien oder Arbeiten für die Schule zu tun.

»Was ist los?«, fragte Gilbert, der gerade in dem Augenblick an die offene Küchentür gekommen war, um ihren Seufzer noch zu hören. Anne wurde rot und schob das Geschriebene schnell unter ein paar Schulaufsätze.

»Nichts Schlimmes. Ich habe nur gerade versucht, einige meiner Gedanken zu Papier zu bringen, wie Professor Hamilton es mir geraten hat, aber es will mir nicht so recht gelingen. Sie wirken so hölzern und dümmlich direkt, wenn man sie schwarz auf weiß vor sich hat. Einfälle sind wie Schatten - man kann sie nicht einfangen, sie sind unberechenbar und hüpfen hin und her. Aber vielleicht gelingt es mir eines Tages ja doch, wenn ich es weiter probiere. Ich habe nicht viel freie Zeit, weißt du. Wenn ich die Hefte und Aufsätze korrigiert habe, habe ich meist keine Lust mehr zum Schreiben.«

»Du kommst in der Schule glänzend an, Anne. Alle Kinder mögen dich«, sagte Gilbert und setzte sich auf die Steinstufe.

»Nein, das stimmt nicht. Anthony Pye mag mich nicht und wird mich nie mögen. Schlimmer noch, er respektiert mich nicht, überhaupt nicht. Er verachtet mich. Ich gebe auch gern zu, dass mich das furchtbar quält. Nicht dass er von Grund auf schlecht wäre, er stellt nur dauernd etwas an. Aber eigentlich auch nichts Schlimmeres als andere. Er gehorcht mir meist auch, aber mit einer spöttischen Nachsicht, so, als lohne es nicht, sich mit mir anzulegen — und das hat einen schlechten Einfluss auf die anderen. Ich habe alles versucht, ihn für mich einzunehmen, aber ich fürchte langsam, dass mir das nie gelingen wird. Ich möchte es, weil er ein kluges Kerlchen ist, Pye hin und her. Ich würde ihn gut leiden können, wenn er es nur zuließe.«

»Wahrscheinlich kriegt er zu Hause so einiges mit.«

»Nein. Anthony ist ein selbstständiger kleiner Bursche und bildet sich seine eigene Meinung. Er hat schon immer mehr von Männern gehalten und behauptet, Lehrerinnen taugten nichts. Nun ja, man wird sehen, was sich mit Geduld und Freundlichkeit machen lässt. Es liegt mir, Schwierigkeiten zu meistern, und Unterrichten ist wirklich hochinteressant. Paul Irving macht alles wieder wett, woran es bei den anderen hapert. Dieser Junge ist einfach ein Goldschatz, Gilbert, und ein Genie obendrein. Ich bin sicher, eines Tages wird man von ihm noch hören«, schloss Anne überzeugt.

»Mir macht die Schule auch Spaß«, sagte Gilbert. »Zum einen ist es ein gutes Training. Zum anderen, Anne, habe ich in den Wochen, seit ich in White Sands unterrichte, mehr gelernt als in all den Jahren, als ich selbst noch zur Schule ging. Wir scheinen alle ganz gut zurechtzukommen. Die Leute in Newbridge sind sehr zufrieden mit Jane, hat man mir erzählt, und ich glaube, White Sands ist auch leidlich zufrieden mit deinem treuen Freund - außer Mr. Andrew Spencer. Letzten Abend auf dem Nachhauseweg traf ich Mrs. Peter Blewett. Sie sagte, sie hielte es für ihre Pflicht, mich darüber in Kenntnis zu setzen, dass Mr. Spencer mit meinen Methoden nicht einverstanden wäre.«

»Ist dir schon einmal aufgefallen«, sagte Anne nachdenklich, »dass man sich am besten auf etwas Unangenehmes einstellt, wenn die Leute sagen, sie hielten es für ihre Pflicht, einem dies oder jenes mitzuteilen? Wieso halten sie es nicht für ihre Pflicht, einem die netten Dinge mitzuteilen, die sie über einen gehört haben? Gestern kam Mrs H. B. Donnell wieder bei der Schule vorbei und sagte, sie hielte es für ihre Pflicht, mir mitzuteilen, dass Mrs Harmon Andrews nicht damit einverstanden wäre, dass ich den Kindern Märchen vorlese. Und Mr Rogerson fände, Prillie käme im Rechnen nicht schnell genug voran. Würde Prillie über ihre Tafel hinweg denjungen nicht dauernd schöne Augen machen, käme sie auch schneller voran. Ich bin ziemlich sicher, dass Jack Gillis ihr die Rechenaufgaben ausrechnet, auch wenn ich ihn bisher noch nicht auf frischer Tat ertappen konnte.«

»Konntest du dich mit Mrs Donnells hoffnungsvollem Sohn wegen des frommen Namens einigen?«

»Ja«, lachte Anne, »aber es war einigermaßen schwierig. Zuerst beachtete er mich überhaupt nicht, wenn ich ihn mit >St. Clair< ansprach, bis ich es zwei-, dreimal wiederholt hatte. Und dann, wenn die anderen Jungen ihn anstupsten, sah er mich ganz gekränkt an, als hätte ich ihn John oder Charlie genannt. So, als ob er nun wirklich nicht wissen konnte, dass ich ihn gemeint hatte. Also rief ich ihn eines Nachmittags nach der Schule zu mir und redete freundlich mit ihm. Ich erklärte ihm, seine Mutter wünsche, dass ich ihn St. Clair nenne und dass ich mich ihren Wünschen nicht widersetzen könne. Er sah es ein, nachdem ich es ihm auseinander gelegt hatte - er ist wirklich sehr verständig. Er sagte, ich könne ihn St. Clair nennen, aber allen Jungen, die es wagten, ihn so zu nennen, würde er >das Maul stopfen<. Natürlich musste ich ihn dafür, dass er sich so unflätig ausdrückte, auch wieder rügen. Jetzt nenne ich ihn St. Clair, die Jungen nennen ihn Jake und alles verläuft reibungslos. Er möchte Zimmermann werden, aber Mrs Donnell sagt, ich hätte gefälligst einen College-Professor aus ihm zu machen.«

Das Wort College lenkte Gilberts Gedanken auf ein anderes Thema. Sie unterhielten sich eine Weile eingehend, ernst und hoffnungsvoll über ihre Pläne und Wünsche-wie junge Leute sich nun mal gern unterhalten, wobei die Zukunft noch ein unbetretener Pfad voll der wundervollsten Möglichkeiten ist.

Gilbert hatte sich endgültig entschieden und wollte Arzt werden. »Es ist ein wunderbarer Beruf«, sagte er voller Begeisterung. »Das menschliche Leben ist ein einziger Kampf - hat nicht einmal jemand den Menschen als ein kämpfendes Tier bezeichnet? Ich will Krankheiten, Schmerzen und Unwissenheit bekämpfen. Ich will meinen bescheidenen und aufrichtigen Anteil dazu beitragen, Anne, ein wenig zur Gesamtheit des Wissens hinzuzufügen, das die Menschheit seit den Anfängen zusammengetragen hat. Die Vorfahren haben so viel für mich getan, dass ich mich dankbar zeigen und etwas für diejenigen tun will, die nach mir leben. Für mich ist es der einzige Weg, seiner Verpflichtung der Menschheit gegenüber gerecht zu werden.«

»Ich möchte andere Menschen bereichern«, sagte Anne verträumt. »Ich will ihnen nicht unbedingt mehr Wissen beibringen, auch wenn das das höchste Streben ist, sondern ich möchte, dass sie durch mich eine angenehmere Zeit verleben, dass sie eine kleine Freude oder einen glücklichen Gedanken haben, was nie der Fall gewesen wäre, wäre ich nicht geboren worden.«

»Ich glaube, das erfüllst du Tag für Tag«, sagte Gilbert bewundernd. Er hatte Recht. Anne war von Geburt an ein Kind des Lichts. War sie mit einem Lächeln oder mit ein paar Worten, die wie ein Sonnenstrahl waren, in das Leben eines Menschen getreten, so war er beeindruckt. Denn dieser Augenblick war so hoffnungsvoll und schön und stand unter einem guten Stern.

Schließlich stand Gilbert voller Bedauern auf.

»So, ich muss schnell zu den MacPhersons hinüber. Moody Spurgeon ist heute aus Queen’s gekommen und bis Sonntag da. Er wollte mir ein Buch mitbringen, das Professor Boyd mir versprochen hat.«

»Und ich muss für Marilla Tee kochen. Sie ist heute Nachmittag zu Mrs Keith gegangen und wird bald zurückkommen.«

Anne hatte den Tee fertig, als Marilla nach Hause kam. Das Feuer knisterte munter, eine Vase mit ausgebleichten Farnblättern und rubinroten Ahornzweigen schmückte den Tisch und ein köstlicher Duft nach Schinken und Toast erfüllte den Raum. Aber Marilla sank mit einem tiefen Seufzer in den Stuhl.

»Tun dir die Augen weh? Hast du Kopfschmerzen?«, fragte Anne besorgt.

»Nein. Ich bin nur müde - und mache mir Sorgen. Wegen Mary und den Kindern. Mary geht es immer schlechter, sie wird nicht mehr lange durchhalten. Und was die Zwillinge angeht, ich weiß einfach nicht, was mit ihnen werden soll.«

»Hat man noch nichts von ihrem Onkel gehört?«

»Doch, Mary hat einen Brief von ihm bekommen. Er arbeitet in einem Holzwerk und >hackt Holz<, was immer das auch bedeutet. Jedenfalls schreibt er, er könne die Kinder unmöglich vor dem Frühjahr zu sich nehmen. Bis dahin wolle er sich verheiraten und hätte ein Zuhause für sie, aber den Winter über müsse sie die Nachbarn bitten, die Kinder bei sich aufzunehmen. Sie sagt, sie möge keinen darum bitten. Mary hat sich nie sonderlich gut mit den Leuten in East Grafton verstanden, das ist nun mal so. Der langen Rede kurzer Sinn, Anne: Mary will, dass ich die Kinder nehme. Sie hat das zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber sie hat ganz den Anschein erweckt.«

»Oh!« Anne faltete vor lauter Aufregung die Hände. »Du nimmst sie doch auf, Marilla, nicht wahr?«

»Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte Marilla ziemlich scharf. »Im Gegensatz zu dir stürze ich mich nicht Hals über Kopf in irgendwelche Dinge, Anne. Als Cousine dritten Grades hat man da keine Anrechte. Und es bedeutet eine große Verantwortung, sich um zwei Kinder von sechs Jahren zu kümmern - noch dazu Zwillinge.«

Marilla hatte die Vorstellung, dass Zwillinge doppelt so schlimm waren wie Einzelkinder.

»Zwillinge sind hochinteressant - zumindest ein einzelnes Zwillingspärchen«, sagte Anne. »Erst wenn man es mit zwei oder drei Zwillingspaaren zu tun hat, wird es eintönig. Ich fände es wirklich gut, wenn du Unterhaltung hättest, während ich in der Schule bin.«

»Das wird kaum sehr unterhaltsam sein - es bedeutet höchstens mehr Sorgen und Aufregungen, würde ich meinen. Es wäre nicht so ein Wagnis, wenn sie so alt wären wie du, als ich dich aufgenommen habe. Gegen Dora hätte ich ja nichts einzuwenden, sie ist brav und lieb. Aber dieser Davy ist ein Filou.«

Anne war vernarrt in Kinder und sie hatte Mitleid mit den Keith-Zwillingen. Sie erinnerte sich nur allzu lebhaft an ihre eigene vernachlässigte Kindheit. Sie wusste, dass sie Marilla nur bei ihrem strengen Pflichtgefühl packen konnte, also ging Anne geschickt nach diesem Grundsatz vor.

»Wenn Davy ungezogen ist, dann ist das nur umso mehr Grund, dass er eine gute Erziehung bekommt, nicht wahr, Marilla? Nehmen wir die Kinder nicht auf, wissen wir nicht, wer sie dann aufnimmt und welchen Einflüssen sie ausgesetzt werden. Angenommen, Mrs Keiths nächste Nachbarn, die Sprotts, würden sie zu sich nehmen. Mrs Lynde sagt, Henry Sprott sei der gottloseste Mensch, der je gelebt hat, und seinen Kindern könne man nicht ein Wort glauben. Stelle dir einmal vor, die Zwillinge würden auch so werden! Oder mal angenommen, sie kämen zu den Wiggins. Mrs Lynde sagt, Mr Wiggins verkaufe alles, was auf der Farm nicht niet- und nagelfest ist, und ernähre seine Familie mit entrahmter Milch. Du würdest doch nicht wollen, dass deine Verwandten Hungers sterben, auch wenn es nur Verwandte dritten Grades sind, nicht wahr? Ich finde, Marilla, es ist unsere Pflicht, sie aufzunehmen.«

»Ich denke auch«, stimmte Marilla nachdenklich zu. »Dann werde ich Mary also sagen, dass ich die Kinder aufnehme. Du brauchst gar nicht so begeistert dreinzusehen, Anne. Für dich heißt das eine ganze Menge zusätzlicher Arbeit. Ich mit meinen Augen kann nicht einen Stich nähen, also musst du dich um ihre Sachen kümmern und sie flicken. Aber du nähst ja nicht gern.«

»Ich hasse es«, sagte Anne ruhig, »aber wenn du bereit bist, aus Pflichtgefühl die Kinder aufzunehmen, dann werde ich ja wohl auch aus Pflichtgefühl ihre Sachen nähen können. Es tut einem gut, Dinge tun zu müssen, die man nicht gern tut - in Maßen jedenfalls.«

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