19 - Ein rundum traumhafter Tag

»Eigentlich sind die schönsten und herrlichsten Tage nicht die, an denen etwas Großartiges, Wundervolles oder Aufregendes geschieht, sondern die, die einem still und leise ein paar kleine Freuden bringen, wie Perlen, die von einer Schnur gleiten«, hatte Anne einmal zu Marilla gesagt.

Das Leben auf Green Gables bescherte ihr viele solcher Tage, denn Annes Erlebnisse und Missgeschicke geschahen nicht alle auf einmal, sondern waren wie bei jedem anderen auch über das Jahr verteilt. Dazwischen gab es unbeschwerte Tage, erfüllt mit Arbeit, Träumen, Lachen und Lernen. Genau so einen Tag gab es gegen Ende August. Am Vormittag ruderten Anne und Diana mit den begeisterten Zwillingen übers Meer zu den Dünen, um »Ruchgras« zu pflücken und in der Brandung zu planschen, über die hinweg der Wind ein uraltes Harfenlied aus den Anfängen der Erde spielte.

Am Nachmittag ging Anne hinunter zu den Irvings, um Paul zu besuchen. Er lag ausgestreckt auf dem grasbedeckten Wall neben dem dichten Tannenwald, der an der Nordseite dem Haus Schutz bot, und war in ein Märchenbuch vertieft. Als er Anne bemerkte, sprang er freudestrahlend auf.

»Schön, dass Sie kommen«, begrüßte er sie ungeduldig. »Großmutter ist nämlich nicht da. Sie bleiben doch zum Tee? Es ist so einsam, ganz allein Tee zu trinken. Sie verstehen schon. Ich habe ernsthaft überlegt, ob ich Mary Joe frage, ob sie mir Gesellschaft leistet, aber Großmutter wäre das nicht recht. Sie sagt, diese Franzosen müssen die Schranken gewiesen bekommen. Und überhaupt man kann sich nicht gut mit ihr unterhalten. Sie kichert immer nur und so was stelle ich mir nicht unter einer Unterhaltung vor.«

»Ich bleibe gern zum Tee«, sagte Anne fröhlich. »Ich habe mir sehnlichst gewünscht, dazu eingeladen zu werden. Seit ich einmal hier zu Besuch war, läuft mir bei dem Gedanken an den Butterkuchen von deiner Großmutter jedes Mal das Wasser im Mund zusammen.«

Paul verzog keine Miene.

»Wenn es nach mir ginge«, sagte er, steckte die Hände in die Taschen und sah Anne plötzlich bekümmert an, »könnten Sie liebend gern Butterkuchen bekommen. Aber es geht nach Mary Joe. Großmutter hat zu ihr gesagt, ehe sie fortging, sie solle mir keinen Kuchen geben, er läge kleinen Jungen zu schwer im Magen. Aber vielleicht schneidet Mary Joe Ihnen ein Stück ab, wenn Sie versprechen, dass ich nichts davon abbekomme. Hoffen wir das Beste.«

»Ja«, stimmte Anne zu, »und wenn Maryjoe hartherzig bleibt und mir keinen Butterkuchen gibt, macht das auch nichts. Also brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen.«

»Es macht Ihnen bestimmt nichts aus?«, fragte Paul besorgt. »Überhaupt gar nichts, mein Herz.«

»Dann zerbreche ich mir nicht den Kopf«, sagte Paul und holte vor Erleichterung tief Luft. »Maryjoe lässt sich bestimmt nicht erweichen. Nicht dass sie von Natur aus so vernünftig wäre, aber sie weiß aus Erfahrung, dass man sich Großmutters Anordnungen besser nicht widersetzt. Großmutter ist prima, wenn man tut, was sie sagt. Sie hatte heute Morgen ihre helle Freude an mir, weil ich endlich einen ganzen Teller voll Porridge aufgegessen habe. Es war eine Riesenanstrengung, aber es hat geklappt. Großmutter meint, sie schafft es doch noch, einen Mann aus mir zu machen, ich muss Sie etwas Wichtiges fragen. Sie werden ehrlich antworten, ja?«

»Ich werde es versuchen«, versprach Anne.

»Meinen Sie, ich wäre nicht ganz richtig im Kopf?«, fragte Paul, so als hinge sein Leben von ihrer Antwort ab.

»Du meine Güte, Paul«, rief Anne erstaunt. »Natürlich bist du das. Wer hat dich denn darauf gebracht?«

»Mary Joe, aber sie weiß nicht, dass ich es mitbekommen habe. Gestern Abend hat Mrs Peter Sloanes Mädchen, Veronica, Mary Joe besucht. Als ich über den Flur ging, habe ich gehört, wie sie sich in der Küche unterhielten. Mary Joe sagte: >Dieser Paul ist der merkwürdigste Junge der Welt. Er redet so eigenartiges Zeug. Ich glaube, er ist nicht ganz richtig im Kopf.< Ich konnte deswegen heute Nacht lange nicht einschlafen und habe mich gefragt, ob Mary Joe Recht hat. Großmutter mag ich nicht fragen. Da habe ich beschlossen, Sie zu fragen. Ich bin ja so froh, dass Sie meinen, ich ticke doch richtig.«

»Natürlich tust du das, Mary Joe ist ein albernes dummes Mädchen. Du brauchst dir über ihr Geschwätz keine Gedanken zu machen«, sagte Anne entrüstet und beschloss Mrs Irving heimlich einen Wink zu geben, Mary Joe täte gut daran, ihre Zunge im Zaum zu halten. »Da fällt mir ein Stein vom Herzen«, sagte Paul. »Jetzt bin ich rundum glücklich — dank Ihnen. Es wäre nicht gerade schön, nicht ganz richtig im Kopf zu sein, nicht wahr? Ich glaube, Mary Joe kommt darauf, weil ich ihr manchmal erzähle, was ich so denke.«

»Das ist allerdings eine gefährliche Angewohnheit«, stimmte Anne aus ureigenster Erfahrung zu.

»Ich erzähle Ihnen nachher, was ich Mary Joe erzählt habe. Dann können Sie selbst urteilen, ob es merkwürdige Geschichten sind«, sagte Paul. »Aber ich warte damit, bis es dunkel wird. Dann kann ich es immer kaum noch aushalten und muss erzählen. Wenn niemand sonst da ist, muss ich sie eben Mary Joe erzählen. Aber ab jetzt werde ich das nicht mehr tun, wo sie mich für nicht ganz richtig im Kopf hält.«

»Wenn du es gar nicht mehr aushalten kannst, kommst du nach Green Gables und erzählst sie mir«, schlug Anne in vollem Ernst vor, weshalb die Kinder, die so gern ernst genommen sein wollen, sie auch ins Herz schlossen.

»Ja, aber hoffentlich ist Davy nicht da, wenn ich komme, weil er mir immer Grimassen schneidet. Sehr viel macht es mir nicht aus, weil er noch so klein ist und ich schon größer bin, aber schön ist es auch nicht. Und was für Grimassen er einem schneidet! Manchmal habe ich Angst, sein Gesicht bleibt so verzerrt. Er schneidet mir auch immer in der Kirche Grimassen, wo ich eigentlich an fromme Dinge denken sollte. Dora kann ich gut leiden, sie mich auch. Aber ich kann sie nicht mehr so gut leiden wie früher, weil sie zu Minnie May Barry gesagt hat, dass sie mich heiraten will, wenn ich groß bin. Vielleicht heirate ich ja mal, aber jetzt bin ich noch viel zu jung dazu, um mir darüber Gedanken zu machen, finden Sie nicht auch?«

»Ziemlich jung«, stimmte Anne zu.

»Wo wir gerade vom Heiraten sprechen, das erinnert mich an etwas, was mich neulich beschäftigt hat«, fuhr Paul fort. »Mrs Lynde hat irgendwann letzte Woche Großmutter zum Tee besucht. Großmutter wollte, dass ich ihr ein Bild von meiner Mutter zeige - das, welches mein Vater mir zum Geburtstag geschickt hat. Eigentlich wollte ich es Mrs Lynde nicht zeigen. Mrs Lynde ist eine gute und nette Frau, aber sie gehört nicht zu den Menschen, denen man das Bild seiner Mutter zeigen möchte. Sie verstehen schon. Natürlich habe ich Großmutter gehorcht. Mrs Lynde sagte, meine Mutter sähe sehr hübsch aus, aber auch etwas aufgedonnert, und dass sie ein ganzes Stück jünger gewesen sein müsste als mein Vater'. Dann sagte sie noch: irgendwann wird dein Vater sicher wieder heiraten. Was hältst du von einer Stiefmutter, Paul?< Allein bei der Vorstellung blieb mir fast die Luft weg. Aber das habe ich mir Mrs Lynde gegenüber nicht anmerken lassen. Ich habe ihr offen ins Gesicht gesehen — genau so — und gesagt: >Mrs. Lynde, mein Vater hat es ganz ordentlich gemacht, als er meine Mutter ausgesucht hat. Ich vertraue ihm, dass er auch beim zweiten Mai eine ebenso gute Wahl trifft.< Ich kann ihm vertrauen, Miss Shirley. Aber trotzdem, falls ich je eine Stiefmutter bekomme, hoffe ich, dass er mich rechtzeitig um meine Meinung fragt. Da kommt Mary Joe, um uns zum Tee zu rufen. Ich gehe hin und befrage sie wegen des Butterkuchens.«

Das Ergebnis der »Befragung« war, dass Mary Joe den Kuchen aufschnitt und noch einen Teller mit Kompott dazustellte. Anne goss Tee ein. Die beiden hielten fröhlich Mahlzeit in dem dunklen alten Wohnzimmer, in dem die Fenster offen standen und Meerwind hereinwehte. Sie redeten so viel »Unsinn«, dass Mary Joe ganz schockiert war und am nächsten Abend Veronica erzählte, die Lehrerin sei genauso merkwürdig wie Paul. Nach dem Tee nahm Paul Anne mit in sein Zimmer, um ihr das Bild von seiner Mutter zu zeigen, das geheimnisvolle Geburtstagsgeschenk, das Mrs Irving im Bücherschrank aufbewahrt hatte. Pauls kleines niedriges Zimmer war erfüllt vom rötlichen Licht der Sonne, die über dem Meer unterging, und von tanzenden Schatten von den Tannen, die dicht neben dem viereckigen tief liegenden Fenster standen. In diesem sanften Schein und Zauber erstrahlte ein schönes Mädchengesicht mit zärtlichen mütterlichen Augen auf einem Bild an der Wand über dem Fußende des Bettes.

»Das ist meine Mutter«, sagte Paul liebevoll und stolz. »Ich habe Großmutter gebeten, es so aufzuhängen, dass ich es gleich morgens beim Aufwachen sehe. Jetzt macht es mir nichts mehr aus, dass ich abends beim Zubettgehen keine Kerze habe, weil es mir vorkommt, als wäre meine Mutter hier bei mir. Vater wusste, was ich mir zum Geburtstags wünschte, obwohl er mich nie gefragt hat. Ist es nicht toll, was Väter ahnen?«

»Deine Mutter war hübsch, Paul. Du hast Ähnlichkeit mit ihr. Aber ihre Augen und Haare sind dunkler als deine.«

»Ich habe dieselbe Augenfarbe wie mein Vater«, sagte Paul, stürmte durchs Zimmer und legte sämtliche Kissen auf einen Haufen unterhalb des Fensters. »Aber mein Vater hat graue Haare. Er hat dichtes Haar, aber er ist grau. Er ist fast fünfzig, müssen Sie wissen. Das ist ein reifes Alter, nicht wahr? Aber er ist nur äußerlich alt. Innerlich ist er jung wie nur was. So, Miss Shirley, bitte setzen Sie sich hierhin. Ich setze mich zu Ihren Füßen. Darf ich den Kopf an Ihr Knie lehnen? So haben meine Mutter und ich immer dagesessen. Ah, so ist es schön.«

»Jetzt würde ich gern die Geschichte hören, die Mary Joe so merkwürdig fand«, sagte Anne und streichelte Pauls Lockenkopf. Paul musste nie dazu überredet werden, seine Gedanken mitzuteilen - jedenfalls nicht von einer verwandten Seele.

»Ich habe mir die Geschichte eines Abends im Tannenwäldchen ausgedacht«, sagte er verträumt. »Natürlich habe ich sie nicht geglaubt, aber ausgemalt habe ich sie mir. Sie verstehen schon. Ich wollte sie jemandem erzählen, aber niemand war da, außer Mary Joe. Mary Joe war in der Speisekammer und backte Brot. Ich habe mich auf die Bank gesetzt und gesagt: >Mary Joe, weißt du, was ich denke? Ich denke, der Abendstern ist ein Leuchtturm im Land, in dem die Feen wohnen.< Mary Joe sagte: >Du bist merkwürdig. Es gibt keine Feen.< Ich war ganz ärgerlich. Sicher wusste ich, dass es keine Feen gibt, aber deswegen kann ich mir doch vorstellen, es gäbe sie. Sie verstehen schon. Geduldig versuchte ich es noch einmal. >Also, Mary Joe, weißt du, was ich denke? Ich denke, dass nach Sonnenuntergang ein Engel über die Erde geht - ein riesengroßer weißer Engel mit silbrigen zusammengefalteten Flügeln - und die Blumen und Vögel in den Schlaf singt. Kinder können ihn hören, wenn sie es nur verstehen, ihm zu lauschen.< Da hob Mary Joe die ganz mit Mehl bedeckten Hände und sagte: >Hm, du bist ein seltsamer Junge. Du machst mir Angst.< Sie sah wirklich ganz verängstigt aus. Ich ging hinaus und erzählte flüsternd alle meine Gedanken dem Garten. Im Garten stand eine kleine absterbende Birke. Großmutter sagt, es käme von der salzigen Gischt. Aber ich glaube, die Dryade, die darin wohnte, war so dumm, ging hinaus in die Welt und verschwand. Der kleine Baum war so einsam, dass er an gebrochenem Herzen starb.«

»Und wenn die dumme kleine Dryade die Welt satt hat und zu ihrem Baum zurückkommt, wird es ihr das Herz brechen«, sagte Anne.

»Ja, aber wenn Dryaden so dumm sind, müssen sie auch mit den Folgen leben, so wie die Menschen«, sagte Paul ernst. »Wissen Sie, was ich über den Neumond denke? Ich denke, er ist ein goldenes Boot voller Träume.«

»Und wenn er eine Wolke berührt, werden ein paar Träume verschüttet und fallen in deinen Schlaf.«

»Genau! Oh, Sie verstehen das. Und Veilchen sind kleine Schnipsel vom Himmel, die heruntergefallen sind, als die Engel Löcher hineinschnitten, durch die hindurch die Sterne leuchten. Und Butterblumen bestehen aus altem Sonnenschein. Und Erbsen verwandeln sich im Himmel zu Schmetterlingen. Nun, finden Sie meine Einfälle merkwürdig?«

»Nein, mein Kleiner, sie sind überhaupt nicht merkwürdig. Sie sind ungewöhnlich und schön für einen kleinen jungen. Also halten Leute, denen selbst nie so etwas einfallen könnte, und wenn sie es hundertjahre lang versuchten, sie für merkwürdig. Aber lass dich nicht davon abbringen, Paul, eines Tages wirst du bestimmt noch ein Dichter.«

Als Anne zu Hause ankam, wartete ein völlig anders gearteter Junge darauf, ins Bett gebracht zu werden. Davy schmollte. Als Anne ihn ausgezogen hatte, sprang er ins Bett und vergrub das Gesicht in den Kissen.

»Davy, du hast vergessen zu beten«, wies Anne ihn zurecht.

»Nein, hab ich nicht vergessen«, sagte Davy trotzig, »ich bete nicht mehr. Ich strenge mich auch nicht mehr an, brav zu sein, weil du Paul Irving sowieso lieber magst, egal wie brav ich bin. Also kann ich mich genauso gut schlecht benehmen und hab wenigstens meinen Spaß.«

»Ich mag Paul Irving nicht lieber«, sagte Anne ernst. »Ich habe dich genauso gern, nur auf eine andere Art.«

»Aber ich will, dass du mich auf dieselbe Art gern hast«, sagte Davy schmollend.

»Man kann verschiedene Menschen nicht auf dieselbe Art mögen. Du hast Dora und mich auch nicht auf dieselbe Art gern, nicht wahr?« Davy setzte sich auf und dachte nach.

»N-n-nein«, gestand er schließlich. »Dora mag ich, weil sie meine Schwester ist, dich mag ich, weil du du bist.«

»Ich mag Paul, weil er Paul ist, und Davy, weil er Davy ist«, sagte Anne vergnügt.

»Hm, dann hätte ich wohl besser doch gebetet«, sagte Davy überzeugt von dieser Logik. »Aber es ist zu lästig, jetzt extra noch mal aufzustehen. Dafür bete ich morgen früh zweimal, Anne. Geht das nicht genauso gut?«

Nein, Anne wusste entschieden, dass das nicht genauso gut ging. Also kroch Davy aus dem Bett und kniete sich neben sie hin. Nachdem er sein Gebet aufgesagt hatte, lehnte er sich auf seine bloßen braunen Fersen zurück und sah zu ihr hoch.

»Anne, ich hab mich gebessert im Vergleich zu früher.«

»Ja, das stimmt, Davy«, sagte Anne, die mit Lob nicht geizte, wenn ein Lob am Platze war.

»Ich weiß es«, sagte Davy überzeugt, »ich sag dir auch, wieso. Heute hat Manila mir zwei Scheiben Brot mit Marmelade gegeben, eine für mich und eine für Dora. Die eine war viel größer. Marilla hat nicht gesagt, welche für mich ist. Also ich habe die größere Scheibe Dora gegeben. Das war doch gut von mir, nicht wahr?«

»Sehr gut und sehr anständig, Davy.«

»Klar«, gab Davy zu, »Dora hat keinen großen Hunger. Sie hat nur eine halbe Scheibe gegessen und mir den Rest gegeben. Aber das konnte ich ja vorher nicht wissen, also war es gut von mir, Anne.«

In der Dämmerung schlenderte Anne an den Nymphenteich und sah Gilbert Blythe den finsteren Geisterwald entlangkommen. Plötzlich wurde ihr klar, dass Gilbert kein Schuljunge mehr war. Wie erwachsen er aussah - ein großer, offenherziger Mann mit klaren, aufrichtigen Augen und breiten Schultern. Anne fand Gilbert durchaus ansehnlich, auch wenn er nichts mit ihrem Traummann gemein hatte. Vor langer Zeit hatten Diana und sie sich überlegt, wie ihr Traummann sein müsste. Sie hatten genau gleiche Vorstellungen gehabt. Er musste groß sein, blendend aussehen, melancholische, unergründliche Augen und eine weiche, sympathische Stimme haben. Gilbert hatte weder etwas Melancholisches noch Unergründliches, aber bei einer bloßen Freundschaft spielte das natürlich keine Rolle!

Gilbert streckte sich im Farn neben dem Teich aus und sah Anne zustimmend an. Hätte man Gilbert nach seiner Traumfrau gefragt, seine Beschreibung hätte Punkt für Punkt auf Anne zugetroffen - auch auf die sieben winzigen Sommersprossen, die Anne abscheulicherweise immer noch Verdruss bereiteten. Gilbert hatte noch immer etwas Jungenhaftes. Und ein Junge hat wie jeder andere auch seine Träume. Gilbert träumte stets von einem Mädchen mit großen graugrünen Augen und einem Gesicht so fein und zart wie eine Blume. Er hatte sich entschieden und wollte sich der Angebeteten würdig zeigen. Sogar im ruhigen Avonlea sah man sich Versuchungen ausgesetzt. Die Jugendlichen von White Sands waren ein »flottes Völkchen« und Gilbert war überall beliebt. Aber er wollte sich Annes Freundschaft erhalten - und eines fernen Tages vielleicht ihre Liebe. Erwachte so eifersüchtig auf jedes Wort, jeden Gedanken und jede Handlung, als ob ihr ungetrübter Blick ein Urteil darüber ablegte. Sie übte unbewusst auf ihn den Einfluss aus, wie ihn jedes Mädchen mit hohen und hehren Idealen auf seine Freunde ausübt. Ein Einfluss, der so lange währen würde, wie sie ihren Idealen treu blieb und den sie so gewiss verlieren würde, war sie auch nur ein einziges Mal unaufrichtig ihnen gegenüber. Gilbert war von Anne vor allem deswegen angezogen, weil sie sich nicht wie so viele andere Mädchen in Avonlea zu irgendwelchen Tändeleien hergab - kleine Eifersüchteleien, kleine Ränkeleien und Rivalitäten, all die unverkennbaren Bemühungen um Gunst. Anne hielt sich von alldem fern, nicht bewusst oder absichtlich, sondern einfach weil es ihrer offenen gefühlsbetonten Natur - kristallklar in ihren Beweggründen und ihrem Bestreben -völlig fremd war.

Aber Gilbert fasste seine Gedanken nicht in Worte, denn er wusste nur allzu gut, dass Anne kühl und gnadenlos jeden Versuch, über ihre Gefühle zu sprechen, im Keim ersticken würde - oder ihn auslachte, was zehnmal schlimmer war.

»Du siehst wie eine richtige Dryade aus, wie du so unter der Birke liegst«, neckte er sie.

»Ich mag Birken«, sagte Anne und legte auf ihre natürliche Art die Wange anmutig liebkosend an den cremefarbenen schlanken Baumstamm.

»Dann wirst du mit Freude vernehmen, dass Mr Major Spencer an der ganzen Vorderseite entlang seiner Farm eine Reihe Weißbirken pflanzen will, um damit den D.V.V. zu unterstützen«, sagte Gilbert. »Er hat es mir heute erzählt. Major Spencer hat den größten Gemeinsinn und ist am fortschrittlichsten von allen in ganz Avonlea. Mr. William Bell will entlang der Vorderseite seiner Farm und den Weg zu ihm hinauf eine Hecke anpflanzen. Unser Verein macht prächtige Fortschritte, Anne. Wir sind aus der Versuchsphase heraus und werden akzeptiert. Die älteren Leute fangen auch an, sich dafür zu interessieren, und die Bewohner von White Sands überlegen, ob sie nicht auch einen Verein gründen sollen. Sogar Elisha Wright lenkt ein, seit die Amerikaner aus dem Hotel unten am Strand gepicknickt haben. Sie waren voll des Lobes über unsere Wegränder und sagten, sie wären viel schöner als sonst wo auf der Insel. Wenn die anderen Farmer Mr. Spencers gutem Beispiel folgen und Zierbäume und Hecken entlang der Straßen anpflanzen, wird Avonlea der schönste Ort der ganzen Provinz.«

»Das Hilfswerk will sich vielleicht um den Friedhof kümmern«, sagte Anne. »Ich hoffe es, denn dazu müssen sie eine Spendenaktion starten. Nach der Saalgeschichte hätte es keinen Zweck, wenn wir das übernähmen. Aber sie wären nie darauf gekommen, hätten wir sie nicht darauf gebracht. Die Bäume, die wir bei der Kirche gepflanzt haben, gedeihen, und die Schulbehörden haben zugesagt, dass sie nächstes Jahr einen Zaun um die Schule errichten werden. Wenn sie das Versprechen wahrmachen, werde ich einen Baumpflanztag abhalten, an dem jeder Schüler einen Baum pflanzt. In der Ecke zur Straße hin legen wir einen Garten an.«

»Wir haben bisher mit fast allen unseren Vorhaben Erfolg gehabt, bis auf den Abriss des alten Boulter’schen Hauses«, sagte Gilbert. »In dem Fall habe ich alle Hoffnung aufgegeben. Levi reißt es nicht ab, nur um uns zu ärgern. Alle Boulters sind störrisch und er ganz besonders.«

»Julia Bell will eine Abordnung zu ihm schicken, aber ich halte es für besser, ihn einfach links liegen zu lasen«, sagte Anne klug.

»Und auf Gottes Fügung zu vertrauen, wie Mrs Lynde zu sagen pflegt«, lächelte Gilbert. »Völlig richtig, keine weiteren Abordnungen hinschicken. Das bringt ihn nur auf die Palme. Julia Bell meint, mit einer Abordnung könne man alles erreichen. Nächstes Frühjahr, Anne, müssen wir eine neue Kampagne für gepflegte Grünflächen und Anlagen starten. Wir müssen rechtzeitig diesen Winter einsäen. Ich habe hier einen Bericht über Grünflächen und wie man sie anlegt. Ich werde zu dem Thema demnächst etwas ausarbeiten. Tja, unsere Ferien sind fast um. Montag fängt die Schule an. Hat Ruby Gillis die Stelle an der Schule in Carmody bekommen?«

»Ja, Priscilla hat geschrieben, dass sie an ihrer Heimatschule eine Stelle bekommen hat. Also hat die Schulbehörde von Carmody Ruby die Stelle angeboten. ich finde es schade, dass Priscilla nicht wieder herkommt. Aber da es nicht geht, freue ich mich für Ruby. Sie kommt samstags nach Hause. Es ist wie in alten Zeiten, jetzt, wo Ruby, Jane, Diana und ich wieder zusammen sind.«

Marilla, die gerade von Mrs Lynde zurückkam, setzte sich mit Anne auf die Stufe der hinteren Veranda, als Anne zum Haus zurückkehrte. »Rachel und ich haben für morgen unseren Stadtbummel geplant«, sagte sie. »Mr Lynde geht es diese Woche besser. Sie möchte in die Stadt fahren, bevor er wieder krank wird.«

»Ich will morgen ganz früh aufstehen, weil ich viel vorhabe«, sagte Anne. »Zum einen will ich die Federn aus meinem alten Bett in das neue füllen. Ich hätte das schon längst tun sollen, aber ich habe es dauernd vor mir hergeschoben - ich hasse diese Arbeit. Es ist wirklich eine schlechte Angewohnheit, Unangenehmes aufzuschieben. Ich werde es auch nicht wieder tun, wie kann ich es sonst ruhigen Gewissens von meinen Schülern verlangen. Das beißt sich. Zum anderen will ich einen Kuchen für Mr Harrison backen, meine Ausarbeitung für den D.V.V. über Gärten fertig stellen, an Stella schreiben, mein Musselinkleid waschen und stärken und Dora die neue Schürze nähen.«

»Davon schaffst du nicht die Hälfte«, sagte Marilla pessimistisch. »Ich habe noch nie groß vorher Pläne gemacht, weil mir sowieso immer etwas dazwischenkommt.«

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