09 - Eine Frage der Farbe

»Heute war diese alte Nervensäge Rachel Lynde wieder hier und hat auf mich eingeredet wegen einer Spende für einen Teppich für die Sakristei«, sagte Mr Harrison grimmig. »Ich hasse diese Frau mehr als sonstwas. Sie versteht es, einem in nur sechs Worten eine ganze Predigt, den Bibeltext, die Auslegung und die praktische Anwendung vorzuhalten und wie einen Ziegelstein vor die Füße zu werfen.« Anne, die an der Ecke der Veranda saß und den milden Westwind genoss, der an diesem grauen Novemberabend über das frisch gepflügte Feld blies und in den eng stehenden Tannen unterhalb des Gartens eine hübsche kleine Melodie erklingen ließ, sah verträumt über die Schulter.

»Der Haken ist nur, dass Sie und Mrs Lynde einander nicht verstehen«, erklärte sie. »Das ist immer der springende Punkt, wenn Leute sich nicht leiden können. Ich mochte Mrs Lynde zuerst auch nicht. Aber als ich sie erst einmal verstand, änderte sich das.«

»Mrs Lynde mag ja nach mancher Leute Geschmack sein ... aber mir hat man auch mal gesagt, ich würde schon auf den Geschmack von Bananen kommen, wenn ich sie nur weiter äße«, knurrte Mr Harrison. »Und ich mag bis heute keine Bananen. Verständnis hin oder her, so viel steht fest: Überall muss sie ihre Finger drinhaben und das habe ich ihr auch gesagt.«

»Das muss sie sehr getroffen haben«, sagte Anne vorwurfsvoll. »Wie konnten Sie das nur sagen! Ich habe vor langer Zeit auch einmal so hässliche Dinge zu Mrs Lynde gesagt, aber da war ich wütend. Ich konnte gar nicht überlegen, was ich sagte.«

»Es war die Wahrheit. Ich halte es nun einmal für richtig, jedem die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.«

»Aber Sie sagen nicht die ganze Wahrheit«, wandte Anne ein. »Sie sagen nur das Unangenehme. Mir haben Sie schon ein dutzendmal gesagt, dass ich rote Haare habe, aber nicht ein einziges Mal, dass ich eine schöne Nase habe.«

»Das wissen Sie selbst, also muss ich es nicht extra noch betonen«, lachte Mr Harrison.

»Ich weiß auch, dass ich rote Haare habe — obwohl es schon viel dunkler ist als früher -, also brauchen Sie das auch nicht zu betonen.«

»Hm, schon gut, ich werde mich bemühen und es nicht noch mal erwähnen, wenn Sie so empfindlich sind. Sie müssen entschuldigen, Anne. Ich habe nun mal die Angewohnheit und nehme kein Blatt vor den Mund. Man darf sich eben nichts daraus machen.«

»Aber man macht sich etwas daraus. Ich glaube auch nicht, dass es etwas nützt, wenn man weiß, dass das eine Angewohnheit von Ihnen ist. Was würden Sie von jemand halten, der den Leuten unablässig Nadeln ins Fleisch bohrt und sagt: Entschuldigen Sie, Sie müssen sich nichts daraus machen - es ist nur so eine Angewohnheit von mir.< Sie würden so jemand für verrückt halten, nicht wahr? Was Mrs Lynde und ihre Betriebsamkeit angeht - vielleicht haben Sie Recht. Aber haben Sie ihr auch gesagt, dass sie ein weites Herz hat und immer den Armen hilft? Dass sie auch nie ein Wort darüber verloren hat, als Timothy Cotton ein Fass Butter aus ihrer Milchkammer gestohlen und seiner Frau erzählt hat, er hätte die Butter von Mrs Lynde gekauft? Mrs Cotton hat ihr das nächste Mal, als sie sich trafen, sogar vorgeworfen, die Butter schmecke nach Steckrüben. Mrs Lynde hat nur gesagt, es täte ihr Leid, dass die Butter verdorben gewesen wäre.«

»Mag schon sein, dass sie ein paar gute Eigenschaften hat«, räumte Mr Harrison widerstrebend ein. »Haben die meisten. Ich selbst auch, auch wenn Sie das nie vermutet hätten. Trotzdem, für diesen Teppich gebe ich nichts. Ständig wird man von den Leuten hier um Geld angebettelt, so kommt es mir jedenfalls vor. Wie geht es mit Ihrem Plan, den Saal zu streichen, voran?«

»Prächtig. Letzten Freitagabend hatten wir ein Treffen vom D.V.V. und haben festgestellt, dass wir genügend Geld zusammen haben, um den Saal streichen und das Dach decken zu lassen. Die meisten Leute haben sehr großzügig gespendet, Mr Harrison.«

Anne war ein entzückendes Mädchen, aber wenn die Gelegenheit es forderte, konnte sie mit der unschuldigsten Miene giftig sein. »Welche Farbe soll er bekommen?«

»Wir haben uns für ein sehr hübsches Grün entschieden. Das Dach wird natürlich dunkelrot. Mr Roger Pye besorgt die Farbe heute in der Stadt.«

»An wen wurde die Arbeit vergeben?«

»An Mr Joshua Pye aus Carmody. Das Dach ist schon fast fertig. Wir mussten die Arbeit an ihn vergeben, weil sämtliche Pyes - bekanntlich gibt es vier davon - sagten, sie würden nicht einen Cent spenden, wenn nicht Joshua den Auftrag bekäme. Sie hatten sich untereinander auf eine Spende von zwölf Dollar geeinigt und so viel Geld wollten wir nicht aufs Spiel setzen, obwohl manche Leute meinen, wir hätten den Pyes nicht nachgeben sollen. Mrs Lynde sagt, sie würden sich alles unter den Nagel reißen.«

»Hauptsache, dieser Joshua macht seine Arbeit gut. Wenn ja, weiß ich nicht, was es zur Sache tut, ob er nun Pye oder Pudding heißt.«

»Angeblich leistet er gute Arbeit, auch wenn die Leute sagen, er sei sehr merkwürdig. Er ist nicht sehr gesprächig.«

»Dann ist er allerdings merkwürdig«, sagte Mr Harrison trocken. »Zumindest in den Augen der Leute hier. Ich war auch nie sonderlich gesprächig, bis ich nach Avonlea kam. Hier musste ich mich mit Händen und Füßen zur Wehr setzen, sonst hätte Mrs Lynde behauptet, ich sei stumm, und eine Spendenaktion gestartet, um mir die Zeichensprache beizubringen. Sie gehen doch noch nicht, Anne?«

»Doch. Ich muss noch ein paar von Doras Sachen ausbessern. Außerdem macht Davy inzwischen bestimmt irgendwelchen Unfug und fällt Marilla auf die Nerven. Heute morgen war seine erste Frage: Wohin verschwindet die Nacht, Anne? Das will ich wissen.« Ich sagte ihm, sie wandere auf die andere Seite der Erde. Aber nach dem Frühstück verkündete er, das stimme nicht - sie tauche in den Brunnen hinab. Marilla sagt, sie habe ihn heute schon viermal dabei erwischt, wie er sich über den Brunnenrand beugte und versuchte, bis zur Nacht hinabzureichen.«

»Er ist ein Schlawiner«, erklärte Mr Harrison. »Gestern war er hier und hat Ginger sechs Federn aus dem Schwanz gerupft, noch ehe ich schnell genug aus der Scheune hier war. Seither sitzt der Vogel apathisch da. Diese Kinder machen euch bestimmt noch einen Haufen Sorgen.«

»Alles, was lohnt, dass man es hat, bereitet auch Sorgen«, sagte Anne, die insgeheim entschlossen war, Davy sein nächstes Vergehen, was immer es auch sein mochte, zu verzeihen, weil er sie an Ginger gerächt hatte.

Mr Roger Pye brachte an dem Abend die Farbe für den Saal mit und Mr Joshua Pye, ein griesgrämiger, wortkarger Mann, begann am nächsten Tag mit dem Streichen. Er wurde bei seiner Arbeit nicht gestört. Der Saal lag an der so genannten »unteren« Straße. Im Spätherbst war diese Straße mit schöner Regelmäßigkeit schlammig und voller Pfützen. Alle, die nach Carmody wollten, nahmen die weitere »obere« Straße. Der Saal war so dicht von Tannen umstanden, dass man ihn erst sah, wenn man davorstand. Mr Joshua Pye malte allein und ungestört vor sich hin, wie es ihm in seiner ungeselligen Art am liebsten war.

Freitagnachmittag war er fertig und kehrte zurück nach Carmody. Kurz nach seiner Abfahrt fuhr Mrs Rachel Lynde am Saal vorbei. Sie hatte sich wacker durch die schlammige untere Straße gekämpft und war neugierig, wie der Saal wohl aussah in dieser neuen Farbe. Als sie um die Kurve des Fichtenwaldes bog, sah sie es.

Der Anblick, der sich ihr bot, fuhr Mrs Lynde in alle Knochen. Sie ließ die Zügel sinken, riss die Hände hoch und sagte: »Gütiger Himmel!« Sie starrte darauf, als könne sie ihren Augen nicht trauen. Dann brach sie in ein fast hysterisches Lachen aus.

»Da muss etwas schief gelaufen sein ... kann gar nicht anders sein. Ich wusste gleich, diese Pyes machen Pfusch.«

Mrs Lynde fuhr nach Hause. Auf dem Weg traf sie mehrere Leute, denen sie sofort von der Sache mit dem Saal erzählte. Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Gilbert Blythe, der zu Hause saß und ein Lehrbuch studierte, erfuhr es von dem Jungen, den sein Vater am selben Tag eingestellt hatte. Atemlos rannte er nach Green Gables; auf dem Weg schloss sich ihm Fred Wright an. Am Tor von Green Gables, unter den ausladenden kahlen Weiden, stießen sie auf Diana Barry, Jane Andrews und Anne Shirley, die personifizierte Verzweiflung.

»Ist das wirklich wahr, Anne?«, rief Gilbert.

»Es ist wahr«, erwiderte Anne und sah aus wie die Muse der Tragödie. »Mrs Lynde ist auf dem Rückweg von Carmody vorbeigekommen, um es mir zu berichten. Oh, es ist einfach schrecklich! Wozu strengen wir uns überhaupt noch an.«

»Was ist schrecklich?«, fragte Oliver Sloane, der in diesem Augenblick mit der Hutschachtel erschien, die er für Marilla in der Stadt besorgt hatte.

»Hast du es noch nicht gehört?«, fragte Jane düster. »Joshua Pye ist allen Ernstes hingegangen und hat den Saal blau statt grün gestrichen - ein dunkles, leuchtendes Blau, den Farbton, den man sonst für Lastkarren und Schubkarren verwendet. Und Mrs Lynde sagt, es ist die scheußlichste Farbe, die sie je bei einem Gebäude gesehen hat und die man sich nur vorstellen kann, vor allem, wenn das Ganze dann auch noch ein rotes Dach hat. Man hätte mich mit dem kleinen Finger umstupsen können, als ich es hörte. Es bricht einem das Herz, nach all dem Ärger, den wir uns deswegen eingehandelt hatten.«

»Wie um alles auf der Welt konnte das passieren?«, jammerte Diana. Die Schuld für dieses grauenvolle Unglück war möglicherweise der Ungeschicklichkeit der Pyes zuzuschreiben. Die Verschönerer hatten entschieden, Morton-Harris-Farbe zu verwenden. Die Morton-Harris-Farbtöpfe waren nach einer Farbkarte nummeriert. Der Käufer suchte sich den Farbton anhand dieser Farbkarte aus und gab die Bestellung entsprechend der Nummer auf. 147 war die Nummer des gewünschten Grüns. Als Mr Roger Pye durch seinen Sohn, John Andrew, den Verschönerern ausrichten ließ, dass er in die Stadt führe und ihnen die Farbe besorgen könnte, sagten sie zu Andrew, er solle seinem Vater ausrichten, es handle sich um die Nummer 147. John Andrew behauptete steif und fest, genau das hätte er ihm ausgerichtet, aber Mr Roger Pye erklärte ebenso steif und fest, John Andrew hätte ihm die Nummer 157 genannt; und das ist der Stand der Dinge bis heute.«

An jenem Abend herrschte in allen Häusern, in denen ein Verschönerer wohnte, blankes Entsetzen. Auf Green Gables herrschte so düstere Stimmung, dass sogar Davy davon berührt war. Anne weinte und war untröstlich.

»Ich kann nicht anders, auch wenn ich bald siebzehn bin, Marilla«, schluchzte sie. »Diese Demütigung! Es ertönt das Grabgeläut unseres Vereins - und dann das vernichtende Gelächter!«

Im Leben jedoch, wie in Träumen, kehrt sich oft etwas ins Gegenteil. Die Bewohner von Avonlea lachten nicht, dazu waren sie viel zu verärgert. Ihr Geld war für das Streichen des Saals gedacht gewesen, also waren sie auch mächtig entrüstet über den Fehler. Die allgemeine Empörung richtete sich gegen die Pyes. Bei Roger Pye und John Andrew lag der Fehler. Und was Joshua Pye anging, er musste ein geborener Narr sein, dass er nicht darauf kam, dass da etwas nicht stimmte, als er die Farbtöpfe öffnete und die Farbe sah. Joshua Pye, um das noch festzustellen, hielt dem entgegen, dass der Farbgeschmack der Leute von Avonlea ihn nichts anginge, seine private Meinung hin oder her. Er sei mit dem Streichen des Saals beauftragt worden und nicht, um darüber seine Meinung abzugeben. Er bestehe darauf, dafür sein Geld zu bekommen.

Die Mitglieder zahlten ihm voll Bitterkeit das Geld, nachdem sie Mr Peter Sloane, der Richter war, um Rat gefragt hatten.

»Ihr müsst ihn bezahlen«, sagte Peter. »Ihr könnt ihn nicht für den Fehler verantwortlich machen, weil er behauptet, man hätte ihm nicht gesagt, in welcher Farbe der Saal gestrichen werden solle. Man hätte ihm nur die Farbtöpfe überreicht und gesagt, er solle sich an die Arbeit machen.«

Die unglücklichen Verschönerer erwarteten, dass ganz Avonlea mehr denn je Vorurteile gegen sie hegen würden. Aber stattdessen standen alle auf ihrer Seite. Die Leute fanden, dass der eifrigen, begeisterten kleinen Gruppe, die sich so für die Sache eingesetzt hatte, übel mitgespielt worden war. Mrs Lynde spornte sie an weiterzumachen und den Pyes zu zeigen, dass es auf der Welt noch Menschen gab, die keinen Pfusch betrieben. Mr Major Spencer teilte ihnen mit, dass er sämtliche Baumstümpfe entlang der Straße vor seiner Farm ausreißen und auf eigene Kosten dort Gras aussäen würde. Mrs Hiram Sloane kam eines Tages bei der Schule vorbei und winkte Anne wichtigtuerisch hinaus auf die Veranda, um ihr zu sagen, dass, wenn der Verein im Frühling an der Kreuzung ein Geranienbeet anlegen wolle, sie sich wegen ihrer Kuh keine Gedanken machen müssten. Sie würde dafür sorgen und das plündernde Tier im Zaum halten. Sogar Mr Harrison lachte und zeigte vollste Sympathie.

»Mach dir nichts draus, Anne. Die meisten Farben verblassen und werden von Jahr zu Jahr hässlicher, aber dieses Blau ist von vornherein so hässlich wie irgendwas, also kann es nur schöner werden. Und das Dach ist doch ganz ordentlich gedeckt. Die Leute können sich jetzt im Saal aufhalten, ohne dass ihnen Wasser auf den Kopf tropft. Ihr habt also schon eine ganze Menge zuwege gebracht.«

»Aber der blaue Saal von Avonlea wird in sämtlichen Nachbarorten zum Gespött der Leute werden«, sagte Anne verbittert.

Und genauso war es.

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