Aurian lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und nahm noch einen Schluck Ale aus ihrem Krug. »Ich bin immer noch überrascht, daß Miathan soviel Verständnis dafür hatte, daß wir beide uns lieben, vor allem nachdem …« Sie hielt abrupt inne und biß sich auf die Lippe. Sie hatte sich immer noch nicht getraut, Forral von Miathans Überfall auf sie zu erzählen. »Wenn seine Zustimmung nur vorgeschoben wäre, dann müßte man das inzwischen wohl gemerkt haben, aber nach fast vier Monaten …« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe allerdings in letzter Zeit nicht mehr viel von ihm gesehen – er beschäftigt sich mit irgend etwas, das ihm besonders am Herzen liegt –, aber wenn ich ihn getroffen habe, dann war er so freundlich wie immer. Und wie er die Augen davor verschließt, daß du in der Akademie bei mir schläfst, und uns vor den anderen Magusch verteidigt …« Sie brach mit einem Seufzer ab.
»Die Unfreundlichkeit von Meiriel belastet dich immer noch, nicht wahr?« fragte Forral.
»Ich kann nichts dagegen tun, Forral. Die anderen sind mir egal – Eliseth und Bragar waren schon immer durch und durch verdorben, von Davorshan gar nicht zu reden, aber Meiriel … Ich hätte nie geglaubt, daß sie so voreingenommen sein könnte! Sie hat sich sogar geweigert, mich weiter zu unterrichten, bis dann Miathan ein Machtwort sprach. Es ist furchtbar, auf diese Weise eine Freundin zu verlieren, aber noch nicht einmal Finbarr ist in der Lage, sie zu überzeugen.«
»Nimm’s nicht tragisch, Liebes.« Forral nahm ihre Hand. »Wenn sie es gern so haben möchte, dann können wir nichts dagegen tun. Wenn sie wirklich so etwas wie eine Freundin für dich gewesen wäre, dann hätte sie sich für dich gefreut.«
»Das hat Anvar auch gesagt.« Aurian brachte ein Lächeln zuwege. »Er hat sich ganz gut gemacht für dieses verängstigte Wesen, das wir am letzten Sonnenwendfest aus der Küche erlöst haben. Du mußt zugeben, daß ich recht hatte mit ihm.«
»Das hattest du tatsächlich, und ich freue mich darüber. Er hat sich wirklich als ein guter Kerl erwiesen, Aurian, ganz gleich, was Miathan über ihn verbreitet.«
»Darüber staune ich immer noch.« Aurian runzelte die Stirn. »Es ist wirklich wunderbar, wie sich Anvar um mich kümmert, aber er lächelt fast nie, und er lebt immer noch in Angst vor dem Erzmagusch, erzählt mir aber nicht, warum. Und, was ich noch schlimmer finde, er redet überhaupt nicht über seine Vergangenheit, über seine Familie – über nichts. Ich würde ihm gern helfen – er wirkt immer so unglücklich –, aber wie soll ich das machen, wenn er mir nicht vertraut?« Sie blickte angestrengt in ihren Bierhumpen. »Bei den Göttern, ich hasse Geheimnisse.«
Es war der Vorabend des Sonnenwendfestes, und die beiden hatten ihre Feier mit einem Besuch im Unsichtbaren Einhorn begonnen. In bequemer Nähe zur Garnison gelegen, war die Schänke der Lieblingstreffpunkt der Soldaten, die gerade dienstfrei hatten. Der langgestreckte, niedrige Schankraum war zwar ziemlich schäbig, aber zugleich recht gemütlich mit seiner Decke aus starken Balken, von denen die Lampen herabbaumelten, und mit seinem großen, aus roten Ziegeln gemauerten Kamin, in dem stets ein schönes Feuer prasselte. Die einstmals weißen Wände waren von einer Patina von Rauch überzogen und der Boden mit einer dicken Lage von Sägespänen bedeckt, die das vergossene Ale und das Blut aufsaugten, das gelegentlich bei einer der groben, von dem duldsamen Besitzer (gewöhnlich) übersehenen Raufereien floß. Es gab dort stets gute Gesellschaft und ausgezeichnetes Bier. Das Unsichtbare Einhorn war eins von Aurians Lieblingszielen, aber heute abend ging ihr zuviel im Kopf herum, um sich entspannen und die Gesellschaft genießen zu können.
Forral nahm sich den großen Zinnkrug, der mitten auf dem Tisch stand, und füllte ihre Humpen damit nach. »Du kannst es dem Burschen eigentlich nicht übelnehmen, weißt du. Ich stelle es mir furchtbar vor, Sklave zu sein, selbst bei der freundlichsten Herrin. Er hat seine Familie und seine Zukunft verloren – und dann einmal angenommen, er hatte früher eine Freundin? Was ist mit ihr passiert? Bei den Göttern, diese Leibeigenschaft ist barbarisch!«
Dies war ein leidiges Thema für Forral; eines, über das es während des vergangenen Jahres immer wieder erfolglos zu Auseinandersetzungen mit den anderen Mitgliedern des Rates, vor allem mit dem Erzmagusch gekommen war. »Aber wenn sich Anvar dir nicht anvertrauen will, was kannst du dann schon groß machen?« fügte er hinzu. »Allerdings finde ich es merkwürdig, daß er dir immer noch nicht traut, nachdem du dich so für ihn eingesetzt hast.« Der Schwertkämpfer runzelte die Stirn. »Du hast eigentlich recht – es ist sonderbar, daß Miathan ihn so haßt. Die anderen Diener nimmt er doch gar nicht zur Kenntnis.« Als er Aurians düsteres Gesicht sah, versuchte er, ihre Stimmung aufzubessern. »Mach dir jetzt keine Gedanken mehr darüber, Liebes. Heut ist der Abend aufs Sonnenwendfest, und wir sollten alle fröhlich sein. Ich mache dir einen Vorschlag: Wie wär’s, wenn ich heute abend mit Anvar ausgehe, während du auf dem Fest der Magusch bist? Ich wünschte, du müßtest nicht dorthin, aber wir beide feiern dann eben einfach später. Und vielleicht möbelt es den armen Kerl ja etwas auf, wenn er mit mir und den Soldaten mitkommt.«
Aurians Züge hellten sich auf. »Das ist eine gute Idee. Ich werde es Elewin sagen, wenn ich zur Akademie zurückkomme. Es gibt ja keinen Mangel an Dienern bei der Maguschfeier heute abend, so daß Anvar eigentlich abkömmlich sein sollte. Am liebsten käme ich mit euch, aber ich möchte das Risiko nicht eingehen, Miathan gegen uns aufzubringen – nicht, solange wir mit den Magusch auf so gespanntem Fuß stehen. Jedenfalls haben Finbarr und ich uns vorgenommen, D’arvan heute abend ein wenig aufzuheitern – er kann unsere Gesellschaft gebrauchen. Es war eine schwere Zeit für ihn dieses Jahr: Sein Bruder schließt sich Eliseths Kreis an, bei ihm zeigen sich immer noch keine Anzeichen magischer Kräfte, und Miathan betrachtet ihn von Tag zu Tag mit größerem Mißfallen. Ich vermute, daß Eliseth versucht, den Erzmagusch zu überreden, D’arvan loszuwerden, so daß sie Davorshan ganz für sich hat. Es ist ein Segen, daß D’arvan in der Garnison ein paar Freunde gefunden hat – vor allem Maya –, aber an der Akademie wird er immer mehr zum Außenseiter. Es tut mir so leid für ihn.«
»Noch mehr gute Taten, hm?« Forral kicherte, aber ihr entging nicht der Funken Stolz in seinen Augen, und sie wußte, daß er ihr zustimmte.
»Na ja, es ist ja jetzt das Fest und die Zeit der Nächstenliebe und so weiter.« Aurian zog ein Gesicht. »Ich denke, ich stärke mich besser noch ein wenig. Ist noch Bier da?«
Anvar saß allein in seiner Koje in der Schlafstube der Dienerschaft und spielte eine traurige Weise auf der kleinen Holzflöte, die sein Großvater ihm vor so langer Zeit geschnitzt hatte. Die Flöte war das einzige von seinen Instrumenten, das er zur Akademie hatte mitnehmen können. Hätte er doch auch noch die anderen alle! Elewin hatte ihn auf Lady Aurians Bitte hin davon freigestellt, bei der Maguschfeier in der Akademie zu bedienen. Er freute sich, daß sie daran gedacht hatte, ihm einen freien Abend zu verschaffen. Aber was sollte er eigentlich damit anfangen? Er konnte nirgendwo hingehen. Wie gewöhnlich wanderten seine Gedanken zu den Lieben, die er verloren hatte – zum Großvater und zu seiner Mutter –, und zu Sara, die für ihn jetzt genauso verloren war. Er spielte weiter, während er sich vergebens bemühte, an etwas anderes zu denken, und seine Einsamkeit vermischte sich mit den schmerzhaft traurigen Klängen der Flöte seines Großvaters. Plötzlich schlug die Tür auf, und Kommandant Forral stand vor ihm. »Da bist du ja«, sagte er. »Ich habe dich schon überall gesucht. Was machst du hier allein, Junge? Aurian muß heute abend an der Maguschfeier teilnehmen; also haben wir uns gedacht, du hättest vielleicht Lust, mir Gesellschaft zu leisten, wenn ich mir mit den Jungs und Mädels von der Garnison ein paar Bier gönne.« Er zog den erstaunten Anvar auf die Füße und ließ ihm kaum Zeit, seinen Umhang vom Haken an der Wand zu nehmen.
Beim Anblick des fadenscheinigen Gewandes verschlug es Forral die Sprache. »Was ist denn das?« meinte er fragend. »In diesem Putzlumpen kannst du doch nicht rausgehen, Junge. Es schneit! Hier …« Er knöpfte seinen eigenen dicken, wetterfesten Soldatenumhang auf und legte ihn Anvar um die Schultern. Den alten Fetzen beförderte er mit einem Tritt unter das Bett. »So ist’s schon besser. Der Umhang paßt dir ja auch ganz gut, da wir beide ungefähr gleich groß sind. Ich weiß, ich weiß – behalt ihn einfach. Ein Geschenk zur Sonnenwende, weil du dich so gut um Aurian kümmerst. Ich habe noch einen in ihrem Zimmer, den wollen wir eben holen, und dann kann’s losgehen.«
Anvar war überwältigt. Das war seine zweite Sonnenwende an der Akademie, und während all der Zeit hatte niemand ihm jemals ein Geschenk gemacht. Er mußte schlucken, versuchte ein Dankeschön zu stammeln, aber Forral schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Keine Ursache, Junge. Du hast es verdient. Nun laß uns sehen, daß wir in die Schänke kommen. Dort wartet ein gutes Ale darauf, von uns getrunken zu werden. Also, die Pflicht ruft!«
Anvar verbrachte wunderbare Stunden im Unsichtbaren Einhorn. Die Soldaten von der Garnison waren in bester Sonnenwendstimmung, und es gab reichlich Spaß, Gelächter und Ale. Forral ließ sich zur Sonnenwendfeier seinen Soldaten gegenüber nicht lumpen und nahm alles auf seine Rechnung. Dann stellte jemand fest, daß Anvar singen konnte, und einer der Soldaten holte ungeachtet der kläglichen Proteste des leidgeprüften Besitzers eine alte Gitarre von ihrem Platz an der Wand, wo sie nur dekorativen Zwecken gedient hatte, und gab sie Anvar. Die Lust, endlich einmal ein echtes Instrument in Händen zu halten, war stärker als Anvars Scheu, vor Publikum zu spielen, und die ganze Truppe machte mit großer Begeisterung mit. Schon bald erzitterten die Wände beim Klang der lauten, derben Soldatenlieder, deren immer wieder gleiches Thema zusammen mit der unglaublichen Lautstärke schnell dafür sorgten, daß die noch etwas nüchternen Gäste nach Hause eilten. (Der Besitzer, der die Geschwindigkeit bemerkt hatte, mit der seine Alefässer geleert wurden, hatte sich schon lange mit der Sache abgefunden.)
Allzu schnell war der Abend vorüber, und Anvars neue Freunde sagten Lebewohl. Zögerlich hängte er die geliehene Gitarre wieder an die Wand. Das bedurfte mehrerer Versuche, denn er konnte nicht genau erkennen, welcher von den beiden Nägeln der richtige war, und als noch viel schwieriger erwies es sich, ihn zu treffen. Dann traten er und Forral auf unsicheren Beinen ihren Rückweg zur Akademie an. Im spitzen Winkel aneinandergelehnt und Arm in Arm stapften sie durch den frischen, leicht verharschten Schnee. Beide hatten in ihrer freien Hand eine große Flasche Wein, und beide sangen sie, erst derbe Volkslieder, dann noch schlimmere Soldatenballaden, und sie drohten mit ihrem Lärm die ganze Stadt aufzuwecken. Anvar kümmerte das nicht. Heute nacht, und wenn es nur dies einzige Mal sein sollte, amüsierte er sich.
Das Maguschfest war für Meiriel kein Genuß. Sie schwenkte den dürftigen Rest Wein in ihrem Kelch herum und nahm einen bescheidenen Schluck. Dabei blickte sie düster auf die fröhliche Gruppe, die am Tisch gegenüber saß.
»Finbarr scheint glücklich zu sein heute abend.« Eliseth ließ sich auf dem leeren Stuhl neben der Heilerin nieder. Meiriel verzog mißfällig das Gesicht. Sie wäre ganz gut ohne die Wettermagusch und deren feige Unterstellungen ausgekommen. Sie zuckte die Achseln und zwang sich zu einem Ausdruck von Gleichgültigkeit. »Es ist eine Seltenheit, wenn Finbarr sich einmal aus seinen Archiven zu einer Feier herauslocken läßt. Er ist den Wein nicht gewöhnt.«
Trotz ihrer Bemühungen brach ihr Ärger, den sie hatte verbergen wollen, jetzt hervor. »Aurian hat ja wirklich ihren Spaß – aber ihr gefällt es ja auch, mit diesem niedriggeborenen, sterblichen Abschaum von der Garnison herumzupoussieren …«
»Als ob wir das nicht alle wüßten!« sagte Eliseth mitfühlend. »Glaub mir, Meiriel, es ist doch ganz klar, was da auf uns zukommt. Dieser armselige Schwertkämpfer verbringt ja die Hälfte seiner Zeit hier und entweiht unsere Hallen mit seiner Gegenwart. Bald wird sie auch ihre anderen sterblichen Freunde einladen, und mit unserem Frieden und unserer Abgeschiedenheit wird es für immer vorbei sein. Warum schiebt Miathan dem nicht einen Riegel vor?«
»Du weißt doch, warum«, sagte Meiriel säuerlich. »Aurian wickelt den Erzmagusch um den kleinen Finger.«
»Nicht nur den Erzmagusch, wie es scheint.« Eliseth deutete auf den Nachbartisch, wo Finbarr und D’arvan mit Aurian lachten und tranken. Der Hieb hatte gesessen. Meiriel, deren Gefühle durch den Wein bereits in Aufruhr geraten waren, spürte, wie sie vor Wut rot anlief. »Kümmere du dich um deine eigenen Angelegenheiten, du mieses Stück!«
Eliseths verständnisvoller Gesichtsausdruck änderte sich nicht. »Ich wollte dich nur warnen«, sagte sie sanft. »Aber wenn du es selbst gemerkt …« Sie sprach nicht weiter und vertraute darauf, daß die erzielte Wirkung dadurch um so größer war. »Hast durch schon einmal darüber nachgedacht«, fuhr sie dann fort, »daß Aurian, sollte sie jemals aus Ehrgeiz ihren sterblichen Liebhaber aufgeben – denn mit einem so skandalösen Verhältnis könnte sie niemals das Amt des Erzmagusch antreten –, sich einen Partner unter den Magusch suchen würde?«
Meiriel starrte sie an. »Was willst du damit sagen?«
Eliseth zuckte mit den Schultern. »Nur, daß die Möglichkeiten begrenzt sind. Sie haßt Davorshan und Bragar; D’arvan ist so gut wie nutzlos, und es macht die Runde, daß sie Miathan bereits zurückgewiesen hat, dumm wie sie ist.«
»Finbarr würde mich niemals verlassen!« Es klang kaum überzeugend, nicht einmal für ihre eigenen Ohren. Meiriel hatte in letzter Zeit eifersüchtige Gedanken gehegt – seit Finbarr bei dieser unappetitlichen Geschichte mit dem Sterblichen Aurians Partei ergriffen hatte.
»Na, dann ist ja alles in Ordnung. Dann brauchst du dir wohl keine Sorgen zu machen«, sagte Eliseth herzlich. »Ich wollte dir eigentlich einen kleinen Vorschlag machen, der dich interessieren könnte, aber …«
»Was?« Es entfuhr ihr schärfer, als beabsichtigt, und sie verfluchte den Ausrutscher, als sie die Wettermagusch lächeln sah.
Eliseth beugte sich zu ihr hinüber. »Du kennst doch Miathans Abscheu, was Mischlinge betrifft. Wenn Aurian nun ein Balg von dem Schwertkämpfer bekäme, dann würde der Erzmagusch sie mit Sicherheit für immer ins Exil schicken.«
Sie lehnte sich zurück und beobachtete Meiriels Gesicht genau.
»Aber Aurian würde das nie geschehen lassen – und sie hat diese Dinge nur allzugut unter Kontrolle. Ich habe es ihr selbst beigebracht.«
»Aber du bist die Heilerin, Meiriel. Du mußt die Kräfte haben, um das rückgängig zu machen, was du ihr beigebracht hast – das heißt, wenn du es willst. Denk einmal darüber nach. Ein einziger kleiner Gegenzauber würde uns Aurian und ihren unheiligen Einfluß für immer vom Hals schaffen. Eigentlich wäre es für alle Beteiligten das beste. Aurians Gefühle ziehen sie mehr und mehr zu den Sterblichen hin – das ist für uns zwar schwer vorstellbar, aber es ist so. Am besten nimmt man ihr die Entscheidung ab: Sie wird anderswo glücklicher sein, und sie und Forral könnten zusammen in Frieden leben.« Eliseth zuckte die Achseln. »Und eine bessere Gelegenheit als heute nacht wird sich nie wieder bieten. Aurian hat schon ziemlich viel getrunken – sie amüsiert sich so, daß sie gar nicht merken wird, daß du sie beeinflußt. Sie wird denken, daß es ihr eigener Ausrutscher war, wenn sie es herausfindet. Sie würde dich nie verdächtigen.«
Als sie sich wieder Davorshan und Bragar zugesellte, lächelte Eliseth. »Nun?« fragte Bragar sie. »Wie ist es gelaufen?« Der Mann würde niemals Zurückhaltung lernen.
»Es hätte kaum besser sein können.« Die Wettermagusch setzte sich, strich ihren Rock mit pingeliger Sorgfalt glatt und schenkte sich selbst einen Kelch Wein ein. »Genau, wie ich gedacht hatte – es war kinderleicht, Meiriels lächerliche Eifersucht für unsere Ziele einzusetzen. Sie hat natürlich alles weit von sich gewiesen und gesagt, daß sie so etwas niemals in Erwägung ziehen könne, aber die Saat ist gesetzt. Sie wird es tun, keine Sorge.«
Mit einem blendenden Lächeln wandte sie sich Davorshan zu und registrierte mit Wohlgefallen den Arger auf Bragars Gesicht. Solange die Dummköpfe sich gegenseitig im Wettstreit um ihre Gunst an die Gurgel gingen, konnte sie leicht beide beherrschen. »Nun, Davorshan« gurrte sie, »jetzt, da mit Aurian alles in die Wege geleitet ist, können wir uns der Aufgabe zuwenden, deinen unglückseligen Bruder loszuwerden. Warum holst du nicht noch etwas Wein? Mir ist plötzlich so nach Feiern zumute!«
Nachdem sie die Akademie erreicht hatten und von den Wachen am Tor strengstens ermahnt worden waren, keinen Lärm mehr zu machen, standen Anvar und Forral schließlich auf unsicheren Füßen vor Aurians Räumen. »Komm rein, Junge«, sagte Forral fröhlich, wenn auch etwas undeutlich. »Komm und laß uns noch eins mit Aurian trinken. Du hast mit ihr ja noch gar nicht angestoßen, und das wird ihr überhaupt nicht gefallen. Sie wird verrückt, wenn du es nicht tust. Und wir wollen sie doch nicht verrückt machen«, fügte er in einem übertriebenen Flüstern hinzu und machte dabei ein solches Gesicht, daß Anvar sich an der Wand abstützen mußte, um nicht vor Lachen zusammenzubrechen. Forral öffnete die Tür, und die beiden fielen praktisch ins Zimmer.
Aurian mußte selbst auch ganz nett gefeiert haben – nach ihrem geröteten Gesicht und dem Blitzen ihrer strahlend grünen Augen zu urteilen. Sie hatte die düstere Robe der Magusch und die praktische Kampfkleidung, die sie für gewöhnlich trug, abgelegt und mit ihrem Feststaat vertauscht – einem rotgoldenen, langen Kleid aus Samt mit tiefem Ausschnitt und langen, wallenden Ärmeln. Ihr üppiges feuerrotes Haar wurde von einem lockeren Netz aus Gold gehalten, und in dem weichen Kerzenlicht glühte sie selbst wie eine lebendige Flamme. Anvar spürte, daß sein Herz einige unruhige Sprünge machte. Er hatte nie bemerkt, daß sie so schön war. Forral beugte sich über sie und bedeckte, völlig unbeeindruckt von Anvars Gegenwart, ihr Gesicht mit Küssen. Sie lachte, schlang die Arme um seinen Hals und erwiderte seine Küsse. »Du siehst aus, als hättet ihr viel Spaß gehabt«, sagte sie mit einem Lächeln.
»Anvar und ich waren mit den Jungs und Mädels unten im Einhorn«, informierte Forral sie, »aber wir haben dich vermißt.«
»Und ich habe euch beide vermißt«, lachte Aurian. »Ich habe schon den ganzen Abend nach meinem Sonnenwendkuß geschmachtet.« Sie zog ein betrübtes Gesicht, und Forral küßte sie wieder. Dann entdeckte sie die Flasche Wein, die er in der Hand hielt. »Ach, Liebster! Ist die für mich?«
»Wir konnten ohne dich nicht feiern«, erklärte Forral würdevoll. »Ich werde sie aufmachen.« Er nahm Anvar Umhang und Flasche ab und schenkte dann drei Gläser Wein ein. Sie standen zusammen vor dem Feuer und erhoben ihre Gläser. »Fröhliche Sonnenwende, Liebster«, sagte Aurian zu Forral. »Fröhliche Sonnenwende, Anvar.«
Und für Anvar war es wirklich eine fröhliche Sonnenwende. Die erste seit zwei Jahren.
Sie setzten sich an den Tisch, und zu Anvars großer Verlegenheit erzählte Forral von Anvars improvisiertem Konzert. »Wirklich, Liebes, es war bewundernswert«, sagte er. »Unser Anvar hier spielt so Gitarre – wie du mit deinem Schwert fichst – ganz Rhythmus und Feuer und Melodie. Ich wünschte, du hättest ihn hören können.«
»Das wünschte ich mir auch«, sagte Aurian. »Es muß ja ganz wunderbar gewesen sein. Wo hast du nur gelernt, so zu spielen, Anvar?«
Weil Anvar so glücklich war und weil der Wein ihm die Zunge gelöst hatte, erzählte er ihnen schließlich, daß Ria ihm das Musizieren beigebracht und sein Großvater ihm Instrumente gebaut hatte, die ihm aber verlorengegangen waren, als er an die Akademie kam. Tränen füllten seine Augen, während er von den beiden Menschen sprach, die er so sehr geliebt hatte und die jetzt beide tot waren. Aurian wischte ihm zart eine Träne vom Gesicht. »Sei nicht traurig, Anvar. Sie sind immer noch bei dir, in deiner Begabung für die Musik, die du so sehr liebst. Sie werden immer da sein – in deinen Händen und in deinem Herzen.« Sie tauschte einen Blick mit Forral aus – einen Blick, in dem solche Liebe und Sorge lag, daß Anvar, der plötzlich alles zu verstehen schien, nicht mehr genau wußte, ob seine Tränen ihm selbst galten oder diesen beiden, die immer so freundlich zu ihm waren und deren Liebe dazu verurteilt war, eines Tages tragisch zu enden.
Ihre Gläser waren leer, und Aurian stand etwas unsicher auf, um einen Wein zu holen, der, wie sie sagte, für einen besonderen Anlaß wie geschaffen war. »Miathan hat ihn mir zur Sonnenwende geschenkt«, sagte sie und entkorkte die staubige Flasche. »Es ist einer seiner speziellen Jahrgänge. Er würde fünfzig Anfälle bekommen, wenn er herausfände, wer ihn jetzt trinkt.« Die beiden Männer kicherten, und dank des Geschenkes des Erzmagusch wurde die Feier wieder fröhlich.
Die drei sangen miteinander, ohne Begleitung und leise, weil es schon so spät war. Flüchtig ging Anvar der Gedanke durch den Kopf, daß er bald würde aufstehen müssen, um das Frühstück zu servieren. Aber er ignorierte ihn. Gab es denn überhaupt ein Morgen? Diese Nacht währte ewig in ihrem zeitlosen Gewebe von Freude. Er war ganz ergriffen von Aurians Altstimme – daß sie singen konnte, hatte er gar nicht gewußt. Als sie die Flasche bis auf den letzten Tropfen geleert hatten, waren sie wieder bei derben Balladen und albernen Kinderliedern angelangt, und alle drei waren hilflos vor Lachen.
»Oje.« Aurian schnappte nach Luft und wischte sich über die tränenden Augen. »So gut ist es mir schon lange nicht mehr gegangen!« Sie neigte die Flasche, um ihre Gläser noch einmal zu füllen, aber es kamen nur noch ein paar Tropfen heraus. »Fledermauskacke!« Sie murmelte Finbarrs Lieblingsfluch. »Das war der letzte!«
»Ich sollte sowieso gehen«, sagte Anvar und versuchte aufzustehen. »Ich muß früh aufstehen, um euch faulem Haufen euer Frühstück zu bringen!« Er hatte sich nichts weiter dabei gedacht und ausnahmsweise einmal darauf vertraut, daß niemand an seinen Worten Anstoß nehmen würde, aber auf Aurians Gesicht zeigte sich Bestürzung. »Ach Anvar, es tut mir leid. Ich habe nicht daran gedacht …«
Forral runzelte die Stirn. »Sieh mal, Junge«, sagte er, »du weißt, daß es nicht Aurians Schuld ist. Sie kann dich aus der Leibeigenschaft nicht befreien, und mir sind ebenfalls die Hände gebunden. Ich würde diese Sklaverei gleich morgen abschaffen, wenn ich nur könnte, aber ich bin im Rat in der Minderheit. Glaub nicht, daß ich es nicht versucht hätte. Aber warum der armen Aurian Vorwürfe machen? Sie hat dich nicht zum Leibeigenen gemacht – sie hat nur versucht, dir zu helfen. Behandelt sie dich wie einen Sklaven? Sie hat sich in den letzten Monaten wegen dir verrückt gemacht. Hast du das gewußt? Sie würde nichts lieber tun, als dich zu befreien, wenn sie nur könnte – und das war gerade nicht die richtige Art, ihr das zu danken.«
Das war zuviel. »Das weiß ich!« rief Anvar ärgerlich. »Aber wie kämst du dir vor, wenn du an meiner Stelle wärst? Du weißt nicht, wie es ist, nichts zu haben – keine Freiheit, keine Zukunft, keine Hoffnung! Stets voller Respekt zu sein und auf jedes Wort zu achten, damit man nicht dafür bestraft wird, unaufgefordert gesprochen zu haben; immer für jemanden parat zu stehen. Du und Lady Aurian, ihr habt euren Platz in der Welt. Ihr werdet respektiert. Und ihr habt einander, ihr liebt euch. Kann ich darauf jemals hoffen? Ich bin ein Sklave, ich habe nicht die Freiheit zu lieben. Kannst du dir vorstellen, wie einsam das macht? Für den Rest meines Lebens habe ich nichts, worauf ich mich freuen kann – nichts und niemanden für mich selbst!«
»Ach, Anvar.« Aurians Augen quollen über vor Sympathie. Sie ging zu ihm und nahm seine Hände. »Ich wünschte, es gäbe etwas, das ich tun könnte«, sagte sie sanft. Anvar, der sich bereits für seinen Ausbruch schämte, fühlte sich schuldiger als jemals zuvor.
»Herrin, es tut mir leid«, sagte er. »Es sollte sich nicht so anhören, als ob ich mich über dich beschwerte. Du warst so freundlich zu mir …« Er rang nach Worten. »Ich hätte um alles in der Welt die Stunden heute nacht nicht missen mögen.«
»Ich auch nicht«, versicherte Aurian ihm, und er wußte, daß sie seine Entschuldigung angenommen hatte. Sie wühlte in einer Schublade und zog ein kleines Päckchen mit Kräutern hervor, das sie ihm in die Tasche schob. »Misch das morgen früh in den Tee«, sagte sie. »Es ist eins von Meiriels Wundermitteln – erstklassig gegen Kopfschmerzen. Ich bin sicher, daß ich morgen früh nicht in der Lage sein werde, irgendwelche Heilversuche zu unternehmen. Schlaf, solange du willst, Anvar, und wenn du soweit bist, dann bring ein Frühstück für drei.«
Anvar vermutete, daß Miathan mit Aurian und Forral frühstücken wollte, und plötzlich war ihm der Abend verdorben. Mit einem Seufzer wandte er sich zum Gehen, aber Forral hielt ihn zurück und legte ihm den Arm auf die Schulter. »Wir verstehen ja, Junge«, sagte er sanft. »Wir beide. Ich weiß nicht, ob wir den Erzmagusch beeinflussen können, aber vielleicht können wir dich ja im nächsten Jahr für die Garnison bekommen. Du hast mir doch gesagt, daß Aurian dir ein wenig Schwertfechten beigebracht hätte. Wenn du fähig bist, das zu lernen, und wenn du Spaß daran hast, dann läßt Miathan dich vielleicht in meine Truppe eintreten. Du bist ein zu guter Mann, um dein Leben damit zu verschwenden, dich für die verdammten Magusch abzuplacken – ich bitte um Verzeihung, Liebes«, fügte er schnell hinzu, sah Aurian an und hielt sich verlegen den Mund zu. »Ich habe natürlich nicht dich gemeint.«
Zu Anvars Überraschung wurde Aurian keineswegs ärgerlich, sondern freute sich vielmehr. »Forral, was für eine wunderbare Idee!« Sie drückte den Schwertkämpfer fest an sich. Anvar hatte das Gefühl, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen. In einem Anfall von Dankbarkeit nahm er Forral ebenfalls in die Arme, beteiligte sich an der allgemeinen Umarmung, und sein Mund öffnete sich zu einem breiten Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte. Dann drückte Aurian ihn an sich, und Forral sagte plötzlich: »Du hast Anvar ja noch gar keinen Sonnenwendkuß gegeben. Daß du das vergessen konntest!«
»Bei der Göttin«, sagte Aurian, »du hast vollkommen recht.« Sie legte ihre Arme um Anvars Hals, und er spürte, wie ihre Lippen zart wie ein Schmetterlingsflügel seine Wangen streiften.
»Das war ja jämmerlich, Mädel!« polterte Forral. »Kannst du es nicht besser? Nun mach schon, es ist Sonnenwende! Küsse ihn richtig!« Gehorsam tat sie es. Kein Kuß aus Leidenschaft, wie Forral ihn bekommen hatte, aber dennoch ein warmherziger, großzügiger Kuß, der für Anvar auf merkwürdige Weise kostbar war. Und wieder spürte er, wie sein Herz unruhig schlug und daß die Berührung ihrer weichen Lippen ihn zittern ließ.
»Das ist schon besser!« sagte Forral und machte damit schlagartig Anvar seine Anwesenheit wieder bewußt. »Du hast ihm sein Lächeln zurückgegeben* Liebes«, sagte der Schwertkämpfer zu Aurian.
»Nun, ich möchte es hoffen!« erwiderte die Magusch. Einen Augenblick lang sah sie Anvar tief in die Augen. »Du solltest öfter lächeln – es steht dir gut. Na ja, wenn sich die Dinge gut entwickeln, dann hast du ja vielleicht in der Zukunft mehr Grund zu lächeln.«
»Darauf wollen wir trinken«, sagte Forral. »Oh, verflucht – wir können nicht!« Also sagten sie sich statt dessen gute Nacht. In dieser Nacht kam Anvar sein Bett weniger hart und kalt vor als sonst, und er versank in angenehme Träume.
Anvar mußt am Morgen des Sonnenwendtages für die Feier am Abend zuvor büßen. Sein Kopf hämmerte, als wolle er zerspringen, und Anvar wünschte sich, er würde es endlich tun – wenn er nur den Schmerz loswürde. Aber Aurians Medizin wirkte Wunder, und schon bald war er in der Lage, das Frühstückstablett fertig zu machen. Nur der Geruch der Speisen machte ihm noch eine Weile zu schaffen. Als er das Tablett die Treppen des Turmes zu Aurians Zimmer hinauftrug, hörte Anvar hinter sich eilige Schritte. Er drehte sich um und sah seine Herrin, die in Mantel und Stiefeln hinter ihm die Treppe heraufeilte. Sie war außer Atem und trug eine große flache Holzkiste. Er fragte sich, wo sie wohl so früh gewesen sein mochte – vor allem wenn sie sich in ebenso bescheidener Verfassung befand wie er selbst. Als sie ihn einholte, sah er, daß sie zwar müde und mitgenommen wirkte, daß aber die Kälte ein Glühen auf ihre Wange gezaubert und ein wenig vom Strahlen der letzten Nacht in ihre Augen zurückgebracht hatte. Auf ihrem windzerzausten Haar zerschmolzen Schneeflocken zu diamanten funkelnden Tropfen, und das herbe, nach Moschus duftende Parfüm, das sie bevorzugte, wurde übertönt durch den frischen, belebenden Geruch der schneehaltigen Luft.
Anvar mußt an den Kuß von vergangener Nacht denken und spürte, daß er rot anlief. Ob sie bedauerte, was unter dem Einfluß des Weines geschehen war? Würde sie sich verlegen oder zornig abwenden? Aber das Lächeln, das sie ihm schenkte, war offen und freundlich – und voller Verständnis. »Du auch?« sagte sie mit einem schiefen Lächeln und legte sich die Hand auf die Stirn. Anvar nickte. »Nimm’s nicht tragisch, es war die Sache wert. Ich habe letzte Nacht jede einzelne Minute genossen.«
Anvar war verblüfft. Hatte sie gewußt, was er dachte? Enthielten ihre Worte irgendeine versteckte Bedeutung? Nachdenklich folgte er der Magusch in deren Räume.
»Bei den Göttern, was für ein Durcheinander!« Aurian verzog angesichts der Batterien von Flaschen und Gläsern das Gesicht und ging zum Fenster, um die Vorhänge zu öffnen. Anvar stellte das Tablett ab und begann aufzuräumen, während sie im Kamin Feuer machte – eine Aufgabe, für die sie niemals lange brauchte. Ihr geschäftiges Treiben mußte wohl Forral geweckt haben, denn Anvar hörte ein Stöhnen aus dem Bett im Nachbarzimmer. Aurian lief zu dem Schwertkämpfer hinüber, ganz Mitleid, und Anvar verfluchte seine eigene Dummheit. Versteckte Bedeutungen, wirklich! Was war er doch für ein Dummkopf! Durch und durch beschämt, wandte er sich zum Gehen.
Aurians Gesicht erschien in der Tür zum Schlafzimmer. »Geh noch nicht«, sagte sie. Anvar wartete zögernd, während sie etwas von Meiriels Medizin zurechtmachte und Forral brachte. Die liebevolle Nähe der beiden warf ein hartes Licht auf die Leere seines eigenen Lebens; er kam sich ausgeschlossen vor und war außerdem, um der Wahrheit die Ehre zu geben, ein wenig eifersüchtig. Und vor allem wollte er nicht das Risiko eingehen, Miathan zu begegnen.
»Wann erwartest du den Erzmagusch, Herrin?« fragte er, als Aurian zurück ins Zimmer kam.
»Miathan? Kommt er? Hat er sich anmelden lassen?« Aurian runzelte die Stirn.
Anvar zeigte auf das Tablett mit drei Gedecken. »Nein, aber ich dachte …«
Die Magusch mußte grinsen. »Um Himmels willen, nein«, sagte sie. »Miathan würde nicht mit mir essen, während Forral hier ist. Ich dachte, du würdest vielleicht gern mit uns frühstücken, weil doch Sonnenwendtag ist. Also komm, setz dich! Forral ist auch gleich soweit.«
Als der Schwertkämpfer erschien, wurde sein ausgemergeltes Gesicht beim Anblick der Speisen sofort ganz grün. »Muß ich das Zeug essen?« fragte er wehleidig.
»Komm schon, versuch es«, drängte Aurian. »Es ist genau das, was du brauchst.«
»Herrisch!« grollte Forral, aber bald spürte auch er die wohltuende Wirkung des Frühstücks und der ihm verabreichten Medizin, und als schließlich der letzte Teller leer gegessen war, fühlten sich alle drei wesentlich besser.
Aurian wandte sich Anvar zu. »Forral und ich haben uns gestern abend gegenseitig Geschenke gemacht«, sagte sie. »Aber an dich hatte ich gar nicht gedacht, und deshalb …« Sie beugte sich über den Tisch und hielt ihm den Kasten hin, der in der Zwischenzeit in einer Ecke gestanden hatte. »Das ist für dich.«
Anvar hielt den Kasten auf seinem Schoß fest und wußte nicht, was er sagen sollte. Es war einfach zuviel. Forral hatte ihm gestern abend den Umhang geschenkt – und jetzt das. Langsam öffnete er den Deckel. Vor ihm lag, eingewickelt in eine dicke Lage Stoff, eine wunderschöne Gitarre, deren schimmerndes Holz reich mit kunstvollen Intarsien verziert war – eine erstklassige Handwerksarbeit. Er starrte Aurian an, unfähig zu glauben, daß sie es ernst meinte. »Ist sie in Ordnung?« fragte sie. »Ich hätte dich sie selbst aussuchen lassen sollen, aber ich wollte dich überraschen. Ich bin sicher, du kannst sie umtauschen, wenn sie dir nicht gefüllt, obwohl der Händler nicht besonders begeistert war, daß ich ihn heute morgen aus dem Bett geholt habe.«
Anvar nahm das Instrument vorsichtig aus dem Kasten und schlug eine Saite an. Die Gitarre mußte nach dem Transport durch die Kälte draußen neu gestimmt werden, aber der Ton war weich und süß. »Ach, Herrin, ich danke dir«, flüsterte er. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Ganz gleich, wie sehr er die meisten der Magusch fürchtete und haßte, jetzt wußte er, daß Aurian eine Ausnahme war, etwas ganz Besonderes. Wenn er schon ein Sklave sein mußte, so konnte er sich keine freundlichere Herrin erhofft haben.
In den schneereichen Wochen, die auf die Sonnenwende folgten, war das Geschenk von Lady Aurian ein Lichtblick in Anvars Leben. Die Magusch schlug vor, daß er die Gitarre in ihren Räumen aufbewahrte und das wertvolle Instrument nicht unbeaufsichtigt im Quartier der Dienerschaft liegen ließ. Da sie sehr oft unterwegs war, konnte er in ihren Räumen nach Herzenslust musizieren. Und ebenfalls auf ihre Anregung hin begann er, Aurian und Forral bei ihren Besuchen im Unsichtbaren Einhorn zu begleiten und dort abends für die Soldaten zu spielen. Sein Talent war so gefragt, daß er sich damit bald viele neue Freunde gemacht hatte.
Eines Abends war Anvar mit seiner Herrin und ihren Kriegerfreunden Maya und Parric im Einhorn. Forral war nicht dabei; er war in der Garnison mit der Vorbereitung der Ratssitzung des nächsten Tages beschäftigt. Seit er und Aurian ein Verhältnis miteinander hatten, kam der Schwertfechter von Mal zu Mal schlechter mit Miathan zurecht, und Anvar wußte, daß Aurian sich darüber immer größere Sorgen machte. Sie war an diesem Abend still und geistesabwesend, ihre Stirn umwölkt und von Sorgenfalten zerfurcht, die sich noch nicht einmal von Parrics verwegensten Ausfällen hatten vertreiben lassen. Die Ankunft von Vannor allerdings brachte neues Leben in das Gesicht der Magusch.
»Nun?« verlangte sie zu wissen, als sich der Kaufmann mit einem Ale zu ihnen setzte. »Hast du Dulsina inzwischen gefunden? Hast du sie gebeten, zurückzukommen?«
Vannor machte zum Spaß ein böses Gesicht. »Hätte ich denn eine andere Wahl, nachdem du und Maya mir so den Kopf gewaschen habt? Ja, ich habe sie gefunden – sie war bei einem Cousin, der in der Nähe der Garnison ein Gästehaus unterhält. Ja, sie hat sich überreden lassen, zurückzukommen – nachdem sie mich ein wenig vor sich hat kriechen lassen.«
»Das geschieht dir ganz recht dafür, daß du sie entlassen hast«, schnaubte Maya. »Wir haben kein Mitleid – oder, Aurian?«
»Kein bißchen!« kicherte die Magusch. »Du mußt zugeben, Vannor, daß es kein besonders geschickter Schachzug war, vor allem, wenn man bedenkt, daß Dulsina die einzige ist, die weiß, wo deine Kinder sind. Du hast doch gesagt, sie hätte sie zu ihrer Schwester geschickt, nicht wahr?«
»Das stimmt«, sagte der Kaufmann mit einer Herzlichkeit, die Anvar, der ihnen zuhörte, merkwürdig falsch vorkam. »Aber es ist nichts Geheimes dabei. Ihre Schwester lebt irgendwo an der Küste in der Nähe von Wyvernesse. Dulsina wollte es mir zunächst nicht erzählen – ich glaube, sie nahm an, daß ich gleich hingehen und Krach schlagen würde.« Er seufzte. »Ich vermisse sie, weißt du – vor allem Zanna –, aber Dulsinas Schwester wird gut für sie sorgen. Es wird ihnen guttun, eine Zeitlang aus der Stadt heraus zu sein, und ich muß zugeben, daß es angenehm ist, wenn Sara und Zanna sich nicht die ganze Zeit herumzanken. Wenn man etwas darüber nachdenkt, dann hat Dulsina ganz richtig gehandelt – ich hätte wissen sollen, daß sie im besten Interesse aller gehandelt hat.«
»Ich möchte wetten, daß Sara froh ist, Dulsina wieder im Haus zu haben!« Aurians Augen strahlten frech, und Anvar spitzte seine Ohren.
»Das magst du wohl sagen!« erwiderte Vannor. »Wir sind in Wahrheit alle froh, daß sie zurück ist – ohne sie löste sich der Haushalt langsam in seine Bestandteile auf. Selbst Sara hat gesagt …« Als das Gespräch diesen Punkt erreicht hatte, ging Anvar einen neuen Krug Ale holen. Vannor zuzuhören, wenn er von Sara als seiner Frau redete, war zu schmerzlich. Er kehrte gerade zu den anderen an ihren Lieblingstisch neben dem Kamin zurück, als eine bleiche, taumelnde Gestalt im Eingang der Taverne erschien. Anvar verschlug es vor Schreck die Sprache. D’arvan! Was wollte der hier?
»Aurian, dank den Göttern, daß du hier bist!« Der junge Magusch kam an den Tisch getaumelt und ließ sich Aurian, die sich inzwischen erhoben hatte, in die Arme sinken. »Miathan hat mich hinausgeworfen! Und Davorshan – er …«
»D’arvan!« Aurian hatte wie automatisch dem verzweifelten Magusch die Arme um die Schultern gelegt. Anvar sah, wie sie zurückschreckte, als ob sie etwas gestochen hätte, und als sie ihre Hände zurückzog, waren sie blutverschmiert. Die Magusch erholte sich schnell von ihrem Schrecken. »Schnell«, zischte sie Anvar zu. »Hilf mir, ihn hier herauszubringen, bevor irgend jemand etwas davon merkt!«
»Soll ich euch helfen?« fragte Vannor, aber Aurian schüttelte den Kopf. »Nein, Vannor – gib nur acht, daß niemand Verdacht schöpft, wenn das möglich ist. Ich möchte nicht, daß bekannt wird, daß ein Magusch Opfer eines Überfalls geworden ist.«
»Wir kommen sofort nach«, flüsterte Maya, die sofort begriff, was zu tun war. Anvar half der Magusch, den zusammenbrechenden D’arvan aufzufangen. Hastig verabschiedeten sie sich von Parric und Maya. Auf dem Weg zur Tür nahmen sie D’arvans steifen Körper in ihre Mitte. »Also ganz ehrlich«, sagte Maya mit lauter Stimme zu Vannor, damit jeder es hören konnte, der vielleicht neugierig war. »Sie hat ihm doch wieder und wieder gesagt, daß er nicht soviel trinken soll!«
Aurian war erleichtert, als sie schließlich den Eingang von Forrals Quartier erreicht hatten. D’arvan atmete immer angestrengter, obwohl sie nicht glaubte, daß die Wunde allzu schlimm war, denn dann hätte er es nicht geschafft, von der Akademie zum Einhorn zu kommen. Sie hatte in der Schänke sehr entschieden gehandelt und ihn fortgeschafft, bevor andere Gäste Gelegenheit hatten, sich für ihn zu interessieren, aber jetzt forderte der Schrecken seinen Tribut, und außerdem hatte es sie ermüdet, D’arvan durch die glatten, mit Schneematsch bedeckten Straßen halb zu ziehen und halb zu tragen, dazu noch auf einem Umweg über die Hintergassen, um den Blicken der Passanten zu entgehen.
»Aurian! Was zur Hölle ist passiert?« Ein müde wirkender Forral öffnete die Tür und blieb mit vor Staunen geöffnetem Mund stehen. Ohne zu antworten, half Aurian Anvar, D’arvan auf die Couch zu legen. Forral legte den Arm um sie, und an seine Schulter gelehnt, entspannte sie sich für einen Augenblick. »Bist du in Ordnung, Liebes?« fragte er sie. Aurian richtete sich auf und küßte ihn, froh, daß er da war.
»Ich schon, aber D’arvan nicht«, sagte sie. »Er ist verletzt. Forral, kannst du noch eine Lampe anmachen und uns etwas Wein besorgen, während ich nach ihm schaue? Anvar wird dir erzählen, was passiert ist.«
Sie setzte sich auf den Rand der Couch und entfernte die Reste von D’arvans zerrissenem Umhang, um seinen Rücken freizulegen. Als sie die Wunde sah, war sie erleichtert und verblüfft zugleich. Es war ein langer Schnitt, blutig, aber nicht besonders tief. Offensichtlich durch ein Messer verursacht. Den Göttern sei Dank, daß es nichts Ernstes ist, seufzte Aurian im stillen – aber wer um alles in der Welt hat versucht, den Magusch zu erstechen? Sie wußte durchaus, daß die meisten der Magusch bei den Stadtbewohnern höchst unbeliebt waren, aber so etwas war undenkbar!
Aurian war inzwischen eine wohlgeübte Heilerin geworden. Als sie ihre Kräfte konzentrierte, überzog sich die Wunde mit einem schwachen violettblauen Schimmer, und sie konnte befriedigt zusehen, wie das durchtrennte Gewebe vor ihren Augen zu verwachsen begann, die Blutung aufhörte und sich der Schnitt langsam schloß. Als D’arvans Schmerzen nachließen, spürte sie, wie sein Körper sich unter ihren Händen entspannte. Dann öffnete er die Augen. Sie half ihm, sich aufzurichten, und legte Kissen unter die heilende Wunde. Forral reichte D’arvan ein Glas Wein.
Genau in diesem Augenblick kam Maya mit dem Kavalleriehauptmann herein. »Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen«, versicherte Parric. »Wer immer ihn angegriffen hat, er ist euch nicht hierher gefolgt.«
»Geht es ihm gut?« fragte Maya besorgt. »Hat er euch erzählt, was passiert ist?«
»Noch nicht.« Die Magusch wirkte ernst. »Ich wollte ihn gerade fragen.«
D’arvans feingeschnittenes Gesicht war noch bleicher als sonst, aber er war bei Bewußtsein und wirkte ziemlich aufmerksam. »Du wirst schlafen wollen«, erklärte Aurian ihm, »aber trink besser deinen Wein, bevor du dich ausruhst.« Sie setzte sich neben ihn und nahm ebenfalls dankbar ein Glas Wein von Forral entgegen. »Du bist jetzt in Sicherheit«, sagte sie. »Wir sind in der Garnison. Kannst du mir erzählen, was geschehen ist?«
D’arvan bebte. »Miathan«, flüsterte er. »Er hat mich kommen lassen. Er hat mir gesagt, daß ich niemals von Nutzen sein werde, und mir befohlen, die Akademie zu verlassen.« Seine Hände zitterten so stark, daß der Wein aus seinem Glas schwappte. »Er hat mich von den Wachen vor das obere Tor werfen lassen. Ich – ich wußte nicht, was ich tun sollte, also habe ich mich aufgemacht, um euch zu finden. Und dann, als ich über den Damm ging, kam Davorshan hinter der Mauer hervorgesprungen und hat versucht, mich zu erstechen.«
Aurian hielt den Atem an. Davorshan? Ein Magusch, der einen anderen Magusch überfällt? Und noch dazu seinen eigenen Bruder? Eins war sicher, dachte sie grimmig: Irgendwie mußte Eliseth dahinterstecken.
»Ich wußte, daß er dort war«, fuhr D’arvan fort. »Wir sind immer noch eng miteinander verbunden, und das hat mich gerettet. Ich habe in seinen Gedanken die Absicht erkannt, mich zu ermorden, und bin ihm ausgewichen, aber er hat mich trotzdem mit dem Messer erwischt. Dann haben wir gekämpft, und ich konnte fliehen. Die Wachen am unteren Tor hatten den Lärm gehört; deshalb mußte er von mir ablassen und ihnen erklären, was los war. Wir waren immer so innig verbunden, Aurian – wie konnte er so etwas tun?« Er ließ das Glas sinken und vergrub sein Gesicht in den Händen.
Aurian legte die Arme um ihn. »Du sagst, daß du wußtest, was er vorhat«, forderte sie ihn vorsichtig auf, als er sich beruhigt hatte. »Weißt du, warum er es getan hat?«
D’arvan nickte. »Er – er arbeitet mit Eliseth zusammen und macht einige Fortschritte beim Wasserzauber«, sagte er. »Er hat sich überlegt, daß wir beide wahrscheinlich zusammen nur die magische Kraft für einen einzigen Magusch in uns haben, und nachdem Miathan mich nun verbannt hat, wollte er mich umbringen, damit die ganze magische Kraft auf ihn übergeht.«
»Aber das ist doch lächerlich!«
»Das glaube ich nicht«, sagte D’arvan. »Ich habe so etwas selbst schon vermutet. Es ist die einzige Erklärung. Unsere Kräfte hängen irgendwie zusammen, und seit Davorshan entdeckt hat, auf welchem Gebiet seine Fähigkeiten liegen, ist es ihm möglich gewesen, zu einem Teil von ihnen Zugang zu gewinnen. Vielleicht könnte ich das auch, wenn ich irgendwelche Talente hätte, aber ich habe schon alles versucht …«
»Einen Moment«, sagte Aurian abrupt. »Nein, das hast du nicht! Bei den Göttern, bin ich ein Dummkopf! Warum habe ich nicht schon eher daran gedacht? Du hast die Erdmagie noch nicht erprobt, und zwar ganz einfach, weil an der Akademie niemand ist, der sie unterrichtet. D’arvan, wir werden dich zu meiner Mutter schicken. Niemand wird wissen, wo du bist – du wirst dich dort also ganz sicher fühlen können. Eilin wird dich, wenn nötig, abschirmen, und sie wird dich unterrichten. Und es würde auch für sie eine große Hilfe sein. Sie wird es nicht zugeben, aber sie benötigt dringend Gesellschaft.«
»Aber ich bin mir nicht sicher …« begann D’arvan zweifelnd.
»Humbug. Du mußt es einfach ausprobieren, verstehst du das nicht? Am Ende wirst du dann Gewißheit haben. Und du kannst deinen Bruder mit dieser Geschichte nicht ungeschoren davonkommen lassen!«
»Nun ja … Ich habe die Pflanzen immer gern gehabt und auch …«
»Natürlich hast du das.« Aurian merkte, daß D’arvan die Augen zufielen. »Also, ruh dich jetzt erst einmal aus. Ich werde eine Decke besorgen, dann kannst du hier auf der Couch schlafen. Hier bist du sicher, und morgen oder übermorgen wollen wir sehen, daß wir dich heimlich aus der Stadt schaffen. Auf keinen Fall dürfen die anderen Magusch erfahren, wo du bist, und wir müssen auch dafür sorgen, daß sie es nicht herausfinden können.«
»Ich werde Maya mit ihm schicken«, schlug Forral vor. »Sie wird dafür sorgen, daß er sicher dort ankommt.«
»Natürlich begleite ich ihn«, sagte Maya. Sie beugte sich zu dem jungen Magusch hinab und umarmte ihn. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie zu ihm. »Wir werden uns um dich kümmern.«
Als Maya und Parric zu Bett gegangen waren, standen Aurian und Forral noch eine Weile Arm in Arm vor der Couch und betrachteten den schlafenden Magusch. »Armer Kerl«, sagte Forral leise. »Dank sei der Göttin, daß er sich wenigstens an dich wenden konnte – aber du hast dich ja immer um die Schwierigkeiten anderer gekümmert. Meine Herzallerliebste, was wärst du für ein Erzmagusch!«
Jetzt, nachdem D’arvan endlich eingeschlafen war, konnte Aurian ihren Zorn über die Art und Weise, wie man ihn behandelt hatte, nicht länger zurückhalten. »Ich will nicht deren verdammter Erzmagusch sein! Mir gefällt nicht, was dort oben vor sich geht. Nichts ist dort mehr so, wie es sein sollte, und Miathan – nun, nach der Art und Weise, wie er Anvar behandelt hat und – und nun dies …« Sie brachte es immer noch nicht fertig, Forral zu erzählen, daß der Erzmagusch versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Aber ihr Entschluß stand jetzt fest. »Forral, mir reicht es jetzt! Ich habe genug von der Akademie – und von den Magusch; jedenfalls von den meisten von ihnen. Wir verfügen über so viele Kräfte und Fähigkeiten, aber wir denken nie dran, sie einzusetzen, um dem Volk zu helfen. Wir könnten schon soviel Gutes gewirkt haben, wenn wir nicht so arrogant und nur mit uns selbst beschäftigt wären. Ich will fort – um meinen eigenen Weg in der Welt zu finden. Und ich will bei dir sein – die ganze Zeit, nicht nur für diese flüchtigen Momente!«
Forral sah sie ernst an. »Vielleicht hast du recht«, sagte er sanft. »Ich denke schon lange so über die Magusch – bei den Göttern, wenn du nicht gewesen wärst, dann wäre ich schon vor Jahren gegangen. Natürlich können wir gehen, Liebes. Aber wir müssen alles sorgfältig planen, und dann müssen wir sehr schnell und sehr weit fliehen, um Miathan zu entkommen. Er wird dich nicht so ohne weiteres gehen lassen.«
»Wir müssen auch Anvar mitnehmen«, sagte Aurian drängend. Sie blickte sich nach ihrem Diener um, der auf einem Stuhl saß und eingeschlafen war. »Zumindest können wir ihm seine Freiheit zurückgeben.« Vorsichtig, damit er nicht wach wurde, bedeckte sie ihn mit einer weiteren Decke aus Forrals Schlafkammer.
»Wir könnten alle etwas Schlaf brauchen«, schlug Forral vor. »Wenn D’arvan und Maya erst einmal sicher auf ihren Weg gebracht sind, dann können wir für uns selbst die Pläne schmieden.« Er gähnte. »Komm, Liebes. Komm zu Bett. Wir sind zu müde, um noch klar zu denken – und ich muß morgen früh gut ausgeschlafen sein. Mir steht im Rat wieder ein Kampf mit dem verfluchten Erzmagusch bevor – kannst du dir vorstellen, daß er schon wieder die Abwasserabgabe erhöhen will? Er wird keine Ruhe geben, bis er diese Stadt völlig ausgesaugt hat. Wenn dies mein letzter Kampf mit ihm sein soll, dann muß es wenigstens ein guter Auftritt werden – vor allem nach dem, was ich heute abend gesehen habe!«
Aurian ging dankbar mit ihrem Liebsten zu Bett, um sofort die traurige Feststellung machen zu müssen, daß sie kaum noch etwas hatten, um sich damit zuzudecken. »Du ziehst mir besser heute nacht nicht die Bettdecke weg«, sagte sie zu Forral. »Ich friere sowieso schon dauernd.« Sie kuschelte sich an ihn. »Das erinnert mich daran, wie ich dir damals, als ich noch klein war, alle meine Decken gebracht habe, damit du bei uns im Tal bleiben konntest.« Sie schlang ihre Arme um ihn. »Ach, bei den Göttern, Forral, ich liebe dich! Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dich zu verlieren.«
Forral drückte sie fest an sich und strich ihr übers Haar. »Du wirst mich niemals verlieren«, versicherte er ihr. »Niemals, solange ich lebe.«
Während er sprach, verspürte Aurian wieder das stechende Gefühl einer drohenden Vorahnung – wie Eis, das über ihre Haut schabte. Sie schauderte und schloß Forral noch fester in ihre Arme, bis er grunzend einen schläfrigen Protest vorbrachte. Das kann nicht sein, versicherte sie sich selbst verzweifelt. Ich bin müde und erschöpft, das ist alles – ich bilde mir etwas ein. Sie schloß die Augen fest zu und tat ihr möglichstes, um die Befürchtungen aus dem Sinn zu bekommen. Aber trotz aller Erschöpfung fand Aurian in dieser Nacht keinen Schlaf.