3 Der Sohn des Bäckers

»Hü!« Anvar schnalzte mit den Zügeln und drängte das alte Pferd den zerfurchten, ausgefahrenen Weg entlang, der sich von der Mühle am Fluß den Hügel hinaufschlängelte. Lazy warf den Kopf zurück und protestierte wiehernd dagegen, die schwere Wagenladung Mehl den steilen Hügel hinaufziehen zu müssen. »Mach dir nichts draus«, sagte Anvar zu dem Pferd. »Wenigstens ist dir jetzt warm. Und wenn wir nach Hause kommen, gebe ich dir ein gutes Frühstück.« Er hauchte in seine Hände und schlug sich auf die Oberschenkel, um die steife Kälte aus seinen Fingern zu vertreiben. Der eisige Morgenfrost war ihm in die Knochen gesickert, und das lodernde Feuer der Mühle schien bereits Millionen Meilen weit entfernt zu sein. Aber eine andere Art von Feuer wärmte Anvars Blut, als er an das Lächeln der hübschen Müllerstochter Sara dachte.

Reichtum und Macht der Stadt Nexis lagen in der Hand der reichen Kaufleute, der hochrangigen Krieger der Garnison und des hochmütigen Geschlechts der Magusch. Für das gemeine Volk war das Leben viel schwerer, für die Handwerker und Schneider, die Diener, Arbeiter, die Ladenbesitzer, Kahnführer und die Lampenanzünder, die das Leben der Stadt mit ihren niedrigen, aber wichtigen Arbeiten in Gang hielten. Die Kinder lernten in frühen Jahren notgedrungen, Verantwortung zu übernehmen, und Anvars Vater, ein Bäckermeister aus der Stadt, hatte seinem ältesten Sohn, sobald er alt genug war, den Karren zu fahren, die Aufgabe übertragen, das Mehl zu holen. Obwohl der Weg über die Straße länger dauerte und besonders im Winter sehr beschwerlich war, sparte man auf diese Weise doch die enormen Frachtzölle, die am Fluß erhoben wurden.

Seit seiner ersten Fahrt zur Mühle vor langer Zeit war die hellhaarige, elfenhafte, kleine Sara seine beste Freundin gewesen. Als sie noch jünger waren, stahlen sie sich nachmittags heimlich fort, um miteinander zu spielen. Dann trafen sie sich irgendwo auf dem schmalen Treidelpfad, der flußabwärts in die Stadt führte. Jetzt, da sie das ungeheure Alter von fünfzehn erreicht hatten, hatten ihre Spiele jedoch eine neue und ernste Wendung genommen. Anvar war verliebt, und er hatte keine Zweifel daran, daß Sara ebenso empfand. Beide Elternpaare ließen die beiden jungen Leute gewähren. Torl, Anvars Vater, und Jard, der Müller, sahen beide einen Vorteil darin, die beiden Geschäfte eines Tages zusammenzulegen, und die Mütter hatten j bei dieser Angelegenheit natürlich nichts zu sagen.

Anvar lächelte, und er dachte immer noch an Sara, als er oben auf dem Hügel angekommen war und den knarrenden Wagen auf die Hauptstraße lenkte. Nexis lag hinter einem eisigen Nebel verborgen, der grau und undurchdringlich unter ihm über dem bewaldeten Tal waberte. Nur die schimmernden, weißen Türme und die Kuppel der Akademie, die hoch oben auf ihrem steinigen Felsvorsprung über dem Rest der Stadt thronte, hoben sich aus dem Nebel heraus. Anvars Lächeln verwandelte sich bei diesem Anblick in ein finsteres Stirnrunzeln. Da oben schliefen sie sicher noch, dachte er. Schnarchten auf mit Schwanendaunen gefüllten Matratzen, während ehrliche Leute schon vor Tagesanbruch aufstanden, um ihren Arbeiten nachzugehen! Sein Vater hatte nichts übrig für das Maguschvolk; arrogante Parasiten waren sie seiner Meinung nach und eine Beleidigung für jeden anständigen Menschen. Das war eine in Anvars Nachbarschaft geläufige Betrachtungsweise, die er niemals in Frage gestellt hatte, obwohl ihm aufgefallen war, daß die Männer in den Schankstuben nur mit gedämpften Stimmen darüber sprachen und sich nervös über die Schulter sahen, wenn es um die Magusch ging.

Plötzlich gelangten Anvars Tagträumereien zu einem jähen Ende, als das alte Pferd scheute und bei dem Klang fremder Hufschläge die Ohren anlegte. Jemand kam hinter ihm den Hügel herauf, und dieser Jemand galoppierte gefährlich schnell über den vereisten Weg. Er seufzte und lenkte den Karren vorsichtshalber zur Seite. Wahrscheinlich war es ein Kurier, der zur Garnison wollte, zur Akademie oder zum Viertel der Kaufleute, und Anvar wußte es besser, als den Geschäften Höhergestellter im Weg zu sein.

Das Pferd war am Ende seiner Kräfte. Als es vorübergaloppierte, konnte Anvar das Pfeifen seiner gequälten Lungen trotz des Hufgedonners hören. Er sah auch kurz die schweißüberströmten, blutbefleckten Flanken des Tieres, als es an ihm vorbeistob, und hörte, wie der stämmige Reiter das Pferd verfluchte, während er mit den Zügeln auf das Tier eindrosch. Dieses Schwein! Anvar kochte innerlich, erzürnt über diese grausame Behandlung. Er drängte sein eigenes Pferd mit sanfter Hand voran, als könne er durch seine Freundlichkeit irgendwie wieder wettmachen, was er gerade beobachtet hatte. Dann hörte er, wie der Hufschlag, der sich bereits entfernt hatte, jäh aussetzte. Mit einem grausig dumpfen Dröhnen stürzte das Pferd zu Boden; dann setzte ein Schwall wilder Flüche ein.

Anvar kam mit seinem Karren um die Kurve und sah die düstere Masse des toten Pferdes am Straßenrand liegen. Der Junge kochte immer noch vor Wut. Der große Kerl, der das Pferd geritten hatte, stand nun darübergebeugt, vollkommen unversehrt, aber offensichtlich so außer sich, daß er die Luft mit seinen Verwünschungen versengte. Anvar konnte vor Zorn kaum an sich halten. Ohne die Konsequenzen seines Tuns zu bedenken, sprang er vom Wagen und stürzte sich auf den großen, bärtigen Reiter. »Bastard!« schrie er. »Du bist ein niederträchtiger Bastard!« Der Mann ignorierte ihn vollkommen, bis sein Blick plötzlich auf die Karre fiel. Dann fegte er Anvar mit beiläufiger, verächtlicher Stärke aus dem Weg, lief zu Lazy hinüber und zog einen Dolch aus dem Gürtel, um dem alten Pferd die Zugriemen abzuschneiden.

Anvar zog sich mühsam aus dem Straßengraben heraus, entsetzt über das Ergebnis seiner Torheit. »Nein!« schrie er und stürzte sich abermals auf den wahnsinnigen Reiter. Ein heftiger Schlag schleuderte ihn zu Boden. Der große Mann warf nun auch den Rest des Geschirrs zu Boden, schnitt die herabhängenden Enden der langen Zügel ab und sprang rittlings auf den bloßen Rücken des Pferdes. Lazy scheute und rollte mit den Augen, aber der Mann brachte das alte Pferd mit einem heftigen Ruck an den Zügeln unter seine Kontrolle. Anvar kam mit Tränen in den Augen wieder hoch und zog verzweifelt an dem schmutzigen Umhang des Reiters. »Bitte, Herr«, bat er, »er ist schon alt. Du kannst ihn nicht …«

Der Fremde drehte sich zu ihm um und warf ihm einen Blick zu, als sähe er ihn zum ersten Mal. Sein grimmiger Gesichtsausdruck wurde plötzlich weich und spiegelte Mitleid und Bedauern wider. »Es tut mir wirklich leid, Junge«, sagte er freundlich, »aber es ist ein Notfall. Das Leben eines jungen Mädchens steht auf dem Spiel, und ich muß zur Heilerin. Versuch, es zu verstehen. Ich werde dein Pferd in der Akademie zurücklassen. Sag den Leuten dort, Forral hätte dich geschickt.« Dann legte er für einen Augenblick seine Hand auf Anvars Schulter und war auch schon unter lautem Hufgeklapper auf und davon. Anvar starrte ihm noch lange nach, dann machte er sich daran, über den verlassenen Karren mit seiner kostbaren Fracht nachzudenken. Das Mehl würde an diesem Morgen zu spät kommen, und Torl konnte nicht mit der Arbeit anfangen. Dadurch würden sie Geld verlieren, soviel stand fest. Anvar seufzte und machte sich auf den Weg zurück zur Mühle, um sich dort ein Pferd zu leihen. Sein Vater würde fuchsteufelswild sein.

Anvars Familie lebte im Norden von Nexis, in dem dichtbevölkerten Labyrinth schmaler Straßen, die sich innerhalb der großen Stadtmauer auf dem höhergelegenen Teil des breiten Talhanges zusammendrängten. Weiter unten lagen die großen, steingepflasterten Durchgangsstraßen mit ihren prachtvollen, säulengestützten Bauten und herrlichen Märkten und Geschäften; ein kleines Stück abseits, auf einem Plateau, einer Abflachung des Hanges oberhalb eines steilen Absturzes, stand der große, graue, festungsartige Komplex der legendären Garnison. Im Flußtal selbst erstreckten sich am Nordufer die Viertel mit den Speichern und Lagerhäuser der Händler und allem anderen, was zum Hafenleben gehört: Ratten, Bettler, Taschendiebe und Huren. Elegante Brücken überwölbten den breiten Strom des Flusses an verschiedenen Stellen und verbanden die Arbeiterviertel im Norden der Stadt mit dem ganz anderen Milieu des Südufers.

Dort stieg das Tal in einer Staffel steiler, bewaldeter Terrassen scheinbar endlos an. Wie Juwelen glitzerten zwischen den Bäumen die luxuriösen Villen der Kaufleute mit ihren gepflegten Rasenstücken und den üppigen, blühenden Gärten, in denen an lauen Sommerabenden, wenn die Luft schwer vom Duft der vielen Blüten war, bunte Laternen brannten. Etwa auf der Hälfte seines Weges durch die Stadt beschrieb der Flußlauf eine nach Norden ausholende Schlinge, bevor er seinen Weg nach Westen, zum Meer hin, fortsetzte. Fast ganz vom Fluß umschlossen, erhob sich in dieser Schlinge ein gewaltiges Felsmassiv, beinahe eine Insel, die nur mit einer schmalen, von einem weißen Spitzbogentor versperrten Landenge mit dem Südufer verbunden war. Hoch oben auf dem Felsvorsprung, dem höchsten Punkt der Stadt, befanden sich die weiß glänzenden Türme der Akademie. Dort lebte das Maguschvolk in stolzer, selbstgewählter Abgeschiedenheit.

Es ging schon auf Mittag zu, als Anvar sein geborgtes Pferd an den Wachen am nördlichen Stadttor vorbeilenkte und sich durch die schmalen Straßen seinen Weg nach Hause bahnte. Die Häuser und Werkstätten in diesem Teil der Stadt waren einfach, aber solide gebaut, aus Holz, Backsteinen und Mörtel. Der größte Teil der Häuser war sehr gepflegt, und die Straßen waren zwar nur mit Kopf Steinpflaster befestigt, aber sauber. Anvar hatte gehört, daß die Menschen in kleineren Städten ihre Abfälle einfach aus dem Fenster warfen und so die Durchgangsstraßen in offene Kloaken verwandelten. In Nexis, dem Juwel unter den Städten und der Heimat der Magusch, wäre so etwas einfach undenkbar gewesen. Etwa vor zweihundert Jahren hatte Bavordran, ein Magusch mit der Gabe der Wassermagie, ein raffiniertes und wirksames System unterirdischer Kloaken ersonnen und die ganze Stadt damit ausgerüstet, und ausnahmsweise nahmen die Magusch – denn sie waren nicht gerade berühmt dafür, daß sie den Sterblichen in Nexis zur Seite standen – die Pflicht der magischen Instandhaltung dieser Kloake wirklich ernst.

Anvars Familie wohnte direkt über Torls Bäckerei, in der Brot, Kuchen und Pasteten gebacken wurden. Ihre Ware verkauften sie auf dem kleinen Markt, der täglich auf dem nahe gelegenen Marktplatz stattfand. Normalerweise erfüllte der Duft frisch gebackener Brotlaibe die Straße, aber heute war das anders. Als er sich dem Haus näherte, konnte Anvar die wütende Stimme seines Vaters hören und biß sich nervös auf die Lippen. Er würde Ärger bekommen, soviel stand fest. Er steuerte den Wagen vorsichtig durch die schmale Gasse, die zu dem kleinen Stall hinter dem Haus führte und brachte Jards Pferd in Lazys Box unter. Es hatte keinen Sinn, die Sache vor sich herzuschieben. Je später er kam, um so wütender würde Torl sein. Also straffte er die Schultern, ging quer über den Hof und trat widerwillig in die Backstube ein. Er hoffte, sein Vater würde ihm eine Chance geben, alles zu erklären.

Torl war nicht in der Stimmung für Entschuldigungen. »Aber es war nicht meine Schuld!« flehte Anvar ihn an. »Er hat mich einfach niedergeschlagen und das Pferd genommen …«

»Und du hast das einfach so zugelassen! Das Tier ist unser Lebensunterhalt, du dummer Kerl! Weißt du, was du getan hast? Weißt du das?« Torl hob seine riesige Faust; sein Arm war von dem jahrelangen Stemmen der Mehlsäcke und dem Kneten von zähem Teig sehnig und muskulös. Anvar duckte sich, aber der Schlag traf ihn an der Schulter und schleuderte ihn in die Ecke, wo er im Fallen einen Stapel leerer Brotbleche umwarf.

»Unbeholfener Narr!« Sein Vater kam wie ein drohender Schatten auf ihn zu, zerrte ihn auf die Füße und schlug abermals zu. »Bleib, wo du bist, du!« Der Bäcker begann, sich seinen Gürtel abzuschnallen.

»Laß den Jungen in Ruhe, Torl. Es war nicht seine Schuld.« Großvaters Stimme war voll ruhiger Autorität. Anvar, der sich seine blauen Flecken rieb, sackte angesichts der unerwarteten Rettung vor Erleichterung zusammen. Der alte Mann war der einzige Mensch, der sich Torls Temperament, wenn er in einer solchen Stimmung war, widersetzen konnte.

Großvater war Anvars Vertrauter, sein Lehrer, Beschützer und Freund; ein Koloß von einem Mann mit dichtem, weißem Haarschopf, freundlichem Gesichtsausdruck und stoppeligem Schnurrbart. Er war früher von Beruf Zimmermann gewesen, und seine Hände mit den dicken Fingern konnten Wunder wirken, wenn er die komplizierten, zarten Schnitzereien anfertigte, die so sehr gefragt waren. Auf diese Weise hatte er der Familie im Laufe der Jahre so manchen willkommenen Pfennig eingebracht, aber sehr zu Torls heftigem Mißfallen verschenkte er ebenso viele Stücke, wie er verkaufte. Der alte Mann, im Herzen ein Bauer, war nach dem tragisch frühen Tod seiner Frau, einer legendären Köchin, zu seinem Sohn gezogen. Torls Mutter war es auch gewesen, die ihrem Sohn all das beigebracht hatte, was seine Backwerke heute so begehrt machte. Viele Jahre lang hatte Großvater versucht, seinen Gram in der Arbeit zu ersticken, aber nun war er zufrieden damit, sich auszuruhen, seine Enkelsöhne zu genießen und sie die schon fast vergessenen, einfachen Werte seiner eigenen Jugend zu lehren. In Anvar hatte er einen willigen Schüler, aber Bern, der jüngere Bruder, war ganz der Sohn seines Vaters, angefangen bei seiner dunklen, stämmigen Erscheinung bis hin zu seiner Liebe zum Geschäft und der Sucht nach Gewinn.

Torl machte ein finsteres Gesicht. Dann ließ er Anvar los, um sich Großvater zuzuwenden. »Du hältst dich da raus, alter Mann!«

»Das glaube ich nicht, Torl. Diesmal nicht.« Großvater stellte sich zwischen den zornigen Bäcker und sein Opfer. »Du bist zu hart mit dem Jungen.«

»Und du verziehst ihn, du und seine Mutter! Kein Wunder, daß der Junge nichts taugt!«

»Und ob er etwas taugt – er taugt sogar zu vielem, wenn du ihm nur eine Chance geben würdest«, sagte Großvater fest. »Statt deinen Zorn an ihm auszulassen, solltest du besser zur Akademie hinaufgehen und feststellen, was aus dem Pferd geworden ist.«

»Was? Ich soll durch die ganze Stadt gehen und dann noch zur Akademie hinauf? Hast du den Verstand verloren, Vater? Wegen dieses Idioten hier haben wir heute schon genug Zeit verschwendet!«

»Das ist Unsinn, Torl. Du kannst Jards Pferd nehmen, und vielleicht ist der Ritt die Zeit ja wert. Es kann nicht schaden, deinen Namen oben in der Akademie bekannt zu machen – die essen nämlich auch Brot, weißt du. Wir können schon mit dem Backen anfangen, während du unterwegs bist, und es besteht immerhin eine gute Chance, daß dieser Forral dich für den Schaden entschädigt. Nach dem, was Anvar gesagt hat, scheint er ein ehrenwerter Mann zu sein, und wenn es ein Notfall war – was konnte er dann tun? Du hättest dasselbe getan, wenn Bern irgend etwas zugestoßen wäre.«

Torl zögerte einen Augenblick und sagte dann mit noch immer finsterer Miene: »Diese Bastarde da oben können meinetwegen verhungern, bevor ich ihnen auch nur einen einzigen Brotkrumen verkaufe. Außerdem, du alter Narr, backen sie ihr eigenes Brot – oder sie haben unter dem kriecherischen Abschaum der Sterblichen jemanden gefunden, der diese Arbeit für sie erledigt!« Zufrieden darüber, das letzte Wort gehabt zu haben, stampfte er hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.

Großvater zuckte mit den Schultern und legte einen Arm um Anvar. »Nun komm, mein Sohn, wir fangen besser gleich an. Wir hinken heute morgen schon ein ganzes Stück hinterher, und es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß sich die Laune deines Vaters noch bessern wird.«

Als Anvar seinem Großvater folgte, hallten die letzten Worte des alten Mannes in Torls Kopf wider. Bern – seines Vaters Liebling! Und er machte sich nie die Mühe, diese Tatsache zu verbergen. Immer nur Bern. Anvar warf einen mürrischen Blick auf seinen dunkelhaarigen, jüngeren Bruder, der hämisch grinsend in der Tür stand. Warum mußte Torl ihn immer so bevorzugen? Großvater hatte recht. Wenn Bern etwas zugestoßen wäre, hätte sein Vater Berge versetzt, um ihm zu helfen. Für ihn, Anvar, hätte er dagegen … Anvar seufzte. Er wußte nur zu gut, was sein Vater von ihm hielt. Aber wenn er doch nur herausfinden könnte, warum das so war.

Bei Einbruch der Dunkelheit zog Anvar sich die Leiter zu dem vollgestopften kleinen Dachboden hinauf, den er mit Bern teilte. Endlich war er mit der Arbeit fertig. Er war zu müde gewesen, etwas von dem besonders guten Abendbrot zu essen, das seine Mutter zubereitet hatte, um die düstere Stimmung seines Vaters zu besänftigen. Da er nicht einmal mehr die Kraft hatte, sich auszuziehen, warf er sich einfach aufs Bett. Götter, war das ein schrecklicher Tag gewesen! Torl hatte sie wie Sklaven schuften lassen und seine Wut über Anvars Mißgeschick an der ganzen Familie ausgelassen. Seine Mutter war am Ende des Tages bleich gewesen und hatte vor Müdigkeit gezittert, und Anvar wurde von seinen Schuldgefühlen beinahe überwältigt, denn er wußte, daß er die Ursache für ihre Erschöpfung war. Ria war niemals sehr stark gewesen, aber sie schuftete, ohne sich zu beklagen, aus Angst, daß Torls Zorn sich wieder auf ihren Sohn richten würde, wenn sie auch nur einen Augenblick verschnaufte. Anvar fragte sich, wie so oft schon, was diese sanfte, intelligente Frau bewogen hatte, seinen groben und geldgierigen Vater zu heiraten. Sie hätte etwas weit Besseres verdient. Sie war zart und schlank, hatte genau wie Anvar dunkelblondes Haar und blaue Augen und war offensichtlich einst eine Schönheit gewesen.

Rias Vergangenheit war ein Rätsel. Im Gegensatz zu allen anderen in ihrer Nachbarschaft konnte sie lesen und schreiben und musizieren, Fertigkeiten, die sie Anvar beigebracht hatte. Eine reine Zeitverschwendung hatte Torl es genannt und darauf hingewiesen, daß Bern mehr Verstand hatte, als die Grillen der sogenannten besseren Leute nachzuäffen. Er trat in die Fußstapfen seines Vaters, wie es sich für einen ordentlichen Sohn gehörte. Aber ausnahmsweise einmal hatte Ria ihrem Mann getrotzt, und Anvar war froh darüber. Seit dem Tag, an dem sein Großvater ihm seine erste kleine Holzflöte geschnitzt hatte, hatte er sich in die Musik verliebt und jede freie Minute des Tages mit Üben verbracht, womit er seine Familie, vor allem seinen Vater, zur Verzweiflung trieb. Schon bald beherrschte er all die einfachen Melodien, die er kannte, und hatte begonnen, seine eigenen zu komponieren, wobei er die Möglichkeiten der einfachen Flöte bis an ihre Grenzen ausgelotet hatte – selbst Großvater hatte bei all seiner Kunstfertigkeit inzwischen Schwierigkeiten, ihm Instrumente zu bauen, denen er die Töne entlocken konnte, die er für seine Weisen brauchte. Anvar lebte ganz für seine Musik. Sein Spiel und Sara waren der einzige Trost in seinem Leben, das sonst nur aus harter Arbeit bestand, und er segnete seine Mutter dafür, daß sie ihm ein so kostbares Geschenk gemacht hatte.

Anvar liebte Ria. Mit den Jahren war sie verwelkt und inzwischen zu sehr von Sorgen gezeichnet und eingeschüchtert, um sich gegen den tyrannischen Torl noch zur Wehr setzen zu können. Anvar wünschte nur, er könnte sie besser beschützen – aber obwohl er zu einem sehr großen und breitschultrigen Jüngling herangewachsen war, hatte das doch nichts an der Schlaksigkeit seiner mageren Gestalt geändert. Wenn es zu einer Auseinandersetzung käme, konnte Torl ihn immer noch mit einem einzigen Schlag fällen.

Anvar seufzte. Heute nacht hatte er andere Probleme, über die er nachdenken mußte. Er war mit Sara an ihrem gewöhnlichen Treffpunkt am Flußufer verabredet, aber die mörderische Arbeitslast, die ihm von Torl auferlegt worden war, hatte ihn den ganzen Tag über in Atem gehalten. Er hoffte nur, daß sie nicht wütend sein würde, wenn er jetzt nicht mehr kommen konnte. Außerdem war er traurig wegen des armen Lazys. Forral hatte ihn zuschanden geritten, und Torl in seiner Rohheit hatte ihn an den Pferdeschlächter verkauft. Anvar trauerte um den Verlust des alten Pferdes. Wenn auch störrisch und halsstarrig, hatte das Tier doch Charakter und Intelligenz besessen – die es regelmäßig dazu benutzte, sich vor der Arbeit zu drücken. Anvar würde ihn vermissen. Torl dachte jedoch nur an die großzügige Summe, die Forral ihm in der Akademie hinterlassen hatte. Er hatte Anvars Reitersmann allerdings nicht zu Gesicht bekommen, denn Forral hatte sich nur lange genug aufgehalten, um die Lady Meiriel, die Heilerin, abzuholen, und die beiden waren so schnell wie möglich auf frischen Pferden nach Norden aufgebrochen.

Anvar fragte sich, was das wohl für ein Mädchen war, dessen Leben das in Gefahr schwebte. Zuerst war er geneigt gewesen, das mysteriöse sterbende Mädchen zu verabscheuen, das all diese Unannehmlichkeiten verursacht hatte, aber als er so darüber nachdachte, stellte er fest, daß er hoffte, die Heilerin würde rechtzeitig ihr Ziel erreichen, um sie zu retten. Dann wäre Lazys Tod wenigstens nicht ganz umsonst gewesen.

Einige Wochen später hätte Anvars eigene Familie die Dienste der Heilerin verzweifelt gebraucht. Den ganzen Winter über hatte Großvater sich über Müdigkeit und Schmerzen in den Knochen beklagt, und nach dem Sonnenwendfest in der trostlosen, grauen Jahreszeit, die sich auch noch über die Jahreswende hinaus erstreckte, war der alte Mann bettlägerig und von Tag zu Tag schwächer geworden – trotz Rias aufopfernder Pflege mit Kräutertränken und der alten Volksheilmittel, die die einzige Medizin waren, über die die Sterblichen in der Stadt verfügten. Als sich Anvar jedoch an Forral erinnerte und seinen Vater bat, nach der Heilerin zu schicken, wies Torl ihn schroff zurecht. »Ich weiß wirklich nicht, woher du deine Ideen hast«, sagte er. »Eine Familie wie unsere soll nach der Heilerin schicken? Sie würde uns ins Gesicht lachen! Außerdem wird von diesem Maguschabschaum keiner meine Schwelle überschreiten! Und jetzt mach dich wieder an die Arbeit, Junge, bevor ich dich meinen Gürtel spüren lasse!«

Als Anvar an diesem Abend seinen Großvater besuchte, war der alte Mann zu schwach, um mit ihm zu sprechen. Er lag mit gelbem und eingefallenem Gesicht in seinen Kissen. Seine Haut war von einer merkwürdigen Durchsichtigkeit, die Anvar nie zuvor bemerkt hatte, und ohne zu wissen warum, wurde er plötzlich von schrecklicher Angst überfallen. »Mutter, hilf ihm«, bat er.

Ria schüttelte den Kopf. Sie hatte Tränen in den Augen. »Anvar, du mußt dich damit abfinden«, sagte sie sanft. »Großvater stirbt.«

»Nein!« stieß Anvar hervor. »Er kann nicht sterben!« Dann traf er plötzlich einen Entschluß. »Ich werde zur Heilerin gehen, wenn Vater es nicht will.«

»Das kannst du nicht!« Ria wurde totenblaß, und ihre Augen weiteten sich in abgrundtiefem Entsetzen. Trotz der Verzweiflung, die Anvar empfand, erstaunte ihn ihre Reaktion. Dann warf er wieder einen Blick auf das Gesicht seines Großvaters.

»Warum nicht?« wollte er wissen. »Ich habe keine Angst vor Vater. Außerdem ist er in die Taverne gegangen. Wenn ich mich beeile, merkt er es vielleicht nicht einmal.«

»Darum geht es nicht!« Ria zitterte. Sie griff nach Anvars Händen. »Anvar, du und ich – wir dürfen niemals irgend etwas mit den Magusch zu tun haben. Ich kann dir nicht sagen warum, aber du mußt mir glauben. Halt dich von ihnen fern, mein Sohn, um meinetwillen – und ganz besonders auch um deinetwillen. «

Anvar war sprachlos vor Erstaunen. Was hatte seine Mutter mit den Magusch zu tun, das sie in solche Angst versetzen konnte? Aber sie wollte es ihm nicht sagen, und es blieb ihm auch keine Zeit mehr, es herauszufinden. Er riß sich los. »Es tut mir leid, Mutter.« Leise schlich er sich nach unten, wobei er hoffte, daß er nicht Bern begegnen würde, der immer auf der Suche nach einer Gelegenheit war, ihn in Schwierigkeiten zu bringen. Als er die Straße erreicht hatte, begann er zu laufen, den Hügel hinab in Richtung Fluß. Aus dem offenen Fenster hinter ihm drangen die Schluchzer seiner Mutter.

Anvar lief mit pochendem Herzen durch die stillen, lampenerleuchteten Straßen. Es war ein langer Weg bis zum Fluß, und sein Atem ging stoßweise, als er sich endlich den Lagerhäusern näherte. Er hatte sich für eine Abkürzung entschieden, die ihn zu der Brücke führen sollte, die der Akademie am nächsten war. Es gab nur wenige Lampen in diesem Bezirk, und Anvar hatte Angst in den dunklen Gassen, auf deren schmutzbedeckten Pflastersteinen seine Füße immer wieder ins Rutschen gerieten. Er bedauerte bereits, daß er sich für diesen Weg entschieden hatte. Der Bezirk, in dem die Lagerhäuser lagen, hatte einen schlechten Ruf. Als er an der dunklen, stinkenden Einmündung einer winzigen Gasse vorbeikam, hörte er plötzlich ein Schlurfen, und mehrere zerlumpte Gestalten brachen aus den Schatten hervor. Als sie ihm den Weg abschnitten, konnte er gerade noch seinen Lauf bremsen. Sie umzingelten ihn, rückten näher, und der beißende Gestank ungewaschener Leiber ließ ihn würgen. Im dämmrigen Licht eines mit Lumpen verhangenen Fensters über ihm sah er das Aufblitzen von Messern in ihren Händen, und sein Mund wurde trocken vor Angst.

»Gib uns dein Geld, Junge«, knurrte eine Stimme mit einem unvertrauten Akzent. Anvar wich zurück, bis die Mauer ihn aufhielt.

»Ich – ich habe keins bei mir«, stammelte er. »Bitte laßt mich gehen. Ich will zur Heilerin – es ist ein Notfall.« Jenseits aller Vernunft flackerte Forrals Gesicht vor seinem inneren Auge auf, als er die Worte des großen Mannes wiederholte.

Der Strauchdieb lachte. »Meine Güte, was für ein großer Herr! Auf dem Weg zur Heilerin, hm? Und ohne Geld? Durchsucht ihn, Jungs!«

Anvar wurde zu Boden geworfen. Grobe, knochige Finger durchstöberten seine Kleider und jagten ihm eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Er hatte gerade noch Zeit für einen gewaltigen Hilfeschrei, bevor sie begannen, auf ihn einzuschlagen.

Der Alptraum fand ,ein jähes Ende, als das Klappern von Hufen durch die Gasse hallte. »Berittene!« schrie jemand. »Weg hier!«

Plötzlich war Anvar ganz allein und bemühte sich, zerschunden wie er war, aufzustehen.

Eine Hand packte ihn am Kragen, und er wurde unsanft auf die Füße gerissen. »Hab ich dich erwischt!« Anvar blickte in das ernste Gesicht eines hochgewachsenen Soldaten. »Was hattest du vor, Bursche, hm?« fragte ihn der Mann mit krächzender Stimme.

»Bitte, Herr«, stammelte Anvar, der sich in der eisernen Umklammerung des Mannes wand. »Sie sind auf mich losgegangen. Ich wollte zur Akademie, um die Heilerin …«

Der Soldat brach in lautes Gelächter aus. »Na komm schon, kannst du dir denn keine bessere Geschichte ausdenken? Glaubst du, ich lebe hinterm Mond?« Er zerrte Anvar zum Ende der Gasse, wo an einer eisernen Konsole eine einsame Lampe von der Wand hing. Als er sich Anvar näher angesehen hatte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. »Du kommst nicht hier aus der Gegend«, stellte er anklagend fest. »Was hat ein Junge wie du mitten in der Nacht in diesem Bezirk verloren? Bist du denn nicht ganz bei Trost?«

Zögernd erzählte Anvar ihm von seinem Großvater.

Der Soldat ließ seinen Kragen los. »Junge«, sagte er sanft, »die Lady Meiriel gibt sich nicht mit Leuten wie deinem Großvater ab. Weißt du denn nicht, wie die Magusch sind?«

»Ich muß es wenigstens versuchen«, sagte Anvar. »Warum sollte sie ihm nicht helfen wollen? Vor einiger Zeit habe ich diesen Mann namens Forral getroffen und …«

»Du kennst Forral?« Ein Ausdruck tiefen Respekts huschte über das zerfurchte Gesicht des Soldaten.

»Wir sind uns auf der Straße begegnet – er hat mein Pferd genommen. Er sagte, er wolle zur Heilerin, um einem kleinen Mädchen das Leben zu retten. Wenn sie das tun konnte, warum sollte sie dann nicht auch meinem Großvater helfen?«

Der Soldat seufzte. »Junge, weißt du denn nicht, wer Forral ist? Er ist eine lebende Legende – der größte Schwertkämpfer der Welt –, und er ist mit einigen der Magusch befreundet. Das Mädchen war die Tochter von Eilin, der Lady vom See. Wir haben in der Garnison davon gehört. Nun, ich weiß nicht einmal, ob die Lady Meiriel schon zurück ist – das Tal ist weit von hier entfernt, hoch oben im Norden. Es tut mir leid, mein Sohn, aber selbst wenn sie schon zurück ist, wird sie sich nicht zu dieser späten Stunde für irgend jemandes Großvater auf den Weg machen.«

»Aber wenn ich nur erklären könnte …« Anvar ließ sich so leicht nicht ins Bockshorn jagen.

»Nun, sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Der Soldat klang resigniert. »Na komm, ich nehme dich auf meinem Pferd mit. Wenn du allein dort raufgehst, werden die Magusch dich wahrscheinlich erst noch für deine Unverschämtheit auspeitschen, bevor sie dich rauswerfen.«

Die Hufschläge hallten laut über den Damm, der hinüber zum Felsen der Magusch führte, als Anvar und der Soldat sich langsam dem weißen Tor näherten. Der Torhüter war ein alter Mann – ein Sterblicher wie alle Diener der Magusch. Als Anvars neuer Freund ihm erklärte, warum sie gekommen] waren, sah der Mann sie nur ungläubig an. »Was? Macht ihr Witze? Die Lady Meiriel ist gerade erst von einer langen Reise nach Hause gekehrt. Ich werde mich hüten, sie zu stören. Und du solltest wirklich mehr Verstand haben, Hargorn, als den Jungen hier heraufzubringen.«

»Ich weiß, aber das hier ist ein ganz besonderer Fall«, beharrte Hargorn. »Das ist der Junge, der Forral sein Pferd gegeben hat. Nun, wenn er nicht gewesen wäre, wäre das kleine Maguschmädchen vielleicht doch gestorben, bevor die Heilerin zu ihr kommen konnte. Das ist doch sicherlich ein Punkt, der eine gewisse Überlegung verdient.«

Der alte Mann seufzte. »Oh, na schön. Ich werde sie fragen. Aber sie wird bestimmt nicht begeistert sein.«

Er verschwand wieder in dem niedrigen, weißen Pförtnerhaus. Auf einem Holzregal im Innern des Hauses stand eine Ansammlung von Kristallen, die alle in verschiedenen Farben erglühten. Der Torhüter griff nach einem Stein, der ein dunkles, ins Violette spielende Blau verströmte, und sprach mit leiser Stimme hinein. Nach einer Weile nahm ein Lichtfleck schimmernd vor ihm Gestalt an, und Anvar keuchte, als dieser Fleck sich in das Gesicht einer Frau verwandelte, einer Frau mit dunklem, kurzgeschnittenem Haar, hohen Wangenknochen und einer arroganten, vorspringenden Nase. Ihr Gesichtsausdruck war schläfrig und ungehalten. »Was ist los?« fragte sie schroff. »Ich hoffe für dich, daß du einen guten Grund hast, mich zu dieser Stunde zu stören!« Mit vielen Verbeugungen und Entschuldigungen erklärte der Torhüter die Situation. Die Lady Meiriel runzelte die Stirn .»Wie oft habe ich dir gesagt, daß du mich nicht wegen solcher Nichtigkeiten stören sollst? Wenn ich mich um jeden kranken Sterblichen in Nexis kümmern sollte, würde ich meine Kraft an einem einzigen Tag erschöpfen! Schick den Burschen weg – und was dich betrifft, so wird der Erzmagusch morgen erfahren, daß ich deine Unfähigkeit nicht länger hinnehmen werde. Solche Dinge passieren viel zu oft! Du bist offensichtlich nicht für deinen Posten geeignet!«

Das Gesicht flackerte noch einmal auf und erlosch dann. Der Torhüter wandte sich wieder an Hargorn. »Siehst du, was du da angerichtet hast«, jammerte er, aber es war niemand mehr da.

Der Soldat holte Anvar ein, bevor er am Ende des Dammes angelangt war. »Laß mich in Ruhe!« rief der Junge blind von Tränen. Hargorn legte ihm freundlich die Hand auf die Schulter.

»Es tut mir leid, Junge, aber ich habe dich ja gewarnt. Nun komm, ich bringe dich nach Hause.«

Großvater starb noch vor Morgengrauen. Als Anvar über die Leiche des alten Mannes in Tränen ausbrach, versuchte seine Mutter, ihn zu trösten. »Du darfst nicht so traurig sein«, sagte sie sanft und legte einen Arm um seine zitternden Schultern. »Sieh ihn dir doch an.« Ein Lächeln reiner, erhabener Freude verklärte Großvaters Züge. »Er ist jetzt wieder bei Großmutter«, sagte Ria. »Er hat sie so sehr geliebt, und in all diesen Jahren hat er sie furchtbar vermißt. An seinem Gesicht kannst du sehen, daß sie jetzt wieder zusammen sind. Ich wußte, wie sehr er dir fehlen würde, Liebling, aber du solltest auch versuchen, um seinetwillen glücklich zu sein.«

»Wie kannst du das alles wissen?« fragte Anvar. »Wie kannst du sicher sein, daß er jetzt überhaupt irgendwo ist? Er ist tot! Obwohl diese verfluchte Heilerin ihn hätte retten können!«

Ria seufzte. »Anvar, Großvater war alt und am Ende seiner Kräfte. Es hat ihm hier in der Stadt niemals wirklich gefallen, und er hatte ein hartes Leben hinter sich. Er war müde, das ist alles. Ich glaube nicht, daß die Lady Meiriel irgend etwas hätte tun können …«

»Sie hätte es versuchen können!« Anvar war sich nur verschwommen darüber im klaren, daß er laut schrie. »Sie hätte sich um ihn kümmern können! Aber er war nur ein Sterblicher. Wir bedeuten diesen Maguschleuten weniger als Tiere!«

Ria seufzte wieder und ging aus dem Zimmer, um ihn ein letztes Mal mit seinem Großvater allein zu lassen. Und als er dort in der kalten Kammer neben der leeren Hülle dessen kniete, was einst ein guter und liebevoller Mann gewesen war, schlug ein tiefer, kalter Haß auf die Magusch in seinem Herzen Wurzeln.

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