18 Leviathan

Sie schwamm. Was, zur Hölle, ging hier vor? Das konnte doch nicht der Tod sein – nicht schon wieder ein dunkler, kalter Ozean. Ein inneres Zeitgefühl sagte Aurian, daß nur ein paar Sekunden vergangen sein konnten, seit sie ihr Bewußtsein verloren hatte – und ihr Gefühl trog sie nicht. Dann stellte sie zu ihrem größten Erstaunen fest, daß sie ohne Anstrengung atmete. Unter Wasser atmete! Aurian lachte laut auf. Es klang gedämpft und verzerrt, als die Lungen Wasser durch ihren Mund drückten. Die Legenden hatten also recht. Ein Magusch konnte nicht ertrinken. Ihr Körper mußte die Umstellung von der Luft- zur Wasseratmung instinktiv vorgenommen und ihre Lungen dem neuen Medium angepaßt haben. Ich wette, davon weiß Miathan nichts, dachte sie triumphierend. Er wird denken, daß ich tot bin, und da ich dafür gesorgt habe, daß er sich zunächst einmal ums ich selbst kümmern muß, wird er auch nichts anderes argwöhnen. Bei den Göttern, ich hoffe, daß er sich in Schmerzen windet.

Dann fielen ihr Anvar und Sara wieder ein. Ihre Lungen würden sich nicht anpassen. Sie würden ertrinken. Sie machte kehrt und wandte sich wieder den umhertreibenden Wrackteilen des unseligen Schiffes zu, tauchte dort nach ihnen und versuchte den quälenden Gedanken zu ignorieren, daß es wahrscheinlich nutzlos war. Aber sie hatte Vannor versprochen, daß sie auf Sara achtgeben wollte, und sie selbst, Aurian, war es ja gewesen, die Anvar die ganze Geschichte eingebrockt hatte. Sie mußte es also versuchen. Aber es war unmöglich, unterhalb der dunklen Wellen irgend etwas zu erkennen. Selbst mit ihrer angeborenen Nachtsichtigkeit konnte sie diese Trübnis nicht durchdringen. Sie wünschte sich, wie die Wale zu sein, deren Fähigkeit zu besitzen, Formen auch in den schwärzesten Tiefen wahrzunehmen … Natürlich! Sie tauchte unter und begann zu singen; ein Gesang, den sie erst heute gelernt hatte, den sie aber schon ihr ganzes Leben gekannt zu haben schien. Sie rief in ihren Gedanken die Leviathane und bat sie um Hilfe. Und zu ihrer Erleichterung antworteten sie.

Sie waren in erstaunlich kurzer Zeit bei ihr und durchkämmten das mit verstreuten Trümmern überzogene Wasser nach dem, was sie suchte. Einer von ihnen nahm sich ihrer an; seine ungeheure Körpermasse machte sie zum Zwerg, während er neben ihr herschwamm. Sie erkannte ihn an seinen Gedankenmustern als den Vater des Walkindes, das sie gerettet hatte. Seine tiefe, freundliche Stimme hallte in ihren Gedanken wieder. »Ich habe den Mann. Meine Gefährtin sucht die andere Frau. Kannst du auf meinen Rücken klettern, Kleine? Der Mann braucht Hilfe.«

Aurian dankte ihm und schwamm zur Wasseroberfläche, über die der Wal mit seinem breiten Rücken gerade eben herausragte. Sie kletterte mit einigen Schwierigkeiten hinauf, hoffte, daß sie ihm dabei nicht weh tat, und hatte gerade noch Zeit, sich von der Wärme seiner glatten Haut, die sie unter ihren Händen spürte, überraschen zu lassen, bevor sie anfing zu keuchen und zu würgen und keine Luft mehr bekam. Sie ertrank – ertrank in Luft!

Diesmal verlor Aurian nicht das Bewußtsein, obwohl die panikerfüllten Augenblicke, während derer sich ihre Lungen anpaßten, eine Ewigkeit zu dauern schienen. Sie versuchte, bewußt zu empfinden, was da vorging, denn sie wußte, daß sie diese Kenntnisse eines Tages vielleicht nötig haben würde.

»Hast du darüber nachgedacht, welche Konsequenzen das hat?« Die Worte, die sie einst an Finbarr gerichtet hatte, standen ihr beeindruckend klar vor Augen, während sie würgte und spuckte.

Die Magusch schaute sich benommen um. Sie war kalt und entkräftet, aber erleichtert, wieder normal zu atmen. Sie lag auf dem breiten, von Rankenfüßerkrebsen überzogenen Rücken des Wales, der sich sanft in einer wieder fast ruhigen See wiegte. Und da war auch Anvar, der steif und bewegungslos nicht weit von ihr entfernt lag. Vorsichtig balancierend, kroch sie zu ihm hinüber. Er fühlte sich kalt an – sehr kalt – und atmete nicht. Aurian überlief ein eisiger Schauder. Kam sie zu spät?

Sie versuchte, ihn mit den besonderen Sinneswahrnehmungen, die sie als Heilerin beherrschte, zu erforschen – und stellte zu ihrem Schrecken fest, daß sie dazu nicht in der Lage war. Kälte und Erschöpfung hatten ihren Tribut gefordert, und sie hatte den letzten Rest ihrer Kräfte in ihren Angriff auf Miathan gelegt. Die Anstrengung, mit dem Leviathan Kontakt aufzunehmen, hatte sie dann völlig ausgezehrt. Aurian fluchte und schlug sich unwillig mit der Faust auf den Schenkel. Jetzt, da die Not am größten war, ließ ihr Körper sie im Stich! Bevor sie nicht durch Nahrungsaufnahme und Ruhe wiederhergestellt war, würde sie nicht fähig sein, die intensiven Energien aufzubringen, die sie zum Heilen benötigte.

Aurian versuchte, ihrer Panik Herr zu werden, und dachte krampfhaft nach. Es mußte einfach eine Alternative geben. Sie dachte an Meiriels Anweisungen für diesen Notfall und drehte Anvar auf den Bauch, drückte immer wieder fest auf seinen Rücken. Ein Rinnsal von Wasser ergoß sich aus seinem Mund, aber er atmete immer noch nicht. Aurian drückte fester; die Anstrengung erwärmte sie trotz des eisigen Windes. »Atme! Wirst du wohl!« Sie ermüdete rasch; kalter Schweiß rann ihr übers Gesicht.

Am Ende, als die Magusch der Verzweiflung nahe war, hob sich Anvars Brust einmal, dann noch einmal Er hustete und übergab sich, spuckte Seewasser aus und sog in tiefen, hastigen Zügen Luft in seine Lungen; seine weit aufgerissenen Augen starrten über die sich beruhigende See und den gewaltigen, rundlichen Rücken des Wales. Er kämpfte in Aurians Armen und versuchte zu sprechen, aber er brachte nur ein Würgen hervor.

»Langsam, Anvar. Gleich wird es dir besser gehen.« Mitfühlend erinnerte sich Aurian an die furchteinflößenden Augenblicke, die sie selbst auf dem Rücken des Wales erlebt hatte, bevor sich ihre Lungen wieder daran gewöhnt hatten, Luft zu atmen. »Ruh dich eine Minute aus und schöpfe etwas Luft; währenddessen kann ich dir erzählen, was passiert ist. Anvar, die Wale sind nicht einfach wilde Tiere – es sind intelligente Wesen. Ich kann in meinen Gedanken mit ihnen reden, und dieser hat dein Leben gerettet …«

Anvar unterbrach sie. »Sara?« fragte er mit schwacher, heiserer Stimme.

Aurian schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Anvar. Warte ab, ich werde …«

»Warum haben sie Sara nicht gerettet?« Schroff und anklagend schnitt er ihr das Wort ab. »Hast du sie gebeten, es zu versuchen?«

Aurian spürte, wie empörter Zorn in ihr aufstieg. Was denn? Dieser elende, undankbare … Er hatte nicht daran gedacht, wie nahe sie daran gewesen war, ihr eigenes Leben zu verlieren, oder dafür gedankt, daß seins gerettet wurde. Für einen Augenblick schweiften ihre Gedanken zurück zu jener furchtbaren Nacht auf dem Fluß, als sie ihn in ihrer Trauer über Forral geschlagen hatte. Vielleicht tat Anvar nun das gleiche – aber nein. Er hatte sie eine Mörderin genannt, und die Erinnerung daran schmerzte immer noch. Unerträglich gereizt durch diesen neuen Beweis seines Mangels an Vertrauen in sie, konnte sie nur noch verärgert reagieren. Das reicht, dachte sie. Wenn wir an Land kommen, bin ich mit ihm fertig!

»Arger, Kleine?« Der warme Klang der Stimme des Wales hallte vorwurfsvoll durch ihre Gedanken.

»Die dritte, die noch zu uns gehörte, ist verschwunden, Mächtiger«, erklärte Aurian. »Der Mann gibt mir die Schuld.«

»Er gibt dir die Schuld?« Ironischer Humor unterlegte die Gedanken des Giganten. »Er muß große Stücke auf dich halten, daß er dich für fähig hält, solche Dinge zu vollbringen!«

Als Aurian erst einmal ihre Überraschung über diese Bemerkung überwunden hatte, verneinte sie schnell. »Ich fürchte, nein, Mächtiger. Soweit es mich betrifft, scheint er voller Zweifel zu sein.«

Der Leviathan lachte. »Kleine, wenn wir an uns selbst sehr zweifeln, dann ist es oft tröstlicher für uns, diese Zweifel auf andere zu übertragen. Der Mann wird es schon lernen mit der Zeit. Und was seine vermißte Freundin anbelangt, so kannst du ihm sagen, daß er nichts befürchten muß. Sie ist bei meiner Schwester sicher aufgehoben, und sie werden noch vor uns Land erreichen. Dafür hat er dir zu danken.«

So, wie Aurian es erwartet hatte, hellte sich Anvars Miene bei dieser Neuigkeit auf. Aber als er in überschäumender Freude seine Arme ausstreckte, um sie an sich zu drücken, wandte sie sich verärgert ab.

»Bleib weg von mir!« sagte sie scharf. »Du hast es ausreichend klargemacht, was du wirklich von mir hältst. Sobald wir an Land kommen, seid ihr auf euch selbst gestellt – du und dieser selbstsüchtige kleine Dummkopf –, und ich wünsche dir viel Spaß mit ihr, Anvar, denn eines Tages wird sie dich genauso betrügen, wie sie den armen Vannor betrogen hat!«

Anvars Gesicht verdüsterte sich. »Wie kannst du es wagen, so über Sara zu sprechen?« sagte er. »Du bist von Anfang an unfair zu ihr gewesen. Du hast keine Vorstellung, was sie durchgemacht hat …«

»Nein, und es könnte mir auch nicht gleichgültiger sein. Ich sehe, was aus ihr geworden ist, und das reicht mir. Sie wird dich ausnutzen, du Dummkopf, und dich fallenlassen, sobald es ihr zweckdienlich erscheint. Aber wenigstens werde ich dann nicht mehr dabei sein und es mit ansehen müssen. Ich bin mit euch beiden fertig, und ich hoffe, daß ich euch nie wiedersehen werde.«

Wütend, wie sie war, ließ Anvars Gesichtsausdruck Aurian dennoch innehalten. Sie hatte ihn nie so verärgert gesehen. »Das paßt mir gut!« gab er hitzig zurück. »Ich habe bemerkt, daß du nichts dagegen hattest, mich in den letzten paar Jahren auszunutzen. Nun, ich will dir eins sagen, Herrin – ich bin die längste Zeit Sklave der verdammten Magusch gewesen! Von heute an werden Sara und ich unseren eigenen Weg gehen – ohne daß du dich einmischt.«

An diesem Punkt mischte sich jedoch der Wal ein und sagte, daß der Arger, der von ihren Gedanken ausginge, ihm großen Kummer bereitete. Aurian, die sofort alles bereute, entschuldigte sich bei der massigen Kreatur. Sie setzte sich so weit weg von Anvar, wie es der breite Rücken des Leviathan erlaubte, und machte es sich zum ersten Mal seit Tagen bequem, um sich auszuschlafen. Merkwürdigerweise brauchte sie lange, um einzuschlafen. Sie hatte Forrals dicken Umhang bei dem Schiffbruch eingebüßt, und ihre nassen Kleider klebten an ihr wie eine Schicht von Eis. Die Magusch mußte sich eingestehen, daß sie sich am liebsten mit Anvar zusammengerollt hätte, so daß sie sich wenigstens den armseligen Rest von Wärme teilen konnten, der ihnen geblieben war.

Ein verstohlener Blick verriet ihr, daß er sich an seinem Platz zusammengekauert hatte, offensichtlich zitterte, aber keine Anstalten machte, auf sie zuzugehen. Gut, ich werde ihn nicht fragen, dachte Aurian. Wenn er warm werden will, dann muß er schon herkommen.

So blieb sie also, wo sie war, von nichts anderem aufrecht gehalten als von ihrem sinnlosen, störrischen Maguschstolz. Aber schließlich forderte die Erschöpfung ihren Tribut.

In der Morgendämmerung erreichten sie Land. Der Himmel hatte sich zu seinem blassesten Blau aufgeklärt. Das Meer war spiegelglatt und die Luft überraschend warm. Aurian erwachte noch unausgeschlafen und mit verquollenen Augen. Vor ihr lag ein silberglänzender Strand von feinem Sand, der hier und da von gezackten Felsblöcken unterbrochen wurde. Dahinter erstreckte sich ein üppiger, dichter Wald aus ihr gänzlich unbekannten Pflanzen, der von hohen, sich landwärts steil auftürmenden Felswänden aus grauem Gestein überragt wurde. Die seidenweiche, mit Wohlgerüchen erfüllte Luft vibrierte von den schrillen Rufen fremdartiger Kreaturen unter der dichten Decke des Waldes. Es traf Aurian wie ein Schock. Dies war keine Küste des Nordkontinents.

Der gewaltige Sturm hatte sie bis zu den sagenumwobenen südlichen Ländern verschlagen!

Der Wal hielt sich in einer Entfernung von einem Bogenschuß von der Küste entfernt, wo das Wasser noch tief genug war, um seine gewaltige Körpermasse aufzunehmen. Aurian drehte sich zu Anvar um. »Hier ist für dich die Reise zu Ende«, sagte sie knapp. »Er sagt, daß seine Schwester Sara hier abgesetzt hat; sie muß also irgendwo in der Nähe sein.«

Anvar blickte sie verblüfft an. »Du kannst also wirklich mit diesem Ding sprechen, hm?« sagte er.

»Ding? Er ist ein Freund, Anvar, und ich ziehe die Unterhaltung mit ihm der mit dir über alle Maßen vor. Du kannst also gehen.« Aurian schob die Kinnlade vor und wandte ihren Blick von Anvars verletzter Miene ab. Es ist ein wenig spät, sich jetzt verletzt zu zeigen, dachte sie grimmig.

Anvar blickte auf das Wasser hinab, das hier in der geschützten Bucht kristallklar war. Seinem Blick folgend, sah Aurian eine Myriade bunt leuchtender Fische durch das Lapislazuliblau der Tiefe dahinschießen.

»Aurian, es ist zu tief hier! Ich kann nicht …«

Die Magusch sah die Panik in Anvars Augen, und dann begriff sie; er konnte ja nicht schwimmen. Sie konnte sich noch recht gut erinnern, welche Ängste sie in der letzten Nacht ausgestanden hatte, als das Wasser in ihre gequälten Lungen geströmt war, und schauderte. Anvar zitterte, und es gelang ihr nicht, ein Gefühl des Mitleids für ihn zu unterdrücken. »In Ordnung«, seufzte sie. »Ich werde dir helfen. Ich werde vorangehen …«

Und schon rutschte sie von dem gerundeten Rücken des Wales hinunter ins Wasser. Nach der lähmenden Kälte des Meeres in den nördlichen Breiten war die Wärme des Wassers in der Bucht ein angenehmer Schock.

Nach einer kurzen Besprechung mit dem Wal wandte sie sich wieder Anvar zu. »Du mußt jetzt hier herunterrutschen. Seine Fluke ist genau …«

»Seine was?«

»Seine Flosse, wenn dir das lieber ist. Sie ist hier direkt unter der Wasseroberfläche, so daß du darauf stehen kannst. Du wirst also nicht untergehen.«

Zögernd biß sich Anvar auf die Lippen.

»Mach schon – er sagt, daß es ihm nichts ausmacht«, drängte Aurian.

»Das kann ja sein, aber mir macht es etwas aus«, brachte Anvar murmelnd zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Sieh mal, es ist vollkommen sicher. Ich passe auf, daß dein Kopf nicht unter Wasser kommt, das verspreche ich. Vertrau mir doch wenigstens ein einziges Mal.« Vergeblich versuchte sie, ihrer Stimme die Schärfe zu nehmen.

Schließlich schaffte sie es, ihn zu überreden, auf die Fluke herunterzukommen, die der geduldige Wal immer noch stillhielt. Dort stand Anvar, das Wasser bis zum Kinn.

Dank sei den Göttern, daß er groß ist, dachte Aurian, während sie zu ihm hinüberschwamm. »Umklammere mich nicht«, warnte sie ihn, als sie merkte, was er vorhatte. Sie richtete sich auf und stellte sich neben ihn auf die Fluke, und dann erkannte sie sein Problem. Es war schwierig, in dem gut tragenden, salzhaltigen Wasser aufrecht zu stehen. Der Körper wollte sich neigen und auf der Oberfläche treiben.

Aurian legte eine Hand auf Anvars Hinterkopf.

»Was hast du vor?« keuchte er.

»Ich halte deinen Kopf über Wasser. Du brauchst nicht mehr zu tun, als tief einzuatmen und dich zurückzulegen – entspann dich einfach, und schon werden deine Füße von allein aufschwimmen. Du wirst auf dem Wasser treiben, das verspreche ich dir, und du wirst nicht untergehen. Und ich werde dich die ganze Zeit über festhalten.«

Nach einer Weile meinte Anvar, genügend Mut zusammengerafft zu haben, um ihrem Vorschlag zu folgen. Aber als er in das Wasser tauchte, geriet er sofort in Panik, und in einem einzigen wilden Aufplatschen von Wasser und Schaum zappelte er, schlug um sich und versuchte, sich an ihr festzuklammern. Sie mußte einmal untertauchen, um ihn davon abzuhalten, allzuviel Wasser zu schlucken, und hatte ihn schließlich wieder richtig herum auf der Fluke. Als sie sich den schwer herabhängenden Vorhang nasser Haare aus dem Gesicht strich, stand sie einem Anvar gegenüber, der sie empört aus roten, vor Salz brennenden Augen ansah. »Du hast doch gesagt, ich würde treiben!«

»Ich habe gesagt, du sollst dich entspannen, du Dummkopf, und dann würdest du treiben!«

»Ich kann mich nicht entspannen. Ich habe Angst!« Es dauerte noch eine ganze Weile, aber schließlich funktionierte es. Anvar lag auf dem Rücken, und ein erstauntes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Anvar, vergiß nicht zu atmen!«

Wieder Gezappel. Aber schließlich ging es dann doch, und ihn an Land zu ziehen, war danach eine vergleichsweise einfache Aufgabe. Nach ein paar Minuten standen sie knietief in der Gischt der Brandung, die immer wieder den weißen Sandstrand benetzte.

»Also«, sagte Aurian, »wenn du jemals wieder in tiefes Wasser gerätst, dann bist du wenigstens in der Lage, dich auf dem Wasser treiben zu lassen.« Einem Impuls gehorchend, griff sie in ihren Stiefel, zog einen langen, tödlichen Dolch hervor und gab ihn ihm, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen. »Nimm dies«, sagte sie ihm. »Dann bist du wenigstens nicht ganz unbewaffnet.«

Es ließ sie beide nicht unberührt, daß jetzt der Augenblick des Abschieds gekommen war. Eine plötzliche, gespannte Stille trat ein, während sie dastanden und einander anblickten. Plötzlich fühlte sich Aurian versucht, es sich doch noch einmal zu überlegen. Konnte sie Anvar wirklich verlassen? Sie brachte es nicht fertig, sich von ihm abzuwenden, und auch er schien unglücklich und unentschieden zu sein und biß sich auf die Lippen, während er mit ihrem Dolch spielte. Ach, es ist ja verrückt, dachte Aurian. Wir benehmen uns wie Kinder! Eine Entschuldigung kam nicht in Frage – er war es schließlich, der sich im Unrecht befand –, aber sie wollte gerade ihren Mund aufmachen, um ihm zu sagen, daß sie doch besser zusammenblieben, als Sara aus dem Wald auftauchte und den Strand zu ihnen heruntergelaufen kam. Sie rief Anvar.

»Ich hatte solche Angst! Diese furchtbaren Seeungeheuer – ich habe fast geglaubt, daß ich von ihnen aufgefressen würde!« Sie stieß einen schrillen Schrei aus. »Oh! Paß auf – da ist einer direkt hinter dir! Schnell, komm aus dem Wasser heraus!«

»Sara – den Göttern sei Dank, daß du in Sicherheit bist!« Anvar vergaß die Magusch und rannte Sara schaumaufspritzend entgegen. Aurian fluchte und wandte sich angeekelt ab. Gegen die warme Brandung ankämpfend, schwamm sie wieder hinaus zu dem Leviathan und kletterte wieder auf seinen Rücken. Ihr Herz zog sie schwerer hinab als ihre nassen Kleider.

Als sie sich umschaute, lag Sara in Anvars Armen. Ihre schrille Stimme schallte gut verständlich über das Wasser. »Na und, wen interessiert das, ob sie geht! Wir wollen sie ja sowieso nicht hier bei uns haben!« Die Magusch biß die Zähne zusammen und preßte sich auf die warme Haut des Wales.

»Also los«, sagte sie. sie hörte nicht mehr Anvars verzweifelte Stimme, die sie zurückrief.

Anvar war erzürnt. »Sie still! Sie kann dich doch hören!« Er mochte nicht glauben, daß Aurian sie tatsächlich zurückließ. Er fühlte sich irgendwie verloren, haltlos. Er rief ihr nach und bat sie zu warten, aber gleichzeitig trompetete der Wal, atmete in einer donnernden Fontäne von Wasser und Luft aus. Sie konnte ihn nicht mehr gehört haben. Saras Arme schlangen sich verführerisch um seinen Hals, während sie ihn küßte, sein Gesicht vom Meer wegdrehte und ihn wirksam davon abhielt, noch einmal zu rufen.

»Kümmere dich nicht mehr um sie«, murmelte sie. »Denk an deine Freiheit, Anvar. Denk an uns.«

Der Leviathan kam sehr schnell voran, wenn er nur wollte. Anvar macht sich von Sara los, aber Aurian war bereits außer Rufweite. »Was, im Namen aller Götter, hast du eigentlich vor?« fuhr er Sara an. »Es ist keine Frage der Freiheit, du Idiotin. Nicht jetzt jedenfalls. Wir hätten zusammenhalten müssen.« Aber im innersten Herzen wußte er, daß er selbst es war, der die Magusch fortgejagt hatte, und bei dem Gedanken wurde ihm übel vor Scham.

»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen!« brauste Sara auf. »Soll es vielleicht jetzt meine Schuld sein? Ich war es nicht, der sie eine Mörderin nannte. Ich habe gedacht, du wolltest, daß wir zusammen sind, und zwar nur wir beide.« Ihr Gesicht verzog sich, und Tränen quollen aus ihren unschuldigen violetten Augen. »Ich dachte, du liebst mich, aber du hattest es wohl mehr auf sie abgesehen.« Sie hob ihre zerfetzten Röcke hoch und lief fort, den Strand entlang.

Bei den Göttern, was konnte sonst noch schiefgehen? Mit einem Stöhnen nahm Anvar die Verfolgung auf. Die Morgensonne brannte aus einem pulsierenden, wolkenlosen Firmament herab. Ihre milde Hitze reichte aus, um die Kleider auf Anvars Körper zu trocknen, aber die Kälte, die das Unwetter der letzten Nacht zurückgelassen hatte, schien sich nicht mehr aus seinen Knochen vertreiben zu lassen. Seine Haut fühlte sich von dem trocknenden Salz und dem Sand angespannt und aufgerauht an. Seine Augen brannten, sein ganzer Leib schmerzte. Er keuchte in der warmen Luft, als er Sara einholte und seinen Arm um sie legte. »Es tut mir leid«, erklärte er ihr. »Es tut mir wirklich leid, und ich will wirklich mit dir Zusammensein.«

Nach einer Weile hatte sich Sara besänftigen lassen, aber es blieb eine gewisse Härte in ihrem Blick, die Anvar das Gefühl gab, als würde er sich noch eine ganze Weile auf dünnem Eis bewegen. Verdammte Frauen! dachte er mißmutig. Er ließ seine Blicke hinaus auf See schweifen, aber Aurian war verschwunden. Sie waren allein. »Komm«, sagte er resigniert. »Wir müssen uns etwas Wasser suchen.«

Glücklicherweise gab es reichlich frisches Wasser im Wald. Es quoll aus der steilen Felswand, die sich hinter dem schmalen Waldstreifen erhob, und durchfloß in munteren Bächen den üppig grünen Wald auf seinem Weg hinunter zum Meer. Anvar und Sara brauchten nur ein kleines Stück am Strand entlangzugehen, bis sie die erste Mündung eines solchen Baches entdeckten. Sie folgten dem Wasserlauf aufwärts in den dunklen Wald hinein, wo die Luft kühl und feucht war und die breitblättrigen Bäume und ein Dschungel dichter Vegetation über ihren Köpfen den größten Teil des Sonnenlichts fernhielten.

Die Luft war erfüllt von einem zirpenden Chor von Insektenstimmen, in den sich schrille, durchdringende Schreie und Rufe aus der grünen Decke über ihnen mischten. Sara klammerte sich angstvoll an Anvar; die fremdartigen Geräusche waren ihr unheimlich.

»Es ist schon gut«, beruhigte er sie. »Es sind nur Tiere und Vögel.« Aber er schnitt dennoch mit Aurians Dolch zwei kräftige Stecken von einem Baum ab und dachte dabei, wie sich die Magusch wohl über diesen Mißbrauch ihrer guten Klinge geärgert haben würde.

Das Wasser des Bächleins durchfloß auf seinem Weg zum Meer einen kleinen, tiefen Teich. An seinem Ufer war ringsum die Vegetation bis auf die nackte Erde und etwas Laubstreu abgefressen. Das schlammige Ufer war übersät mit den Spuren von Tieren, die an der Wasserstelle getrunken hatten. Anvar sah sie sich genau an. Spuren von kleinen Nagetieren, Hufspuren von Schalenwild, gewundene Spuren von Schlangen – und was war das? Es sah aus wie Abdrücke einer Hand – einer kleinen menschlichen Hand! Anvar spürte ein Prickeln im Nacken. Plötzlich schien der Wald von unsichtbaren Augen erfüllt zu sein. Eilig verwischte er die Spuren mit seinen Stiefeln, bevor Sara sie bemerken konnte.

Ausgetrocknet von der Hitze und dem Seewasser, das er geschluckt hatte, warf er sich der Länge nach hin, um zu trinken und sein salzverkrustetes Gesicht mit dem kühlen frischen Wasser abzuwaschen. Sobald sein erster, dringendster Durst gelöscht war, sah er sich um, fürchtete für einen Moment, im Waldesdickicht seinen Weg zu verlieren, bis ihm einfiel, wie dumm das war – er brauchte ja nur dem Lauf des Baches zu folgen. Falls Aurian ihre Meinung änderte …

Aber das würde sie nicht, nicht nach dem, wie er sie behandelt hatte. Er bedauerte seine schroffen Worte der vergangenen Nacht. Wenn er nur sein Temperament gezügelt hätte, statt zum Angriff überzugehen, nur weil sie Schuldgefühle in ihm wachgerufen hatte. Sie hätte es sicherlich verstanden …

Bei den Göttern, war er hungrig! In dem verzweifelten Wunsch, das an ihm nagende Gefühl der Leere in seinem Magen zu beseitigen, ging Anvar die Möglichkeiten durch, an diesem fremdartigen Ort etwas Eßbares zu finden.

Sara war wohl mit dem gleichen Gedanken beschäftigt. »Anvar, ich brauche etwas zu essen.« Das war kaum weniger als ein Befehl, dachte Anvar irritiert. Aurian hatte nie so zu ihm gesprochen, und er war ihr Sklave gewesen.

Er mußte sich zur Ruhe zwingen, als er erwiderte: »Ich ebenfalls. Laß mich eine Minute nachdenken.«

»Aber ich habe Hunger. Ich will etwas zu essen, sofort!«

Glücklicherweise kam Anvar sein vor langer Zeit verstorbener Großvater zu Hilfe. Er hatte dem Jungen als Kind immer wieder Geschichten aus seiner eigenen Jugend auf dem Lande erzählt. Mit neun Jahren war Anvar die Technik des Fischfangs mit der bloßen Hand bestens vertraut gewesen – wenigstens in der Theorie.

»Komm«, sagte er zu Sara. »Wir fangen uns ein paar Fische.«

In der Praxis erwies es sich allerdings wesentlich schwieriger als erwartet. Draußen im offenen Meer schienen die Fische sich ebenfalls irgendwelche Tricks angeeignet zu haben. Ein ums andere Mal verschwanden sie blitzartig, wenn Anvars vorsichtige Hand sich fast ganz um ihre schlanken, schimmernden Körper geschlossen hatte, und ließen den verzweifelten Jäger mit einer Handvoll Meerwasser zurück.

Anvar stand bis zur Hüfte im Meer und wurde immer gereizter. Warum hielten die verdammten Dinger nicht still? Seine schmerzenden Augen mochten nicht länger in das blendende Wasser starren, und die Sonne brannte gnadenlos auf seinen ungeschützten Kopf und Rücken nieder. Er schien es nun schon seit Stunden zu versuchen. Und dabei konnte er den Eindruck nicht loswerden, daß die Fische sich über seine unbeholfenen Versuche lustig machten. Als er seine Hände aus dem Wasser zog, war die Haut seiner Finger bereits weiß und runzlig.

»Anvar? Anvar!« Saras Stimme schallte vom Strand herüber. Was wollte sie? Er war sich undeutlich bewußt, daß sie ihn schon einige Zeit rief. Er drehte sich um und sah sie dort stehen, lachend, einen Beutel in der Hand, den sie aus einem weißen Stück Leinen gemacht hatte, der aus einem ihrer Unterröcke stammte. Er war prall gefüllt und wand sich unter ihrem Griff. »Schau mal! Ich habe einen gefangen!«

Einen Sekundenbruchteil hätte er sie mit Wonne erwürgen mögen. Dann begriff er langsam die Bedeutung ihrer Worte, und Erstaunen und Erleichterung erfüllten ihn. So schnell, wie es im hüfthohen Wasser möglich war, watete er zurück zu ihr an den Strand. »Wie um alles in der Welt hast du das geschafft?« fragte er und versuchte, dabei nicht so empört zu klingen, wie er war.

Sara ließ das zappelnde Bündel auf den Sand fallen und legte ihre Arme um seinen sonnenverbrannten Hals, so daß er aufjaulte. »Ganz einfach«, grinste sie. »Bist du nicht stolz auf mich?«

»Natürlich!« gab er kurz zurück und starrte sie an. Jetzt lenkte Sara ein.

»Hast du es nicht gemerkt?« sagte sie. »Es ist Ebbe, das Wasser geht zurück.« Sie deutete auf ein Riff, das jetzt über die Wasseroberfläche emporragte und wie ein Finger zum Meer hin zeigte. »Da drüben gibt es jede Menge Fisch, der in den Aushöhlungen der Felsen festsitzt.«

»Ebbe?« Anvar kam sich dumm vor. Er wußte zwar, daß es Gezeiten gab, hatte aber – als mittelloser Städter geboren und dann versklavt – natürlich ihre Bedeutung nie verstanden.

Sara begriff sofort, was los war. »Oh«, sagte sie, »du warst vorher nie an der See, oder?«

»Wie sollte ich wohl?« fragte Anvar. »Weißt du, die Magusch pflegen ihren Dienern keine Ferien an der See zu finanzieren. Aber woher weißt du soviel darüber?«

Sara wandte ihren Blick für einen Moment ab. »Vannor hat mich jeden Sommer mitgenommen.« Als sie Anvars Gesichtsausdruck sah, wechselte sie schleunigst das Thema. Sie konnte es sich nicht leisten, ihn vor den Kopf zu stoßen. »Jedenfalls«, fügte sie strahlend hinzu, »bin ich ohnehin nutzlos. Ich mag zwar einen Fisch gefangen haben – das ist halt so passiert –, aber ich kann ihn nicht töten. Und was die Zubereitung angeht, nun, dabei wird mir speiübel.«

Sie hatte offensichtlich das Richtige gesagt, denn Anvar lächelte wieder. »Das werde ich übernehmen. Das habe ich in der Küche an der Akademie gelernt.«

Sara überlief es kalt. Sie wünschte sich, er würde sie nicht ständig daran erinnern, daß er ein leibeigener gewesen war. Als Vannors Ehefrau hatte sie sich daran gewöhnt, Diener zur Hand zu haben, und sie hatte aufgehört, sie als Menschen wahrzunehmen. Sie waren einfach, nun ja, da – höflich, anonym und immer zur Verfügung. Irgendwie gab es ihr das Gefühl von Unsauberkeit, nun mit einem von ihnen zu schlafen. Nur um ihrer Ziele willen konnte sie sich damit abfinden.

Sie wandte sich wieder Anvar zu und bedachte ihn mit ihrem strahlendsten Lächeln, das bei Vannor immer seinen Zweck erfüllt hatte. »Es ist eine gute Sache, daß wenigstens einer von uns praktisch veranlagt ist«, sagte sie. »Ich fürchte, ich bin ein hoffnungsloser Fall. Weißt du, wie man Feuer macht?«

Vor seinem unglücklich verlaufenen Versuch, Fische zu fangen, hatte Anvar seinen Zunder und seinen Feuerstein mit seinem abgelegten Hemd (das mit dem Hemd bereute er bereits zutiefst, da der Sonnenbrand inzwischen seine Wirkung entfaltete) zum Trocknen auf einem glutheißen Felsblock zurückgelassen. Zwischen dem Waldrand und der Hochwassermarke gab es viel Holz, und bald hatte Anvar ein munteres Feuer in Gang gebracht. Mit Aurians Dolch nahm er den Fisch aus und fühlte sich dabei wieder schuldig, denn er wußte, daß sie ihm die Waffe für wichtigere Zwecke als diesen gegeben hatte. Er briet den Fisch auf flachen Steinen am Rand des Feuers, und dann ließen sie ihn sich im Schatten am Bachufer schmecken, wo das üppige Blattwerk sie vor der Sonne schützte.

Anvar erwachte in der kühlen, duftgeschwängerten Abenddämmerung. Der letzte Sonnenstrahl verglühte hinter der hoch aufragenden Felswand. Fledermäuse auf der Jagd nach Insekten, die das Feuer angelockt hatte, flatterten über den Strand. Jetzt, nachdem die Sonne verschwunden war, machten sich ganze Horden von winzigen Krabben über die Reste des Fisches her. Anvar fröstelte, stand schnell auf und verfluchte die feurige Taubheit seines sonnenverbrannten Rückens. Verschlafen versuchte er, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Die langen, zusammen mit Aurian durchwachten Stunden hatten schließlich ihren Tribut gefordert, nahm er an. Er mußte wohl eingeschlafen sein, bevor er mit dem Essen ganz fertig gewesen war. Als nächstes stellte er mit Schrecken fest, daß Sara nicht mehr da war. Besorgt ließ er seine Blicke den Strand entlangschweifen. Sie konnte doch nicht so dumm sein, sich allein auf irgendwelche Erkundungsgänge zu begeben? Er nahm einen Ast von dem Stapel Brennholz, den sie aufgehäuft hatten, entzündete ihn an einem Ende in der Glut und besah sich im Licht der Flamme den Platz, wo sie gesessen hatte. Es waren keine Zeichen eines Kampfes sichtbar, also hatte wenigstens kein Tier aus dem Wald sie erbeutet. Dann sah er ihre Fußspuren, die an den Bach führten und dann in den Wald hinein. Mit einem Fluch folgte Anvar ihnen den Bach entlang in das düstere Dickicht des Waldes hinein.

Der Wald war bei Nacht viel unheimlicher als der smaragdgrün schimmernde Dschungel des hellichten Tages. Wurzeln schoben sich an Anvar heran, um ihn zu Fall zu bringen; Schlingpflanzen – oder waren es Schlangen? – streiften ihm übers Gesicht und erschreckten ihn so, daß er fast die Fackel fallen gelassen hätte. Äste zerrten an seiner Kleidung. Gesichter sprangen zwischen den Bäumen hervor und verwandelten sich in dem flackernden Licht zu Grimassen. Die Laubstreu zu seinen Füßen war feucht vom Tau des Abends, und aus verrottetem Holz wuchsen krankhaft schimmernde Pflanzen hervor, die ihn zu seinem Entsetzen an den Kelch erinnerten, aus dem Miathan seine Todesgeister freigesetzt hatte. Anvar schlug das Herz bis zum Hals; sein Atem ging flach und keuchend. Was war das vor ihm?

Ein seltsames, flackerndes, geisterhaftes Licht. Anvar verlangsamte seine Schritte und schlich vorsichtig auf die Lichtung mit dem kleinen Teich zu. Dann blieb er wie bezaubert stehen.

In dem stillen schwarzen Wasser badete eine Nymphe. Sie hatte helle Haut und goldenes Haar. Sie wurde umgeben und umspielt von einem ganzen Hofstaat vom Himmel gefallener Sterne, die über dem Wasser tanzten und sie mit einem silbernen Glorienschein umgaben.

Anvar hielt den Atem an. Ein abtrünniger Stern kam zu ihm herübergetanzt, und jetzt sah er, daß es ein fliegendes Insekt war, dessen Körper in kaltem, weißem Licht erstrahlte. Dann wandte sich die Nymphe zu ihm um, stand nackt in dem verzauberten Teich, unbeschreiblich schön mit ihrem goldenen Haar, das ihr über die Schultern fiel. Sara.

Anvar war hingerissen und hilflos angesichts dieser überirdischen Schönheit. Er hatte mit ihr schimpfen wollen, weil sie sich in der Nacht allein in den Wald gewagt hatte; hatte ihr ihren Mangel an gesundem Menschenverstand vorwerfen wollen. Statt dessen konnte er nicht anders, als sich unaufhaltsam auf sie zubewegen, ein Schlafwandler im Banne eines flüchtigen Traumes. Er ließ seine ausgebrannte Fackel fallen, riß sich seine Kleider vom Leibe und stieg zu Sara in den Teich.

Sie erstarrte, ein unausgesprochener Protest erstarb ihr auf den Lippen. Dann überließ sie ihr Gesicht mit einem Achselzucken seinen Küssen, und ihre Arme erwiderten seine Umarmung.

Sie liebten sich am Ufer des Teiches. Anvar war voll entbrannt, wurde davongetragen auf den Flügeln der Liebe, der Leidenschaft, der Schönheit Saras und der glühkäferfunkelnden Nacht, die sich zu einem einzigen entrückenden Ganzen vereinigten. Erst im Augenblick seines Höhepunktes spürte er ein beunruhigendes Aufflackern von Unsicherheit, ob Sara wirklich bei ihm war. Ihr Körper ja, natürlich. Er reagierte vorzüglich mit perfekten Bewegungen und allen Geräuschen, die dazugehörten. Aber in dem Augenblick der Explosion öffneten sich ihre Augen, und als er hineinschaute, begriff er, daß Sara selbst weit weg war.

Anvars Körper entspannte sich, und sein Herz hämmerte in schnellem Rhythmus an ihrer Brust. Sara lächelte und fuhr ihm träge mit den Fingern durchs Haar.

Du hast es dir nur eingebildet, dachte er. Eine optische Täuschung wegen der verdammten Leuchtkäfer. Aber seine Freude war dahin, und seine Unbeschwertheit wurde verdrängt von der verzweifelten Erkenntnis, wie sehr er sie brauchte. Von Kindheit an hatte sie zu ihm gehört – und jetzt endlich hatte er sie für sich allein. Die Vorstellung, sie zu verlieren, war unerträglich. Aber zum ersten Mal spürte er einen heimtückischen Hauch von Zweifel wie einen eisigen Finger. Hatte Aurian recht gehabt? Hatte Sara ihren Ehemann Vannor für ihre Zwecke benutzt? Und benutzte sie jetzt ihn?

»Mir ist kalt«, beklagte sich Sara. »Kalt, und es ist mir hier zu schlammig.« Sie verzog ihr Gesicht und versuchte sich unter ihm herauszuwinden. »Jetzt muß ich noch einmal baden!«

Mit einem Seufzer gab Anvar sie frei und folgte ihr zu einem Bad im Teich. Die unerwartete Kälte des Wassers ließ jetzt, da er wieder in der Lage war, dergleichen wahrzunehmen, die letzten Reste des Zaubers, der über der Nacht gelegen hatte, so schnell verschwinden, wie er gekommen war.

Wortlos gingen sie zurück zum Strand, wo Anvar aus der verbliebenen Glut erneut ein gewaltiges Feuer entfachte.

»Ich habe wieder Hunger«, sagte Sara. Aber die Reste des Fisches waren von den Krabben davongeschafft worden, und Anvar wußte, daß es keine Möglichkeit gab, in der Dunkelheit etwas zu essen zu finden.

»Versuch zu schlafen«, sagte er. »Wir werden morgen früh etwas finden.«

»Und was ist danach?« verlangte sie zu wissen. »Wir können ja nicht für ewig in dieser furchtbaren Wildnis bleiben.«

Für Anvar war es ein Paradies, wenn er einmal den Sonnenbrand außer acht ließ, aber vermutlich hatte sie recht. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Wenn wir morgen den Felsen hinaufsteigen …«

»Was? Da hinaufklettern? Das soll wohl ein Witz sein!«

Anvar seufzte. »Na ja, wir können auch an der Küste entlanggehen und dort irgendwo unser nächstes Lager aufschlagen. Die Felsen werden ja irgendwann einmal zu Ende sein.«

»Und in welche Richtung sollen wir gehen?« konterte Sara. »Du weißt ja noch nicht einmal, in welchem Land wir hier sind!«

»Du auch nicht«, gab Anvar gereizt zurück, »und du bist doch weiter herumgekommen als ich, wie du sagst. Warum machst du nicht einen Vorschlag?«

»Du bist vollkommen nutzlos, Anvar! Du weißt überhaupt nichts! Ich wünschte, ich wäre niemals …« Sara brach mitten im Satz ab.

»Du wünschtest, du wärest niemals was?« Anvar überlief bei ihren Worten ein Frösteln, das nichts Gutes verhieß. Aber Sara wandte sich von ihm ab, weigerte sich, mehr zu sagen, und er war nicht willens, sie zu drängen. Innerhalb weniger Minuten war sie eingeschlafen oder tat wenigstens so.

Anvar starrte unglücklich in den Nachthimmel. Die Sterne schienen einem hier näher zu sein; fette Lichter in einem samtenen Baldachin. Welcher Unterschied zum funkelnden, sternenübersäten Himmel seiner nördlichen Heimat! Er kam sich plötzlich verloren und – trotz Saras schlafender Gestalt, die sich an ihn schmiegte – sehr einsam vor. Er fragte sich, wo Aurian wohl sein mochte, und bereute seine verletzenden Worte bitterlich. Sie würde wissen, was jetzt zu tun war. Forral hatte sie gut vorbereitet. Und selbst wenn sie einmal in Verlegenheit kam, dann machte ihr Mut ihren Mangel an Wissen wett. Und doch, so mußte er sich kleinlaut eingestehen, war es gerade dieses an Arroganz grenzende Selbstvertrauen, das ihn manchmal an ihr so geärgert hatte. Das und die Tatsache, daß sie eine Magusch war, der Rasse angehörte, die ihn um seinen Platz in der Welt betrogen hatte.

Er spielte mit dem Dolch, den sie ihm geschenkt hatte, dem Dolch, dessen saubere, scharfe, zweckdienliche Form ihn an seine frühere Besitzerin erinnerte. Wo war sie jetzt, fragte er sich. Wie würde sie zurechtkommen, schwanger, allein, voller Trauer und mit Miathan dicht auf den Fersen? Er begann, sich um sie Sorgen zu machen, und hatte das Gefühl, daß er seiner Verantwortung nicht gerecht geworden war. Aber die Tage des Schreckens und der Flucht hatten Anvar mehr abverlangt, als er ahnte. Lange bevor er Sara wecken konnte, damit sie die Wache übernahm, schlief er über seine Träumereien ein.

Wenn sie gewußt hätten, in welchen Landen sie gestrandet waren und welche Rassen hier zu Hause waren, dann hätten Anvar und Sara auf keinen Fall ein großes Feuer am Strand entzündet, das über See weithin sichtbar war. Wenn ihnen die Gefahr bewußt gewesen wäre, dann hätten sie sich im Wald versteckt und sorgfältiger Wache gehalten. Aber so lagen sie an ihrem Leuchtfeuer und schliefen den Schlaf der Gerechten. Sie merkten nicht, daß die lange schwarze Galeere auf den Strand zuglitt, und selbst das leichte Knirschen von Stiefeln im Sand und das leise Rascheln, mit dem die stählernen Klingen gezogen wurden, weckten sie nicht. Anvar wurde erst wach, als Hände nach ihm griffen und Saras Schrei die Nacht zerriß. Er wehrte sich heftig, schaffte es einen Augenblick lang hochzukommen und nach Aurians Dolch zu greifen. Aber das Messer war ihm aus der Hand gefallen, während er schlief, und lag jetzt irgendwo im Sand. Er hatte gerade noch Zeit, das Flackern von Fackeln, dunkelhäutige Gesichter und weiße, gebleckte Zähne wahrzunehmen, bevor ihm ein schwerer Schlag auf den Hinterkopf das Bewußtsein raubte.

Загрузка...