»So macht man das also!« Aurian fuhr mit den Fingern über die Regale voller Schriftrollen, und das magische Kraftfeld, erkennbar in einer Aura glänzend blauen Maguschlichtes, schimmerte bei ihrer Berührung. Aurians Gesicht leuchtete vor Begeisterung, und Finbarr staunte wieder einmal über die Veränderung, die die letzten sechs Jahre bei der jungen Magusch bewirkt hatten. Mit zwanzig Jahren war sie zu einer großen, schlanken jungen Frau erblüht. Ihre Mähne aus glutrotem dunklen Haar war dieselbe geblieben, aber ihr Gesicht war gereift und zeigte nun wie gemeißelte Flächen und Kanten, die ihn so sehr an ihren Vater erinnerten. Mit dieser Nase würde man sie niemals hübsch nennen können, aber ihre Gesichtszüge wiesen eine starke, fesselnde Schönheit auf, die ganz ihre eigene war. Auch ihr Auftreten hatte sich radikal geändert, wenn man an das schüchterne, nervöse Kind dachte, das er damals kennengelernt hatte. Nun war sie glücklich, selbstbewußt und strahlend; ihre Kräfte nahmen von Tag zu Tag zu, und ihr Wissensdurst war schier unstillbar. Miathan hatte gute Arbeit mit ihr geleistet. Beinahe zu gut, dachte Finbarr manchmal.
»Finbarr, hörst du mir überhaupt zu?«
»Was? Ja, natürlich … was hast du gesagt?«
Aurian stieß einen langen, gequälten Seufzer aus, aber sie lächelte. »Ich habe dich gefragt, ob dieser Ruhezauber, den du bei den alten Dokumenten benutzt, die Papiere irgendwie aus der Zeit herausnimmt?«
Finbarr war überrascht. »Nun … ja, ich glaube, so ist es. Ich habe die Sache noch nie so betrachtet, aber es würde einen Sinn ergeben. Ich fand den Zauber in einer Schriftrolle von Barothas, du weißt schon, diesem Historiker aus dem Altertum, der wie besessen versucht hat, die Existenz des verlorenen Drachenvolks zu beweisen. Er spricht von mehreren früheren Belegen – die leider verlorengegangen sind –, in denen darauf hingewiesen wird, daß es möglich sei, die Zeit zu manipulieren, ebenso wie auch andere Dimensionen. Dein armer Vater hat übrigens vor seinem tragischen Experiment, von einer Welt zur anderen zu gelangen, ebenfalls diese Notizen benutzt. Um den Raum zu manipulieren, statt der Zeit, würde man natürlich …«
»Ach du liebe Güte, Finbarr, hast du denn nie darüber nachgedacht, welche Konsequenzen das hat?«
»Konsequenzen?« Der Archivar, solchermaßen aus dem Königreich seiner gelehrsamen Forschungen herausgerissen, war plötzlich beunruhigt.
Aurian runzelte die Stirn. »Nun, ich weiß selbst nicht genau. Aber ich bin sicher, ich könnte mir das eine oder andere dazu denken.« Ihre Stimme hatte plötzlich einen schmeichelnden Klang. »Finbarr, würdest du mir diesen Zauber beibringen?«
Finbarr warf der jungen Magusch einen ernsten Blick zu. Ihr Gesicht war ein Abbild reiner Unschuld, aber er ließ sich nicht zum Narren halten – er kannte Aurian zu gut. »Wenn du damit meinst, ob ich dich die Schriftrolle sehen lasse, dann ist die Antwort ein klares ›Nein‹. Nach dem, was Geraint zugestoßen ist, habe ich sie in sicheren Gewahrsam genommen, und da bleibt sie auch. Es wird dich jedoch trösten zu wissen, daß du nicht die einzige bist, der dieses Wissen verboten ist – ich habe schon vor langer Zeit beschlossen, daß die Drachenmagie für das Maguschvolk viel zu gefährlich ist. Ich bedaure zutiefst, daß ich die Schriftrolle nicht sofort verbrannt habe, nachdem ich sie gefunden hatte – und doch kann ich mich nicht einmal jetzt, nachdem ich weiß, welchen Schaden sie anrichten kann, dazu überwinden, einen Teil unserer Geschichte zu zerstören. Niemand außer uns und wahrscheinlich deiner Mutter weiß von der Existenz dieser Schriftrolle – und, Aurian, ich appelliere an deine Ehre, zu keiner einzigen Seele ein Wort davon zu sagen, nicht einmal zum Erzmagusch.« Er nahm ihre Hände in seine eigenen. »Habe ich dein Versprechen?«
»Natürlich hast du das!« versicherte Aurian ihm. »Unter der Bedingung, daß du mir den Zeitzauber beibringst!«
Der Archivar zögerte. »Du mußt zuerst mit Miathan darüber sprechen«, sagte er schließlich. »Er ist für deine Ausbildung verantwortlich, und dein Stundenplan ist ohnehin schon übervoll.«
»Oh, das ist kein Problem«, erwiderte Aurian. »Ich finde immer noch ein wenig Zeit. Genau betrachtet, kann ich vielleicht genau das tun, wenn du mich den Zauber lehrst.«
Finbarr brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was sie meinte, und als er es verstanden hatte, wurde sein Blut plötzlich eiskalt. »Aurian! Wage es nicht, auch nur darüber nachzudenken, mit der Zeit herumzuspielen! Hast du auch nur die geringste Ahnung, wie gefährlich das werden kann? Nur die Götter wissen, welchen Schaden du damit anrichten kannst!«
Aurian tätschelte seinen Arm. »Schon gut, Finbarr. Ich habe doch nur Spaß gemacht.« Aber der Blick in ihren Augen war immer noch ausgesprochen nachdenklich.
»Hör zu«, sagte Finbarr, der hoffte, auf diese Weise das Thema wechseln zu können. »Meiriel und ich würden uns freuen, wenn du heute abend mit uns ißt. Sie sagt, daß sie dich in letzter Zeit überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommt.«
Aurian machte ein langes Gesicht. »Oh, heute abend kann ich nicht. Ich muß mich unbedingt mit diesen Büchern über Wettermagie beschäftigen, die du für mich herausgesucht hast. Miathan war mir zwar eine Hilfe, aber Eliseth ist die Spezialistin, und da sie mir so ungern etwas beibringt, muß ich mir die Theorie zusammensuchen, wo ich nur kann. Wenn ich doch nur in die Kuppel könnte, um dort zu üben. Aber sie hat immer irgendeine Entschuldigung. Es ist so frustrierend!« Sie schlug mit der Faust auf den Tisch.
Finbarr blinzelte. »Ich wußte ja gar nicht, daß du mit Wettermagie angefangen hast«, sagte er.
»Nun, ich brauchte etwas, womit ich meine Zeit ausfüllen konnte, nachdem ich aufgehört hatte, mit Bragar Feuermagie zu studieren.«
Der Archivar runzelte die Stirn. »Ja, davon habe ich gehört. Mein liebes Kind, meinst du nicht, daß es ein wenig unklug war, mit Bragar zu streiten?«
»Was soviel heißen soll, daß du es für unklug hältst, ja?« Aurian warf ihm einen finsteren Blick zu. »Bragar ist ein Esel! Er hält sich für einen solchen Experten, aber er weiß so gut wie gar nichts über Feuermagie. Ich habe alles gelernt, was er mir überhaupt beibringen konnte, und wenn es ihm nicht gefallen hat, daß ich ihm genau das gesagt habe, dann ist das eben sein Problem!«
»So, wie mir die Geschichte erzählt wurde, warst du extrem taktlos«, tadelte Finbarr sie, »und ich gebe dir den guten Rat, dich zu entschuldigen. Denke an meine Worte, es ist nicht gut, Bragar zum Feind zu haben.«
Aurian zuckte die Achseln. »Ich habe keine Zeit, mich um Bragars Mißmut zu kümmern. Er wird schon darüber hinwegkommen. Finbarr, bitte, bringst du mir diesen Zauber bei?«
»Meinst du nicht, du hast schon genug auf deinem Stundenplan stehen? Du nutzt doch schon jeden Augenblick, den die Götter schicken, zur Arbeit. Wenn du nicht zu beschäftigt bist, um zu essen, dann vergißt du es einfach – und ich sehe die ganze Nacht Licht in deinen Räumen brennen. Findest du nicht, du solltest dir ab und zu Zeit für eine kleine Pause nehmen? Oder sogar einmal schlafen, um Himmels willen?«
»Mir geht’s doch blendend!« Aurians Gesicht wurde plötzlich ernst. »Finbarr, ich möchte, daß Miathan stolz auf mich ist. Er ist so gut zu mir gewesen – er war für mich wie der Vater, den ich nie gekannt habe. Meine einzige Möglichkeit, das wiedergutzumachen, ist, die beste Magusch zu werden, die je gelebt hat – und genau das werde ich tun.« sie biß die Zähne zusammen und nahm den sturen Gesichtsausdruck an, den Finbarr genausogut kannte wie alle anderen in der Akademie, angefangen von den Dienstboten bis hin zum Erzmagusch. Der Archivar seufzte. Meiriels Sorgen waren berechtigt. Aurian war mittlerweile regelrecht besessen von ihrer Arbeit. Sie vergaß zu essen und zu schlafen und übte viel zu großen Druck auf die inneren Energien aus, die die Quelle ihrer magischen Kräfte waren. Es zeigten sich bereits die ersten Warnzeichen. Ihr Gesicht war bleich und wirkte ausgezehrt, und ihre Haut schien in innerem Licht zu schimmern. Ihre grünen Augen waren verschwommen, ihr Blick bohrend.
Im letzten Sommer, als Finbarr Aurian zu einem Besuch bei ihrer Mutter begleitet hatte, hatte er versucht, Eilins Unterstützung zu gewinnen, um sie zu überreden, etwas kürzer zu treten, aber die Erdmagusch, an ihre eigene zermürbende Arbeit gewöhnt, hatte seine Sorgen einfach abgetan. Eilin hatte sich selbst auch immer das Äußerste abverlangt – ihre selbstauferlegte Aufgabe war viel zu gewaltig für eine einzige Magusch. Ihre hagere Erscheinung hatte Finbarr erschreckt, und er wußte, daß sie Aurian mehr vermißte, als sie zugeben wollte; aber als er sie bat, zur Akademie zurückzukehren, hatte sie sich nachdrücklich geweigert. Wie die Mutter, so die Tochter, dachte Finbarr. Man sieht jedenfalls, wo Aurian ihre Besessenheit herhat – und ihre unmögliche Sturheit!
Nichtsdestoweniger entschloß er sich zu einem letzten Versuch, die halsstarrige junge Magusch zur Vernunft zu bringen. »Aurian, hör mir zu. Du mußt besser auf dich achtgeben. Meiriel glaubt, daß du Gefahr läufst, deine eigene Flamme zu verzehren. Schreckliche Dinge können einer Magusch zustoßen, die sich so überanstrengt, wie du es tust. Miathan ist stolz auf deine Fortschritte, aber er möchte nicht, daß du deine Kräfte verlierst – und deinen Verstand –, weil du übereifrig bist. Glaub mir, so etwas kann passieren. Ich habe dokumentierte Fälle hier, wenn du sie sehen möchtest.«
Aurians Gesicht wurde ernst. »Macht sich Meiriel wirklich Sorgen?«
»Ganz bestimmt. Wenn du nur mit ihr sprechen würdest …«
»Natürlich tue ich das!« rief Aurian impulsiv. »Hör zu – ich komme doch zu euch zum Abendessen. Ich bin sicher, daß ich sie beruhigen kann. In der Zwischenzeit nehme ich mir das hier mit und fange schon einmal an.«
Mit diesen Worten raffte sie einen Armvoll schwerer, alter Bände zusammen, die auf dem Tisch gestanden hatten, und stürzte hinaus, wobei sie wie gewöhnlich vergaß, ihm auf Wiedersehen zu sagen. Finbarr seufzte. Nun, er hatte es wenigstens versucht. Vielleicht konnte Meiriel sie zur Vernunft bringen.
Die Hitze traf Aurian wie ein Schlag, als sie von der Bücherei auf den staubigen, sonnendurchstrahlten Hof trat. Das Wetter war so hoch oben im Norden selten so gut, aber mittlerweile dauerte die Hitzewelle seit über einem Monat an und zeigte keinerlei Absichten, endlich nachzulassen. Zuerst hatten sich die Bauern außerhalb der Stadt darüber gefreut, aber jetzt war das Heu eingeholt, und auf den Feldern verdorrte das Korn. Der Fluß war zu einem stinkenden, schlammigen Rinnsal versiegt, und zum ersten Mal seit Menschengedenken mußte das Wasser in Nexis rationiert werden. Die Sterblichen erwarteten langsam, daß die Magusch die Probleme lösten, und während die Trockenheit andauerte, vermehrten sich die Gerüchte über einzelne Unruhen.
Aurian verschwendete kaum einen Gedanken an die ganze Sache. Sie ging ganz in ihrer Arbeit auf und war auf unbekümmerte Weise zuversichtlich, daß Miathan für jedes Problem eine Lösung hatte. Sie hatte keine Vorstellung von den Entbehrungen, die die Sterblichen litten, da die Akademie das Wasser aus ihren eigenen, tief in der Erde verborgenen Quellen bezog und es den Magusch nicht an Wasser mangelte. Da sie den Gebäudekomplex hoch oben auf dem Felsen nur selten verließ, war es ihr nicht bewußt, daß die anderen Magusch mittlerweile kaum noch den Mut fanden, allein in die Stadt zu gehen. Während Aurian über den Hof hastete, beschloß sie, den Rest des Nachmittags in Miathans Garten zu verbringen, um dort zu arbeiten – ein Privileg, das einzig und allein ihr zukam, so nahe stand sie dem Erzmagusch mittlerweile. Aber als sie die kleine Tür erreichte, hörte sie Eliseths Stimme von der anderen Seite der Mauer.
»Miathan, ich habe getan, was ich konnte. Ich kann es nicht so ohne weiteres regnen lassen – die nächsten Wolken sind Hunderte von Meilen entfernt! Ich habe die Dinge in Bewegung gesetzt, aber es wird Tage dauern, bis die Wolken hier sind, und ich verzehre meine Kraft dabei. Diese Trottel in der Stadt sollten dankbar sein! Ehrlich, wenn du nicht darauf bestanden hättest, würde ich keinen Finger krumm machen. Wen kümmert denn ihre blöde Dürre! Den Magusch geht es gut.«
»Eliseth, ich habe dir doch erklärt, warum es sein muß.« Miathans Stimme klang müde und gleichzeitig wütend. »Du weißt, wie kritisch die Situation dort unten ist. Das Wasser wird bereits rationiert, und Meiriel sagt, daß ein ernsthaftes Seuchenrisiko besteht, wenn der Fluß noch weiter sinkt. Es hat bereits einige vereinzelte Ausbrüche gegeben, und die Leute geben den Magusch die Schuld. Wenn es zu einer Epidemie kommt, wird die Stadt hochgehen wie Zunder, und ich bin nicht darauf gefaßt, mich mit einem wütenden Mob herumzuschlagen. Rioch war gestern abend bei mir, und diesmal ist er wirklich entschlossen, in den Ruhestand zu treten. Er sagt, er sei zu alt, um mit der Unruhe fertig zu werden. Und Vannor! Ich habe den Verdacht, daß er insgeheim zu den Hauptanstiftern gehört. Er war früher schon schlimm genug, aber seit seine Frau vergangenes Jahr gestorben ist, widerspricht er mir im Rat bei jeder Gelegenheit. Weil Meiriel es nicht geschafft hat, sie zu retten, gibt er dem Maguschvolk die Schuld an ihrem Tod.« Miathan seufzte. »Es wäre eine große Hilfe, wenn wir einen Nachfolger für Rioch finden könnten, aber gerade jetzt gibt es in der Garnison niemanden, der unserem Volk freundlich gesinnt ist. Eliseth, wenn du nicht bald ein wenig Regen zustande bringst, werden die Konsequenzen unausdenkbar sein!«
»Ich tue mein Bestes!« fuhr Eliseth ihn an. »Wenn du mich nicht auch noch mit deinen Problemen quälen würdest, hätte ich mehr Zeit …«
Stirnrunzelnd ging Aurian weiter. Der arme Miathan! Vielleicht würde sie ihm helfen können, wenn sie mit ihren Studium der Wettermagie nur endlich Fortschritte machte. Mit plötzlicher Entschlossenheit nahm sie den schweren Bücherstapel auf ihren anderen Arm und machte sich auf den Weg zu ihren Räumen. Es war schrecklich stickig im Turm, und während sie sich die endlose Spirale von Treppenstufen hinaufquälte, wünschte Aurian sich ausnahmsweise, ein wenig weiter unten zu wohnen. Ein Diener kam ihr auf seinem Weg von Miathans Gemächern herab entgegen, und mit dem Gedanken an Finbarrs Warnung hielt Aurian ihn auf. Sie hatte den ganzen Tag über nichts gegessen, aber als sie ihn gerade bitten wollte, ihr etwas auf ihr Zimmer zu bringen, zögerte sie. Es war zu heiß zum Essen. Ich kann mir später etwas holen, dachte sie. »Bring mir etwas Kühles zu trinken«, wies sie den Mann an und ging in ihr Zimmer, wo sie die Bücher mit einem dankbaren Seufzer auf den Tisch fallen ließ.
Das Arbeitszimmer war wie ein Ofen. Die grünen und goldenen Vorhänge hingen schlaff vor dem offenen Fenster, und Staubteilchen schwebten im grellen Sonnenlicht, das auf den moosgrünen Teppich fiel. Aurian griff nach dem Wasserkrug auf ihrem Tisch, zog jedoch eine Grimasse, als sie den abgestandenen, lauwarmen Inhalt gekostet hatte, und beschloß, auf die Rückkehr des Dieners zu warten. Wenn Miathan mir doch nur endlich meinen eigenen Diener geben würde, dachte sie, dann würde ich auch nicht mehr so vernachlässigt! Sie zog sich einen Stuhl heran, setzte sich an den Tisch und beschloß, daß sie ebensogut gleich mit der Arbeit anfangen konnte.
Wer auch immer dieses altertümliche Schriftstück verfaßt hatte: Seine Handschrift war fürchterlich. Aurian rieb sich die Augen, die von dem Versuch, das unleserliche Gekritzel zu entziffern, schmerzten. Die Zeilen schienen sich wellenförmig über die Seite zu bewegen, während das messingfarbene Sonnenlicht durch das Fenster strömte, das Pergament mit einem flirrenden Funkeln berührte und ihren Hinterkopf versengte. Aurian fragte sich gereizt, wann der Diener ihr endlich etwas zu trinken bringen würde, richtete dann jedoch ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Arbeit. Den Göttern sei Dank, daß Finbarr ihr den Zauber beigebracht hatte, wie man diese archaischen Schnörkel in den Griff bekam! Mit vor Konzentration gerunzelter Stirn richtete sie ihren Blick fest auf die Seite und spürte tief in sich hinein, um ihre Kräfte zu aktivieren.
Zuerst fiel es Aurian gar nicht auf, daß etwas nicht stimmte. Dann bemerkte sie, daß die Worte statt klarer immer kleiner zu werden schienen. Voller Entsetzen stellte sie schließlich fest, daß der äußere Rand ihres Sehfelds sich bewölkt hatte, so daß die Schrift weit entfernt zu sein schien, am Ende eines langen dunklen Tunnels. Als sie versuchte, ihren Blick davon zu lösen, wollte ihr Körper ihr nicht gehorchen. Alles schien sich mit rasender Geschwindigkeit von ihr wegzubewegen, und sie stürzte – stürzte in die Dunkelheit …
»Es tut mir leid, Erzmagusch. Mehr kann ich nicht tun. Ich habe sie gewarnt, daß das passieren würde, wenn sie sich zuviel abverlangt.« Die Heilerin klang aufgeregt, und Miathan konnte seinen Ärger nur mit Mühe unterdrücken. Das ist meine Schuld, dachte er. Ich habe zugelassen, daß Aurian sich überanstrengt.
»Bist du sicher?« fragte er. »Es dauert jetzt schon drei Tage, Meiriel!«
Meiriel ließ sich müde auf Aurians Bett sinken. »Körperlich fehlt ihr nichts. Soweit ich sehe, hat sie auch ihre Kräfte nicht verloren, aber etwas in ihr hat sich zurückgezogen, um sie davon abzuhalten, diese Kräfte weiter zu mißbrauchen. Ich glaube, sie spürt, was um sie herum vorgeht, aber sie ist in sich selbst gefangen, und wir können nicht zu ihr durchdringen.«
»Wie lange wird das noch dauern?«
Meiriel zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Um ehrlich zu sein, Erzmagusch, wenn du sie nicht erreichen kannst, sieht es schlimm aus.«
»Und was ist mit ihrer Mutter?«
Meiriel schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, daß sie viel ausrichten könnte. Abgesehen von dir ist dieser Sterbliche der einzige, der Aurian nahesteht.«
»Forral! Natürlich!« Miathan schlug sich mit der Faust in die Hand. Seinem schnellen Verstand dämmerte bereits eine großartige Idee. »Forral könnte die Lösung für all unsere Probleme sein. Sag Finbarr Bescheid, daß er ihn sofort mit seiner Glaskugel suchen soll. Ich kümmere mich um einen Boten. Je früher wir nach ihm schicken können, um so besser.«
Das Licht der glühenden Kristallkugel auf dem Tisch vor dem Archivar warf scharfe Schatten auf die Wand. Der Erzmagusch stand schäumend vor Ungeduld hinter Finbarr. »Würdest du bitte aus dem Weg gehen, Miathan?« Finbarrs Stimmte hatte einen uncharakteristisch scharfen Klang. »Deine emotionale Aura reicht aus, um meilenweit den Empfang zu blockieren!«
»Mach einfach weiter!«
Finbarr erhob sich von seinem Stuhl, drehte sich um und starrte dem Erzmagusch wütend ins Gesicht. Dann wies er mit einem langen, knochigen Finger auf die Tür. »Hinaus!« Miathan blinzelte erstaunt. Er hatte ganz vergessen, welche Freundschaft den Archivar mit Aurian verband. Also schluckte er eine wütende Erwiderung herunter, ging zur Tür und begann, draußen im Flur auf und ab zu laufen. Nach einigen Minuten erschien Finbarrs Kopf in der Tür. »Ganz hinaus!« sagte er. »Wenn ich deinen Schwertkämpfer gefunden habe, werde ich nach dir schicken.«
Forral seufzte müde und schob einen Stapel Dokumente von sich weg. Es war kein freier Platz mehr auf dem überfüllten Schreibtisch, und ein Haufen Papiere, der etwas weiter hinten gelegen hatte, wurde über den Rand geschoben und fiel auf den Boden. Forral fluchte. Was war nur über ihn gekommen, in diesem todlangweiligen Loch am hintersten Ende von Nirgendwo das Kommando zu übernehmen? An der Südküste war es heutzutage ziemlich still, und die Truppen in den Bergfestungen hatten nichts zu tun, außer ab und zu einen gelegentlichen Aufstand der Bergstämme zu unterdrücken, jenes rauhen, von wilder Unabhängigkeit erfüllten Volkes, das auf diesen trostlosen, südlichen Gebirgen nach Mineralien und Metallen grub. Und da diese unzivilisierten Stämme, denen jede Organisation fehlte, einander ständig befehdeten, hatte Forral kaum etwas anderes zu tun, als sich um eine Flut kleinlicher Verwaltungsarbeiten zu kümmern, die ihn langsam zur Verzweiflung trieb.
Der Schwertkämpfer bereute es jetzt bitter, daß er jemals an diesen Ort gekommen war. Es war ihm zuerst als ein sicherer Hafen erschienen, denn ohne Aurian hatte sein Leben nur noch wenig Sinn gehabt. Nachdem er das Tal verlassen hatte, war er etwa ein Jahr lang ziellos umhergewandert und hatte hier und da eine Arbeit angenommen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Meistens hatte er Karawanen bewacht oder Lagerhäuser für irgendwelche Kaufleute. Es war eine langweilige Arbeit gewesen und manchmal entwürdigend, aber das hatte ihm kaum etwas ausgemacht. Er hatte lediglich einen trockenen Platz zum Schlafen und etwas zu essen gewollt – und manchmal ein paar zusätzliche Münzen, die er für Wein und Frauen ausgeben konnte. Letzteres hatte die Sache schließlich besiegelt. Der Einsamkeit und des Schmutzes überdrüssig, wachte er eines Morgens mit dröhnenden Kopf auf, ein fremdes Gesicht neben sich auf dem Kissen. Da hatte er beschlossen, den Posten im Fort anzunehmen, um seinem Leben wieder ein Ziel zu geben. Damals hatte er das für eine gute Idee gehalten, dachte er reumütig.
Forral nahm die Weinflasche zur Hand und stellte sie dann mit einer Grimasse wieder ab. Langeweile und Untätigkeit waren schuld daran, daß er immer mehr trank, aber damit würde er seine Probleme niemals lösen. Mit finsterem Blick betrachtete er die Mauern aus dickem, grauem Stein, die zu seinem Gefängnis geworden waren. Es war wirklich und wahrhaftig an der Zeit, daß sich etwas änderte. Geistesabwesend griff er abermals nach der Flasche, goß sich einen Becher Wein ein und begann über seine Zukunft nachzudenken. Der Söldnerdienst mit seinen Gefahren und Härten war für ihn lange nicht mehr so erstrebenswert wie damals, als er noch jünger war. Es gab keinen Zweifel – das Leben im Fort hatte ihn verweichlicht.
Ein Klopfen an der Tür riß ihn aus seinen Gedanken, und ein junger Soldat trat ein wenig schüchtern ein. Forral war sich der Tatsache bewußt, daß seine Soldaten mittlerweile einen großen Bogen um ihn machten. Er hat Angst vor den Launen des Alten, dachte Forral schuldbewußt. »Ja, was gibt es?« fuhr er auf.
Der Soldat salutierte. »Sir, ein Kurier ist angekommen. Er bringt eine eilige Nachricht vom Erzmagusch persönlich.« Die Stimme des jungen Mannes war vor Ehrfurcht gedämpft, und Forral empfand genauso. Was konnte Miathan von ihm wollen? Als er den Blick des jungen Soldaten auf sich spürte, brachte er sich schnell wieder unter Kontrolle und stellte eine unbekümmerte Miene zur Schau.
»Dann schick ihn besser gleich herein.«
Der staubüberzogene Bote stolperte vor Müdigkeit. Forral schlug ihm vor, in die Messehalle zu gehen, um sich ein wenig zu erfrischen, aber der Mann zögerte. »Der Erzmagusch sagte, ich solle mich versichern, daß du die Botschaft auf der Stelle liest, Herr. Er sagte, es sei sehr wichtig.«
»Schon gut. Setz dich doch, Mann, bevor du mir hier noch umkippst.« Forral goß ihm ein Glas Wein ein, setzte sich dann ebenfalls und erbrach das Siegel der zerknitterten Schriftrolle.
»Großer Chathak!« Forrals Augen weiteten sich ungläubig. Miathan bot ihm tatsächlich die Kommandantur der Garnison an, einschließlich der dazugehörigen Position im Regierungsrat von Nexis! Aber die Bedeutung dieser Neuigkeit ging im Rest der Nachricht unter. Aurian brauchte ihn! »Ruh dich einen Tag lang aus, bevor du wieder zurückreitest«, wies er den Kurier an. »Ich muß mich sofort auf den Weg machen.« Er sprang so heftig auf, daß der Stuhl hinter ihm umfiel, lief zur Tür und brüllte nach seinem Stellvertreter.
Aurian fühlte sich verloren. Sie war gefangen in einem Labyrinth, dessen Mauern sie endlos umschlossen, während ihr Geist in qualvoller Hoffnungslosigkeit umherirrte. Manchmal hörte sie Stimmen, die Stimmen von Meiriel und Finbarr und sogar von Miathan, aber es war ihr unmöglich zu antworten. Sie verlor alles Gefühl für Zeit und Wirklichkeit, wenn sie in bizarre und angsteinflößende Träume hinüberglitt oder manchmal auch in ihre Kindheit zurückkehrte. Die Stimmen sickerten in ihr Bewußtsein, gedämpft und besorgt, und verloren sich dann wieder. Verzweifelt klammerte sich Aurian an den Klang dieser Stimmen, denn sie fürchtete um ihren Verstand.
Dann, eines Tages, drang aus der Dunkelheit eine andere Stimme zu ihr vor – eine neue und zugleich alte Stimme. Eine geliebte, vertraute Stimme, die jemals wieder zu hören sie bereits die Hoffnung aufgegeben hatte. Die Stimme zitterte vor Gefühl. »Aurian? Aurian, Liebes, ich bin es.« Es war ein Traum – es mußte ein Traum sein –, aber alles in ihr zog sich in verzweifelter Sehnsucht zu dieser Stimme hin. Die Stimme wurde plötzlich ernst. »Ich habe gehört, daß du dein Schwerttraining vernachlässigt hast. Wie willst du denn der Welt beste Schwertkämpferin werden, wenn du den ganzen Tag im Bett liegst?«
Ah, das war es also. Sie war verwundet worden. Dieser ganze Unfug mit der Akademie und dem Erzmagusch – das mußten alles Fieberträume gewesen sein. Aber bei den Göttern, sie waren ihr so real erschienen. Doch jetzt rief Forral nach ihr, und sie mußte schnell wieder gesund werden. Aurian öffnete die Augen und blinzelte verwirrt. Es war tatsächlich Forral, aber er schien älter geworden zu sein. Sein Körper war schwerer als früher, und Haar und Bart waren leicht angegraut.
»Forral?« Sie versuchte, sich aufzurichten.
»Ach, mein Liebes!« sagte Forral mit erstickter Stimme, während er sie mit einer gewaltigen Umarmung fest an sich drückte. Aurian spürte, wie ihr Herz seltsam zu klopfen begann. Nie zuvor war sie sich seiner Berührung so sehr bewußt gewesen. Über seine Schulter erhaschte sie einen Blick auf die weißen Wände der Krankenstube und die vertrauten Gestalten Meiriels und des Erzmagusch. Ihre Gedanken rasten, während sie versuchte, all diese Dinge wieder richtig einzuordnen. Sie löste sich aus Forrals Umarmung und berührte mit zaghaften Fingern sein Gesicht.
»Forral? Du bist zurückgekommen? Du bist wirklich zurückgekommen?« Unfähig zu sprechen, nickte er nur. Aurians Augen quollen über, und sie schlang nun ihrerseits die Arme um ihn und drückte ihn wild an sich.
»Ich freue mich wirklich, wenn irgend etwas mal ein glückliches Ende nimmt.« Miathans trockene Stimme unterbrach ihr Wiedersehen, und Aurian fragte sich, warum er so finster dreinschaute.
Forral drehte sich nun mit einem düsteren Blick zum Erzmagusch herum. »Wenn es diesmal zu einem glücklichen Ende gekommen ist, dann ist das jedenfalls nicht dein Verdienst«, sagte er unumwunden. »Wie konntest du das zulassen?«
Miathans Gesicht verdunkelte sich. Aurian zuckte zusammen, denn sie kannte das Temperament des Erzmagusch nur allzugut. Aber Forral war nicht weiter beeindruckt, sondern erwiderte Miathans Blick. »Jetzt, da ich wieder zurück bin, werde ich sehr gut aufpassen, daß so etwas nicht wieder vorkommt!«
»Das hängt ganz von dir ab«, sagte Miathan kühl. »Als ich dir meinen Vorschlag gemacht habe, schienst du alles andere als begeistert davon zu sein. Wie kannst du Aurian helfen, wenn du dich sonstwo aufhältst?«
»Was hat das zu bedeuten?« unterbrach ihn Aurian.
Forral seufzte. »Der Erzmagusch hat mir die Kommandantur der Garnison angeboten«, sagte er.
»Das heißt ja, daß du in Nexis bleiben wirst!« Aurian konnte ihre Freude kaum verbergen. »O Forral, wie wunderbar! Ich habe dich so sehr vermißt!«
Forral sah sie hilflos an und schüttelte den Kopf. »Na schön, Miathan, ich gebe nach. Ich akzeptiere dein Angebot. Aber nur zu meinen Bedingungen. Und bevor ich anfange, bringe ich Aurian von hier weg, damit sie Urlaub machen kann – einen ausgedehnten Urlaub – auf deine Kosten.«
Aurian und Forral verließen die Akademie, ohne zu ahnen, daß sie aus einem Fenster hoch oben im Maguschturm beobachtet wurden.
»Verflucht!« schnaubte Bragar. »Warum konnte diese arrogante Hexe nicht einfach sterben? Warum hat Miathan diesen verwünschten Schwertkämpfer hergeholt? Je weniger Figuren an diesem Spiel beteiligt sind, um so besser; vor allem, soweit es Aurian betrifft.«
Eliseth lachte; ein sanftes, selbstgefälliges und silbriges Lachen. »Ich würde mir keine allzugroßen Sorgen machen, Bragar.« Sie legte eine kühle Hand auf seinen Arm. »Ich habe das Gefühl, daß Miathans kleines Schoßkätzchen sich bald selbst aus dem Spiel ziehen wird.«
»Wie meinst du das?« Bragar runzelte die Stirn.
Eliseth lachte wieder. »Ihr Männer, was seid ihr doch begriffsstutzig! Hast du nicht bemerkt, wie sie diesen Hornochsen von einem Sterblichen angesehen hat?«
»Was?«
»Erspare mir deine Entrüstung, Bragar! Du hast selbst schon oft Sterbliche gehabt, und ich auch. Aber wir hatten soviel Verstand, es nicht öffentlich zu zeigen.« Eliseth schnurrte regelrecht. »Aurian wird das nicht tun, darauf möchte ich wetten. Und unser verehrter Erzmagusch wird niemals einen Rivalen dulden. Er hat selbst Absichten in dieser Richtung.« Sie zuckte mit den Schultern. »Alles, was wir tun müssen, ist abwarten. Die Dinge werden sich von selbst irgendwann in unserem Sinn entwickeln. Und wo wir gerade beim Thema sind, ich meine, wir sollten uns auch ein wenig Verstärkung beschaffen.«
»Wie meinst du das? Worauf willst du hinaus, Eliseth? Meiriel und Finbarr würden niemals …«
»Die doch nicht, Dummkopf!« Eliseth Stimme troff vor Verachtung. »Ich spreche von Davorshan.«
Bragar brach in lautes Gelächter aus. »Meine liebe Eliseth, wie willst du ihn denn von seinem Zwillingsbruder loseisen? Und selbst wenn es dir gelingen sollte, welchen Nutzen sollte er für uns haben? Die Zwillinge haben doch beide zusammen nicht einmal genug Kraft, um eine Kerze auszulöschen.«
»Zusammen nicht. Aber wenn wir es nur mit einem einzigen zu tun hätten? Ich glaube, da liegt das Problem, Bragar. Sie haben genug Kräfte für einen Magusch, aber sie sind so eng miteinander verbunden, daß keiner von beiden an diese Kräfte herankommt. Aber ich möchte mir ihr Potential zunutze machen, und Davorshan ist wahrscheinlich der geeignetere Kandidat von den beiden. Und was das Problem betrifft, ihn von D’arvan zu trennen …« Ein selbstgefälliges, kleines Lächeln spielte um Eliseths Mundwinkel. »Ich glaube, er hat den Punkt erreicht, an dem … gewisse Anreize ihre Wirkung zeigen könnten.«
Bragar streckte die Arme aus, um sie an sich zu ziehen. »Bei den Göttern, wie hinterhältig du doch sein kannst!« sagte er beifällig.
»Stimmt.« Geschickt wich Eliseth seiner Umarmung aus. Du Narr, dachte sie voller Verachtung. Du weißt ja nicht, wie hinterhältig ich sein kann.
Forral brachte Aurian im Gasthof zum Flinken Hirschen unter, einem der besten Häuser in Nexis. Als allererstes untersagte der Schwertkämpfer ihr, auch nur die leiseste Spur von Magie zu verwenden – nicht einmal, um eine Kerze anzuzünden –, aber nun, da sie wieder mit ihrem geliebten Forral Zusammensein konnte, vermißte Aurian auch ihre Magie nicht mehr. Am ersten Abend, bei dem besten Abendessen, das das Gasthaus zu bieten hatte, brachten sie und Forral einander auf den neuesten Stand, was ihre Erlebnisse in den vergangenen Jahren betraf, und der Schwertkämpfer kam auf seinen Widerwillen gegen den Posten bei der Garnison zu sprechen. »Es ist eine ungeheure Ehre«, sagte er, »aber ich bin nicht besonders begeistert darüber. Ich habe akzeptiert, weil ich mir die Chance, daß wir beide wieder Zusammensein können, unmöglich entgehen lassen konnte. O ihr Götter, Mädchen, wie sehr ich dich vermißt habe!«
Aurian streckte ihre Hände über den Tisch und griff nach seiner Hand. »Und ich habe dich vermißt«, sagte sie weich. »Wenn du nur wüßtest, wieviel Tränen ich vergossen habe …« Ihre Augen blitzten auf. »Wie konntest du nur weggehen?«
Forral sah beschämt aus. »Es tut mir leid, mein Liebes, wirklich. Ich habe tatsächlich gedacht, es wäre am besten so. Das, was damals geschehen ist, hat mich so tief getroffen, daß ich nicht mehr klar denken konnte. Dann sagten die Heilerin und deine Mutter …«
»Mutter? Das hätte ich mir doch denken können!« Aurian konnte ihren Zorn nur mit Mühe beherrschen. »Es tut mir leid. Ich will uns den heutigen Abend nicht verderben. Die Hauptsache ist, daß du wieder da bist. Aber warum möchtest du die Kommandantur der Garnison denn nicht übernehmen?«
Forral lächelte. »Wie erwachsen du geworden bist! In all den Jahren habe ich an dich als Kind gedacht, und nun finde ich eine Frau. Es wird wohl einige Zeit dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe.« Er schenkte ihr einen sehnsüchtigen Blick, und Aurian spürte, wie sie angesichts der Vertrautheit dieses Blickes, der eine neue und beunruhigende Wärme in ihr entfachte, errötete.
»Die Garnison«, wiederholte sie, um ihre plötzliche, unerklärliche Schüchternheit zu überspielen. Zu ihrer großen Erleichterung schüttelte Forral sich, als erwache er gerade aus einem Traum, und nahm ihr Stichwort auf.
»Es ist nicht die Verantwortung, die mir Sorgen macht.« Er zog eine Grimasse. »Es ist dieser verdammte Papierkram! Ich hasse Verwaltungsarbeit.«
Aurian lachte. »Ist das alles? Dann tu sie doch einfach nicht!«
»Aurian, ich glaube nicht, daß dir klar ist …«
»Und ob es das ist. Aber als Garnisonskommandant wirst du doch so viel Einfluß haben, daß du den Papierkram auch von jemand anderem erledigen lassen kannst. Dann hast du viel mehr Zeit für Dinge, die du tun willst – und für mich!«
Forrals Gesicht war ein Abbild von Erstaunen und Erleichterung. »Aurian, du bist ein Genie!«
Sie redeten die ganze Nacht, genossen das Beieinandersein, und zum ersten Mal in ihrem Leben war Aurian betrunken. Forral machte sie mit Pfirsichlikör bekannt, und sie fand auf Anhieb den größten Gefallen daran. Aber das, was der nächste Morgen ihr dann brachte, war ein Schock für sie. Sie erwachte mit dröhnendem Kopf und Magengrimmen, und ein schneller, qualvoller Blick durch die Vorhänge zeigte ihr, daß die Sonne bereits im Zenit stand.
Als Aurian hinunterging und in den privaten Speisesaal kam, der eigens für die Gäste des Gasthauses reserviert war, stellte sie fest, daß Forral noch schlimmer dran war als sie – aber nur ein wenig schlimmer. Ein Blick auf sein bleiches Gesicht und seine trüben Augen verriet ihr, daß sie zumindest gemeinsam litten. Bei seinem Anblick stellte Aurian zu ihrer Überraschung fest, daß sie zögerte. Sie hatte in der vergangenen Nacht so merkwürdige Träume gehabt! Träume, in denen Forral sie geküßt hatte, sie gehalten hatte … Du Närrin, sagte sie entschlossen zu sich selbst. Er hat dich doch praktisch großgezogen! Es mußte am Wein gelegen haben. Aber er blickte auf und lächelte, und als sie Platz nahm, spürte sie, daß sie am ganzen Körper zitterte. Es war der Wein, wiederholte sie unerbittlich. Nur der Wein …
»Großer Chathak, Liebes, du bist ja weiß wie ein Laken!« Forral schien besorgt zu sein. »Armes Mädchen – es ist das erste Mal, daß du zuviel getrunken hast, nicht wahr? Und es ist meine Schuld.« Als er ihre Hand ergriff, schoß eine Flamme prickelnden Feuers durch Aurians Körper. O ihr Götter, dachte sie, was geschieht mit mir? Forral schob ihr eine dampfende Tasse hin, und sie beugte sich tief darüber, um ihre Verwirrung zu verbergen. Es war Taillin, ein Tee, der aus Blättern eines Strauches gewonnen wurde, der im Südosten wuchs, das Hauptstimulans der Stadtbewohner. Aurian nahm einen Schluck davon und zog bei dem sauerscharfen Geschmack des Gebräus eine Grimasse. Wie sehr sie doch die Tees ihrer Mutter vermißte, die aus einer Vielzahl von Beeren, Blumen und Kräutern gewonnen wurden und von denen jeder seinen eigenen Nutzen hatte. Nichtsdestoweniger war sie in diesem Augenblick sogar für das Taillin dankbar.
Gerade in dieser Sekunde erschien einer der Männer, die in der Gaststube bedienten, um sich mit kleinlauter Ehrerbietung zu entschuldigen. Sie hatten Forrals Identität bereits entdeckt, und was den Umstand betraf, daß sie eine Magusch zu Gast hatten …
»Es tut mir wirklich leid, mein Herr und meine Dame«, sagte er, »das ist das Beste, was wir zum Frühstück finden konnte, da es jetzt schon so spät ist und die Zeiten so schlecht sind …« Er stellte zwei Teller vor sie hin mit etwas, das Aurian wie klumpige Eier vorkam, und zog sich dann hastig zurück. Ungläubig starrte sie auf das schleimige gelbe Zeug auf ihrem Teller und schluckte die Galle herunter, die in ihrer Kehle aufgestiegen war. Die Zeiten sind so schlecht? Wie meinte er das? Gewiß konnte es trotz der Dürre nicht so schlimm stehen in der Stadt? Das gestrige Abendessen war ganz in Ordnung gewesen. Obwohl sie, wie sie sich trocken eingestehen mußte, so in Forrals Gegenwart versunken gewesen war, daß sie nicht einmal bemerkt hätte, wenn …
»Herr! Kommandant Forral!« Es war der Gastwirt persönlich, und nach dem Blick seiner Augen zu urteilen, war der Mann in heller Panik. Aurian blinzelte überrascht, als sie sein gerötetes Gesicht und seine zerzauste Erscheinung wahrnahm. Konnte dies derselbe gewandte, selbstbeherrschte Mann sein, der sie gestern abend willkommen geheißen hatte? Er zog an Forrals Arm, wobei er die unterwürfige Höflichkeit, mit der man im Flinken Hirschen seine Gäste zu behandeln pflegte, vollkommen außer acht ließ. »Herr, du mußt sofort kommen!« keuchte er. »Es gibt einen Aufstand – auf dem Marktplatz!«
»Was?« Forral stieß seinen Stuhl zurück und sprang auf die Füße. »Bleib hier«, sagte er zu Aurian und war im selben Augenblick verschwunden.
Eine Sekunde lang hielt die kindliche Gewohnheit des Gehorsams Aurians Temperament stand. Dann zogen sich ihre Brauen zusammen, und ihr Kiefer begann sich zu verspannen. Hierbleiben? Wahrhaftig, als wäre sie noch ein kleines Kind! Hier sitzen und Taillin trinken, während er sich in Gefahr begab? »Das wäre ja noch schöner!« murmelte Aurian. Dann erhob sie sich schnell und eilte Forral nach.