Das Pferd geriet ins Taumeln, riß Aurian nach vorn und hätte sie beinahe abgeworfen. Sie reagierte schnell und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht zurück in den Sattel, während sie gleichzeitig an den Zügeln zerrte, um ihr stolperndes Pferd wieder unter Kontrolle zu bekommen. Mit leisen Worten der Ermutigung streichelte sie den Hals ihres müden Hengstes und zog eine Grimasse, als sie auf ihre Hand blickte, die nun mit einer Schicht von Schweiß und Staub aus dem Fell des Tieres überzogen war. Obwohl das Pferd sich beim Klang ihrer Stimme tapfer wieder gefangen hatte, wußte sie, daß es am Ende seiner Kräfte war. Die Magusch blickte nach vorn, dorthin, wo eine weit entfernte Bergkette das Ende der Wüste markierte. Sie stieß einen leisen Fluch aus. Die ganze Nacht waren sie geritten, und nun brach der Morgen an, aber diese schneehellen Gipfel schienen kein bißchen näher gerückt zu sein. Aurian fragte sich, ob sie überhaupt noch hoffen durften, sich in Sicherheit zu bringen, bevor die Pferde unter ihnen wegstarben.
Es war die dritte Nacht ihrer Reise von der letzten Oase aus, und die Gefährten waren angesichts der furchtbaren Bedingungen so schnell geritten, wie sie nur konnten. Sie hatten nur wenig Wasser mitnehmen können und waren gezwungen, langsamer zu reiten, als sie es gern getan hätten, denn sie mußten an Shia und an ihre Pferde denken. Es hatte jedoch nur eine Lösung gegeben. Der Himmel war von niedrigen, bauchigen Wogen leuchtend gelber Wolken bedeckt, die die Sonne verbargen und es ihnen gestatteten, während eines Teil des Tages weiterzureiten, obwohl sie immer noch gezwungen waren, gegen Mittag Schutz zu suchen, wenn das Licht am hellsten und die Hitze am größten waren. Unglücklicherweise, so dachte Aurian, während sie schaudernd zum Himmel aufblickte, kündigten diese Wolken schwere Stürme an.
Es schien beinahe so, als hätte der Gedanke die trügerischen Elemente angespornt. Aurian spürte, wie ein heißer Windstoß in ihre Gewänder fuhr. Ihre Hände klammerten sich unbewußt an den Zügeln fest, während sie einen Blick auf Anvar warf. Obwohl sein Gesicht hinter den Wüstenschleiern verborgen war, sah sie, wie er sich vor Angst in dem heller werdenden Licht anspannte. Der Wind wurde stärker, trieb die dahinfliegenden Wolken mit gewaltiger Geschwindigkeit über den Himmel und riß ihre hohen Türme in Fetzen. Flecken klaren Himmels begannen sich zu zeigen und zwangen Aurian, die Augen zusammenzukneifen, damit das Funkeln des Sandes, das noch schneller als das Sonnenlicht selbst aufzustrahlen schien, ihr nicht unerträgliche Schmerzen bereitete. Die Magusch biß sich auf die Lippen; Angst umklammerte ihre Eingeweide wie eine eiserne Faust. Es war schon zu windig, um noch ein Schutzzelt aufzubauen – dünne Schlieren glitzernden Juwelenstaubs wehten über den Wüstenboden und kündigten Schlimmeres an.
»Lauft!« Sie hätte Anvars Warnung nicht gebraucht. Sie gab ihrem Pferd die Sporen und zwang es weiter auf die Sicherheit des Wüstenrandes zu – so schnell seine müden Beine es tragen konnten.
Es war nicht schnell genug. Etwa eine Wegstunde vom Rand der Wüste entfernt wurden die Wolken dünner und lösten sich auf, und die blendende Scheibe der Sonne brach durch. Aurian preßte sich die Hände auf die Augen, um das qualvolle Funkeln abzuhalten, als plötzlich Shias Schmerz durch ihre Gedanken schoß. Die Pferde heulten auf und versuchten, sich auf die Hinterbeine zu stellen, um in wilder Panik vor der Quelle ihrer Qualen zu fliehen. Die Magusch kämpfte mit den Zügeln, blind und ohne Orientierung, und versuchte verzweifelt, ihr verrückt gewordenes, dahinstürmendes Pferd unter Kontrolle zu bekommen. Der entsetzliche Gedanke, daß sie Anvar verloren haben mußte, durchschoß sie, bis sein Pferd plötzlich gegen ihr eigenes prallte und sie beinahe aus dem Sattel warf. Wild geworden vor Angst, rannten die Pferde weiter und hielten sich, getrieben vom Herdeninstinkt, nah beieinander. Aurian klammerte sich an ihrem Tier fest und versuchte, den gedanklichen Kontakt zu Shia zu halten, um ihre Freundin bei ihrer Flucht zu führen. Durch ihre Verbindung mit der Katze konnte sie spüren, daß Anvar dasselbe tat, und sie betete darum, daß sie in die richtige Richtung flohen.
Dann verschwand das weiße Funkeln wie durch ein Wunder; barmherzig wurde es ausgeschaltet, als hätte es nie existiert. Die Pferde blieben taumelnd und mit zitternden Gliedern stehen. Die schwindelerregenden Nachbilder verschwanden allmählich, und Aurian sah Anvar starr vor Entsetzen über seine Schulter zurückblicken.
Der heiße Wind fuhr in heftigen Böen in ihre Kleider und peitschte brennende Staubteufel aus scharfem Juwelensand empor. Hinter ihnen flogen große, dunkle Wolken über den Wüstenboden. Sie reichten von Horizont zu Horizont, kamen von Süden und Osten. Die Wolken verdunkelten die Sonne und schoben sich mit jedem Augenblick näher. »Ein Sandsturm!« kreischte Aurian. »Lauft!«
Sie liefen. Die Pferde, die instinktiv wußten, was hinter ihnen war, legten eine Geschwindigkeit an den Tag, die die Magusch erstaunte. Shia rannte neben ihnen her und hielt sich sorgfältig von den hämmernden Hufen fern. Jetzt, da ihr Leben auf dem Spiel stand, konnte sie auch wieder laufen. Aber wie lange würde sie diese mörderische Geschwindigkeit durchhalten können? Wie lange würde es überhaupt jemand von ihnen können? Konnten sie hoffen, dem Wind selbst zu entfliehen?
Sandschwaden wirbelten um sie herum und begannen bereits, an Aurians Gewand zu zerren; sie schürften ihr die Gesichtshaut ab, als der scharfkantige Staub sich zielsicher unter ihre Schleier stahl. Der Schmerz spornte Pferde und Reiter an und beschleunigte ihre Flucht. Aurian erhaschte immer wieder einen Blick auf den Weg vor ihr, der sich in weiter Ferne durch die sich immer wieder verlagernden Vorhänge aus Sand hindurchschlängelte und in Sicherheit führte – zu einem steilen Spalt in einer flachen Klippe, auf deren Gipfel Bäume wuchsen. Gesegnete, dick belaubte Bäume; verzerrt und zerrissen von der Wüste, aber genug, um sie vor der Kraft des tödlichen Sturmes zu schützen. Doch sie waren zu weit weg. Als der Wind die Fetzen ihres Schleiers von ihrem blutüberströmten Gesicht riß, füllte sich ihr Mund mit erstickendem Sand; noch während sie gezwungen war, ihre Augen zu verschließen, wußte sie, daß sie es nicht schaffen würden. Sie konnte hinter der Kraft des Sturms die schadenfrohe Grausamkeit der Wettermagusch spüren, und sie wußte, daß Eliseth gewonnen hatte.
Anvar spürte mehr, als daß er sah, wie Aurian taumelte, und griff mit aller Kraft in die Zügel, um sein wild gewordenes Pferd zum Stehen zu bringen. Von Shia war keine Spur mehr zu sehen, und er konnte auch ihre Gedanken nicht mehr finden. Er drehte sich auf seinem Sattel um und spähte durch seine zerfetzten Schleier hindurch auf die Magusch, die die Hände übers Gesicht geschlagen hatte, um ihre Augen zu schützen, und ihre Knie benutzte, um das Pferd weiter unter Kontrolle zu halten – mit einer Sicherheit, die das Kennzeichen von Parrics Unterricht war. Aber das hier war kein nördliches Kriegspferd, dem solche Methoden antrainiert waren, und er wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war, bevor das Tier in panischer Angst durchgehen und sie abwerfen würde. Schmerz umwölkte seine Gedanken, als der Juwelenstaub durch seine zerfetzten Kleider an seinem Fleisch riß, aber Anvar konnte Eliseths Triumph spüren, und dieser Triumph trieb ihn zu einem so gewaltigen Zorn, wie er ihn seit jener Nacht nicht mehr empfunden hatte, in der er Miathan seine Kräfte entrissen hatte. Aurian hatte keine Energie mehr, dem Angriff zu begegnen. Wenn überhaupt noch irgend etwas zu ihrer Verteidigung getan werden konnte, mußte es von ihm, Anvar, kommen. Mit plötzlicher Entschlossenheit sprang er von seinem dahinstürmenden Pferd und warf Aurian die Zügel zu, wodurch er sie zwang, ihre aufgescheuerten, blutigen Hände von ihrem Gesicht zu nehmen, um nach den Lederriemen zu greifen. Er ignorierte ihren verblüfften Gesichtsausdruck und stachelte seine Wut mit der Schärfe seiner Angst weiter an, schwang sie wie ein Schwert und streckte sein Bewußtsein aus, wie die Magusch es ihm beigebracht hatte. Dann schmetterte er seine ganze Kraft hinaus in das Gesicht des Sturms.
Frieden. Es war eine plötzliche, gesegnete Stille in dem verzauberten Brodeln von Anvars Schild, obwohl der Sturm sich mit wachsendem Zorn gegen die schimmernde, durchsichtige Barriere warf, die Anvar um sich und seine Freunde errichtet hatte. Er sah Aurian mit den wild gewordenen Pferden kämpfen. Sie hatte ihre tränenden Augen voller Überraschung auf ihn gerichtet. Der Boden hob sich plötzlich, als Shia auftauchte und sich in einem glitzernden Schauer den Juwelenstaub aus dem Fell schüttelte, um schließlich gewaltig zu niesen. Die Katze hatte genug Verstand gehabt, um sich zu Boden zu werfen und zu vergraben, so daß der Sand ihr einen gewissen Schutz vor seiner eigenen, schneidenden Kraft geboten hatte. Das war alles, was Anvar sehen konnte, bevor Eliseth ihm in frustriertem Zorn ihre gebündelte Macht entgegenschlug, als sie aus der Ferne seine Magie spürte.
Sein Schild zitterte und brach unter der Gewalt ihre Schlags, und der Sturm fiel wieder einmal über sie her. Grimmig nahm Anvar den Kampf mit Eliseth auf, und sein Bewußtsein setzte alles daran, sich in den Kern ihres Willens hineinzubohren. Er spürte, wie sie entsetzt zurückwich, als sie die Identität ihres Angreifers erkannte, und er benutzte ihr Zögern, um seine Kraft zu erneuern und den Sturm von seinen Freunden abzulenken. Eliseth schlug zurück wie eine Viper, aber diesmal rechnete er mit ihr, und sein erneuerter Schild schwankte zwar, hielt aber stand. Ihr Kampf nahm einen tödlichen Ernst an, während sie verzweifelt miteinander rangen und ihrer beider Wille ineinander griff, bis sie schließlich in eine Sackgasse gerieten: Eliseth war unfähig, seinen Schild zu durchdringen, und Anvar war in eine Position der Verteidigung hineingezwungen, in der er zu beschäftigt damit war, seine zerbrechliche Barriere aufrechtzuerhalten, als daß er zum Schlag gegen sie hätte ausholen können. Die Luft um den Schild herum zischte und summte und glühte bald rot, bald blau unter dem Druck des magischen Kampfes.
Anvar verlor jegliches Gefühl für die Zeit, während der tödliche Kampf immer weiter ging. Obwohl nur Minuten – oder vielleicht auch Stunden – vergangen waren, hatte er das Gefühl, als sei er schon seit einer Ewigkeit in diesen endlosen Kampf verstrickt, und während Eliseths heimtückische Bosheit seine Kräfte aufsog, spürte er, wie er langsam müde wurde. Er war neu in diesem Spiel, ungeübt im Kampf mit Magie, aber er biß die Zähne zusammen und hielt aus, obwohl sein Gesicht sich unter dem Druck verzerrte und seine Knie unter der unbarmherzigen Gewalt von Eliseths Willen zitterten. Wenn er jetzt versagte, waren sie alle verloren.
Die Hand, die so energisch an seinem Arm zog, war eine unwillkommene Störung in seiner Konzentration. Anvars Schild schwankte und sackte gefährlich unter der Gewalt des Sturms in sich zusammen. Aurian schrie ihm ins Ohr, und ihre Stimme klang schrill vor Anstrengung, als sie sich bemühte, seine Aufmerksamkeit zu erringen. »Laß deinen Schild sinken, laß ihn fallen und schlag zu, solange du noch Kraft dazu hast!«
Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Es ist zu spät!«
Aurian murmelte einen wilden Fluch. »Hier – nimm das!« Sie schob ihm etwas in die Hand. Anvar spürte, wie eine prickelnde Woge durch seinen Körper floß, eine Woge, die wie flüssiges Licht durch seine Adern rann. Der Stab der Erde! Während er sich bemühte, diese ungebärdige neue Macht zu beherrschen, ließ er seinen Schild fallen und schlug zu.
Er hatte versagt – das wußte er augenblicklich. Luft und Wasser, die Elemente eines Wettermagusch, waren dem Stab fremd, und daher war seine Macht begrenzt. Unerfahren, wie er war, benutzte Anvar den Stab außerdem sehr unbeholfen und ohne die tödliche Präzision, mit der Aurian zu Werke gegangen wäre. Die Konzentration seiner Macht war schwach und ungelenk und löste sich auf, bevor sie ihr Ziel erreicht hatte, so daß sie nun wieder schutzlos Eliseths Angriffen ausgeliefert waren.
»Tot und Begraben, Anvar! Ausgepeitscht, tot und begraben, ohne eine Spur zu hinterlassen!« Eliseths kreischendes Gelächter verhöhnte den Magusch, während sie mit der vollen Gewalt des Sturms auf ihn eindrosch. Er war auf seine Knie gefallen, blutete und würgte, und die gnadenlosen Zähne des Staubs fraßen an seinen Gliedern.
Eine Hand griff nach ihm – zog an seinem Ärmel … Sie fand Anvars Handgelenk, dann die Hand selbst, die immer noch den Stab umklammert hielt. Die Hand schloß sich um seine eigene, zwang seine Finger fester um das schlangenförmig geschnitzte Holz. Dann kam die Berührung von Aurians Geist, und es war wie ein Segen – keine Störung, keine Einmischung, sondern eine zaghafte Frage –, eine Berührung, die sanfter war und intimer als jegliche körperliche Liebkosung es hätte sein können. Obwohl die Magusch ihre Kraft verloren hatte, waren ihre Gedanken durch die Macht des Stabes mit denen Anvars verbunden gewesen, dieses Stabes, den er geschnitzt und den sie mit Magie ausgestattet hatte. Ah, welche Nähe! Anvar wußte ohne zu fragen, was Aurian von ihm wollte. Glücklich und voller Vertrauen überließ er ihr seine Kräfte, hielt sie ihr hin, legte sie in ihre Hände.
»Jetzt!« Anvar konnte später nicht sagen, ob er wirklich laut oder nur in Gedanken aufgeschrien hatte. Sie entriß ihm seine Magie, verwob sie mit der Macht des Stabes und formte sie zu einem Schild. So gewaltig war die Kraft ihrer Tat, daß der Sand unter ihren Füßen davongeblasen wurde, bis sie in einem flachen Krater knieten, während der Zorn des Sturms sich abermals legte.
Weit entfernt in Nexis taumelte Eliseth nach hinten, als ihre Magie an einer unbeugsamen Mauer der Kraft abprallte und sie zurücktaumeln ließ, als hätte sie ein körperlicher Schlag getroffen. Das Gebäude zitterte, als befände es sich im Griff eines Erdbebens, und sie wurde auf den Boden des Wetterdoms geworfen, wo sie mit dem großen Kartentisch zusammenstieß und sich den Kopf aufschlug.
»Eliseth! Was ist los? Ich konnte die Magie bis in den Maguschturm hinein spüren.« Es war Bragar. Er hob die Wettermagusch auf die Füße, und sein Schild senkte sich, um eine feurige Wand um sie beide zu schließen, die sie vor dem bösartigen Rückprall jeder Magie beschützte. Ausnahmsweise war Eliseth einmal wirklich dankbar dafür, ihn zu sehen.
»Aurian!« keuchte sie. »Sie hat mich angegriffen!« Bragar durfte nicht herausfinden, daß sie sich Miathans Befehlen widersetzt hatte – er war zu feige, um sich einer so offenen Rebellion anzuschließen, und sie brauchte seine Hilfe.
»Was? Aber wie?« Auf Bragars Gesicht zeigte sich der gewohnte Ausdruck von Verständnislosigkeit. »Der Erzmagusch sagte, sie habe ihre Kräfte verloren …«
»Er hat sich geirrt!« Eliseth hatte ihr Gedanken so weit wieder unter Kontrolle, daß sie einen neuen Plan schmieden konnte. Diesen feigen Bastard Anvar hätte sie ja noch allein besiegen können, aber er und Aurian zusammen waren zuviel. Doch wenn sie die beiden trennen könnte … Und es gab eine Möglichkeit, das wußte sie: eine Schwachstelle in Aurians Verteidigung, die immer existiert hatte. Aber Eliseth hatte nicht die Absicht, sich noch einmal der gesammelten Macht der beiden Abtrünnigen auszusetzen. Nicht, wenn sie den armen, ach so gefügigen Bragar dafür benutzen konnte. Eliseth drehte sich zu dem Feuermagusch um und schenkte ihm ihr verführerischstes Lächeln. »Es tut mir leid, Bragar. Ich wollte dich nicht so anfahren. Ich bin froh, daß du gekommen bist, denn nur du kannst mir jetzt noch helfen.«
»Keine Angst, Eliseth – ich werde dich beschützen«, rief Bragar. Bei den Göttern, er war so einfältig! Während sie innerlich kicherte, weihte die Maguschfrau ihn schnell in ihren Plan ein.
»Ich bin bereit«, sagte Bragar. Die Wettermagusch warf einen überaus befriedigten Blick auf die kräftige, flammende Barriere, die er mit all seiner Kraft aufgebaut hatte. Falls ihre List fehlschlagen sollte, dann würde sie zumindest keine Angst vor den Konsequenzen zu haben brauchen. Im sicheren Schutz hinter dem Schild von Bragars Magie wandte Eliseth ihren Willen wieder auf Aurian und begann eine Illusion zu weben, eine Illusion und eine unwiderstehliche Verlockung.
Aurian und Anvar waren durch ihre um den Stab gelegten Hände immer noch in Gedanken miteinander verbunden. Ihre Berührung schenkte ihnen Kraft und Trost. Aurian, die es nicht wagte, auch nur für einen Augenblick loszulassen, benutzte ihre freie Hand, um sich das Blut und den Sand aus dem Gesicht zu wischen. Hinter ihrem Schild wütete der Sturm weiter, obwohl seine Kraft jetzt etwas nachgelassen hatte.
»Wir haben sie nicht umgebracht, nicht wahr?« Anvars Gedanke drang so deutlich zu der Magusch hinüber, als hätte er ihn ausgesprochen.
»Nein«, erwiderte Aurian. »Wir haben sie durchgeschüttelt – aber sie wird gleich wieder da sein.«
In wortloser Übereinstimmung überdachten sie ihre Möglichkeiten. Sollten sie es riskieren, den Schild sinken zu lassen, um Eliseth zu schlagen, bevor sie sich erholen konnte, oder sollten sie ihn lieber solange wie möglich aufrecht erhalten, so daß sie sicher zum Rand der Wüste gelangen konnten? Es würde ein langer Marsch werden – ihre Pferde waren verschwunden und mittlerweile gewiß tot. Es war Shia, die die Angelegenheit endgültig besiegelte. Die große Katze kauerte flach auf dem Boden. Sie hatte ihre Pfoten über die Augen gelegt und war unfähig, sich unter dem gewaltigen Ansturm von Magie zu bewegen, der in ihrem Schild herrschte. Sie würde es niemals schaffen, das wußte Aurian. Sie sah zu Anvar hinüber und wußte, daß sie in diesem Augenblick ihre Entscheidung getroffen hatten – in absoluter Harmonie. Sie würden kämpfen.
Aurian erhob sich unsicher auf die Füße, wobei sie immer noch Anvars um den Stab gelegte Hand umklammerte. Wieder einmal nahm sie seine rohen Kräfte und die des Stabs der Erde zu Hilfe und kombinierte sie mit der geübten Kraft ihres Willens. Sie fühlte sie belebt und gestärkt durch die tröstende Nähe seiner Berührung. Dann ließ sie den Schild sinken, sammelte sich …
Und erstarrte. Durch die dahinstreifenden Vorhänge aus Staub kam eine Gestalt auf sie zu – die vertraute Geistergestalt ihrer verlorenen Liebe. »Forral«, rief sie. Wie gebannt von der Erscheinung, ließ Aurian Anvar los, löste ihre Hand von dem Stab und trennte ihre Verbindung. Ohne sich bewußt zu sein, daß sie die anderen auf Gedeih und Verderb dem Sturm überließ, bewegte sie sich wie eine Schlafwandlerin auf den Geist des ermordeten Kriegers zu. Sie schützte ihre Augen mit den Händen vor dem brennenden Sand und spähte zwischen ihren Fingern hindurch. Durch den peitschenden Diamantstaub sah sie, wie Forral sich von ihr entfernte, so wie er es in Dhiammara getan hatte; er winkte ihr, ihm in das Herz des Sturms zu folgen. »Forral.« Das Wort war kaum mehr als ein Flüstern. Die Magusch machte einen taumelnden Schritt nach vorn und dann noch einen …
Aurian spürte mehr, als daß sie es sah, wie Anvar den Schild wieder aufrichtete. Als der Sand um sie herum zu Boden fiel und dort liegenblieb, trat er mit einem undeutlichen Fluch hinter sie. Eine grobe Hand griff nach ihrer Schulter und riß sie zurück, und er kämpfte sich an ihr vorbei, so daß er ihr den Blick auf Foralls geisterhafte Gestalt versperrte. »Nein. Du kannst sie nicht haben!«
»Laß mich gehen!« kreischte Aurian. »Forral, warte!« Während sie mit Anvar kämpfte, zitterte der Schild abermals, hielt jedoch stand. Obwohl Anvar alle Kraft brauchte, um ihre einzige Verteidigung aufrechtzuerhalten, ließ er Aurian trotzdem nicht gehen.
»Du hattest deine Chance«, rief er dem Geist zu. »Aurian gehört den Lebenden! Verschwinde von hier. Laß uns in Ruhe!«
»Aurian, nein« Shias Gedankenstimme war voller Angst. Aus den Augenwinkeln sah die Magusch, wie die große Katze verzweifelt versuchte, sich zu erheben, dann aber besiegt und geschlagen wieder zu Boden fiel. Doch Aurian war so in der Verlockung von Eliseths Zauber gefangen, daß nicht einmal dieser Anblick sie bewegen konnte.
»Laß mich los, du Mistkerl!« zischte sie Anvar zu. Sie hob die Hand und schlug ihm quer übers Gesicht. Anvar fing ihr Handgelenk auf und hielt es so fest, daß Aurian vor Schmerz aufkeuchte. Auf seinem Gesicht brannte der Abdruck ihrer Hand, und er sah zutiefst unglücklich und verletzt aus, aber seine Augen brannten.
»Das ist das zweite Mal, daß du mich dafür schlägst, daß ich dir das Leben gerettet habe. Ich dachte, wir hätten diesen Unfug endgültig hinter uns gelassen.«
»Du verstehst es nicht«, schrie Aurian. »Ich liebe ihn!«
»Ich verstehe es nicht?« Anvars Gesicht verzog sich zu einer gequälten Maske, während er versuchte, an zwei Fronten gleichzeitig zu kämpfen; mit der einen Hand mußte er den Schild aufrechterhalten, während er mit der anderen versuchte, Aurian zurückzuhalten. »Forral ist tot!« sagte er brutal. Aurian zuckte zusammen und haßte ihn in diesem Augenblick, aber seine Finger waren fest um ihr Handgelenk geschlossen und hinderten sie an der Flucht, während er ihr die unerträgliche, unausweichliche Wahrheit ins Gesicht schleuderte. »Er ist tot, du Närrin. Aber du lebst – und dein Kind lebt. Du hast kein Recht, diesem Kind die Chance zum Leben zu rauben. Das wäre vollkommen falsch, und du weißt es auch.« Anvar sah ihr direkt in die Augen. »Ich verstehe dich, weil ich dich liebe – und wenn ich an Forrals Stelle wäre, würde ich dich viel zu sehr lieben, um dich und unser Kind in den Tod zu locken.«
Seine Offenheit hatte dieselbe Wirkung auf Aurian, als hätte er ihr einen Schlag erwidert. Unfähig, seine Worte zu leugnen, konnte sie nur Verletzung mit Verletzung erwidern. »Darum geht es also, ja?« gab sie verbittert zurück. »Du willst mich für dich selbst – das ist dein einziges Ziel. Nun, ich liebe dich aber nicht, Anvar. Ich hasse dich! Was auch immer geschehen mag, ich werde dich niemals lieben, so lange ich lebe!«
Aurians Worte hallten in der entsetzten Stille zwischen ihnen wider. Anvar zuckte zusammen, als hätte sie ihm einen tödlichen Schlag versetzt, und dann ließ er sie mit einem Fluch los, schleuderte sie beinahe von sich. »Dann geh, wenn es dich glücklich macht. Folge deinem kostbaren Forral in den Tod. Töte euer Kind, wenn es dir nichts bedeutet. Lauf vor deiner Verantwortung weg und laß deine Freunde im Stich.« Er drehte sich um, als verachte er sie, aber Aurian sah seine zusammengesackten und zitternden Schultern und wußte, daß er weinte. Sie warf der winkenden Gestalt Forrals einen sehnsüchtigen Blick zu, aber sein Gesicht wurde plötzlich von dem Anvars überlagert – von dem Schmerz in seinen blauen Augen, dem häßlichen Abdruck auf seinem Gesicht, dort, wo sie ihn geschlagen hatte. Und plötzlich wußte Aurian, daß sie, wenn sie Forral in den Tod folgte, dieses Gesicht vermissen würde. Dieses Gesicht und Anvars liebevolle, treue Gegenwart würde sie mehr vermissen, als sie ertragen konnte. Aber sie liebte doch Forral. Einen anderen ihm vorzuziehen wäre ein entsetzlicher Betrug!
Und doch schwankte Aurian, unfähig, diesen letzten entscheidenden Schritt zu machen. Sie wußte, daß Anvar sie liebte, und wenn sie mit Forral ging, würde er dieselben Qualen erleben, die sie durchlitten hatte, als der Schwertkämpfer gestorben war. Als sie Anvar im Sklavenlager das Leben gerettet hatte, hatten sich ihre Seelen selbst berührt. Er hatte sich damals an ihre Hand geklammert, als sei sie sein einziger Anker im Leben. Sara hatte ihn bereits betrogen – wie konnte sie ihm nun dasselbe antun? Nach allem, was sie miteinander durchgemacht hatten, schuldete sie ihm doch gewiß mehr als das.
Tränen strömten über Aurians Gesicht. Sie hatte das Gefühl, als risse es ihr das Herz aus dem Leibe, aber sie straffte die Schultern und blickte dem geisterhaften Schatten Forrals direkt ins Gesicht. »Es tut mir leid«, rief sie. »Ich kann nicht! Ich kann nicht mit dir kommen!« Als ihr unglücklicher Schrei die Luft zerriß, flackerte die Geistererscheinung und verschwand.
Aurian sank im Sand zusammen; ihre Trauer raubte ihr die Kräfte, aber nur für einen Augenblick. Sie hatte keine Zeit, zu weinen. Plötzlich spürte die Magusch, wie sie eine neue Stärke durchflutete – ein Gefühl von Freiheit und eine neue Reife. Sie hatte ihre Wahl getroffen. Sie hatte das Leben dem Tod vorgezogen – die Zukunft der Vergangenheit –, und was auch immer die Zukunft für sie bereithalten mochte, sie würde sich dem stellen. »Steh auf, verdammt«, befahl sie sich mit fester Stimme, »Anvar braucht dich!«
Anvar hatte Aurian den Rücken zugewandt, denn er war unfähig gewesen, zuzusehen, wie sie in den Tod ging. Obwohl sein Blick von Tränen verschwommen war, hielt er den Stab fest in der Hand und benutzte seine Kraft noch immer als Schild gegen Eliseths heimtückischen Ansturm. Er versuchte, nicht an das zu denken, was hinter ihm geschah, denn er wußte, daß er sich auf seine Verteidigung gegen den Sturm konzentrieren mußte, doch sein Herz ließ ihn im Stich. Vor seinem inneren Auge sah er, wie es enden würde. Aurian würde seinen Schild durchdringen und in den Sturm hinausgehen, würde ihrem eigenen Tod in die Arme laufen bei ihrer törichten Suche nach einem verblichenen Traum. Es würde nichts von ihr übrigbleiben. Der Sand würde sie bis auf die Knochen entblößen.
Der Magusch kämpfte mit aller Kraft gegen sein Elend, aber sein Wille wurde schwächer. Wenn Aurian ihn haßte, welchen Sinn hatte es dann noch, diesen Kampf fortzusetzen? Es wäre so leicht, den Stab einfach wegzuwerfen, seinen Schild fallen zu lassen und hinter ihr herzulaufen, ihr über diese letzte Grenze zu folgen, wie er ihr nun schon so lange gefolgt war. Als er schließlich alle Hoffnung verloren hatte, fiel der Stab tatsächlich aus Anvars Fingern …
Und wurde von einer Hand aufgefangen, die aus dem Nichts zu kommen schien – einer starken, mächtigen Hand mit langen Fingern, die übersät waren von den alten, weißen Narben so vieler Kriege. Eine Hand, die Tod oder Heilung austeilen konnte.
Eine Woge der Freude verschlang Anvar wie eine lautlose Explosion aus Licht. Aurians Gesicht war von Tränen überströmt und grimmig, ausgezehrt und gequält, aber sie sah ihm direkt in die Augen, und ihr Kinn hob sich zu dieser wohlvertrauten, entschlossenen Geste, die er so gut kannte. Voller Freude legte Anvar seine Hand auf ihre und spürte einen heftigen Ruck von Energie, als sein Wille sich mit dem Aurians und der Macht des Stabes vereinte.
»Jetzt kriegen wir diese Hexe!« Aurians kurzes, angespanntes Grinsen war verschwörerisch, und durch Tränen der Erleichterung grinste Anvar zurück, während er ihr abermals seine Kräfte darbot. Aurian ergriff sie, ließ den Schild sinken und schlug zu.
Ihr Schlag wurde von einer neuen Kraft getrieben, ihr vereinter Wille war eine machtvolle Waffe, geschmiedet aus gemeinsamem Schmerz und Aurians neuem Bewußtsein für den Sinn ihres Lebens. Zusammen mit der Macht des Stabes war es genug. Als ihr Schlag sein Ziel erreichte, spürte Anvar das ferne Echo der Qual, das den Tod eines Magusch bezeichnete. Sein Schild funkelte und loderte und war jetzt ein sicherer Schutz gegen den tödlichen Juwelensand, aber er wurde nicht mehr gebraucht. Der Sturm war verschwunden. Über ihren Köpfen schimmerten die Sterne an einem klaren Himmel, der im Westen die Pracht des Sonnenuntergangs zeigte. Anvar blickte voller Erstaunen auf. Stunden waren während ihres Kampfes vergangen, schließlich sogar ein ganzer Tag – aber nun endlich war er vorbei.
Miathan hatte sich in Trance aus seinem Körper herausbewegt, um sich für den vor ihm liegenden Abend auszuruhen, an dem er weitere Opferhandlungen vollbringen wollte, die seine Macht noch vergrößern würden. Er würde in den nächsten Wochen ziemlich viel Zeit außerhalb seines Körpers zubringen, die Gestalt seines neuen Strohmannes im Süden annehmen, während er dort die Dinge in Bewegung brachte, die zu Aurians Gefangennahme führen sollten. Im Vertrauen auf seine eigene Autorität war es ihm nie in den Sinn gekommen, daß Eliseth möglicherweise seine Pläne durchkreuzen könnte.
Aurians und Anvars letzter Angriff auf Eliseth riß den Erzmagusch mit einem Ruck wieder in seinen Körper zurück, während das Bett unter ihm zu zittern begann. Die plötzliche Rückkehr in die Körperlichkeit hatte ihn seiner Orientierung beraubt, und er taumelte auf die Füße, stolperte über den Boden, der unter ihm stampfte und bebte. Mit einem ohrenbetäubenden Knall und einer Explosion blendenden Lichts im Hof draußen erzitterten die Grundfesten seines Gemachs, und Glassplitter gingen auf ihn nieder. In seinen Ohren dröhnte es, während er die Splitter wegwischte und sich vorsichtig zum Fenster hin bewegte. Die Vorhänge flatterten wild im Wind, zerfetzt zu qualmenden Lumpen. Er schob sie beiseite, um aus dem Fenster zu spähen, und keuchte, als er die Verwüstung draußen erblickte. Das war unmöglich! Was war geschehen, während er seinen Körper verlassen hatte?
Der Hof erstickte unter Wogen aus glitzerndem Sand, und der Erzmagusch mußte sich durch diesen Sand hindurchkämpfen, um zu den geschwärzten Überresten des zerschmetterten Kuppelbaues zu gelangen. Nachdem er sich mühsam durch den qualmenden Schutt gekämpft hatte, erreichte er endlich die vollkommen zerstörte innere Kammer des Wetterdoms und sah Eliseth über einer schwarzen, entstellten Leiche knien: die kaum noch erkennbaren Überreste Bragars. Der Geruch von verkohltem Fleisch hing in der Luft, und der Erzmagusch mußte eine Welle der Übelkeit niederkämpfen.
»Aurian«, wisperte Eliseth. Sie war erschüttert, aber unversehrt. Bragar hatte die volle Gewalt des Schlags aufgefangen und sich geopfert, um sie zu schützen.
Wie hatte sie diesen ahnungslosen Tölpel nur dazu überredet? fragte Miathan sich und wischte dann alle Gedanken an den glücklosen Feuermagusch beiseite. Bragar war immer ein Idiot gewesen. Aber es war eindeutig, daß Eliseth ihm vorsätzlich ungehorsam gewesen war und einen Angriff auf Aurians Leben unternommen hatte. Zitternd vor Wut, wandte Miathan seinen drohenden Juwelenblick auf die sich krümmende Wettermagusch. Langsam und mit geballten Fäusten ging er auf sie zu.
»Was hast du getan?« fauchte er. »Was hast du getan?«
Aurian ließ den Stab fallen und ging in die Knie; sie zitterte vor Erschöpfung und von den Nachwirkungen der Magie. Anvar sank neben ihr nieder. »Wir haben es geschafft«, murmelte er, obwohl er immer noch unfähig war, es zu glauben. »Wir haben sie getötet.«
Aurian nickte. »Ich habe einen Todesschmerz gefühlt«, flüsterte sie. Ihr Gesicht war blutleer, und Anvar fing sie auf, als sie plötzlich taumelte. »Mir geht es gut«, murmelte sie – ihre automatische Antwort –, aber sie zitterte heftig, als sie ihm ihr erschüttertes Gesicht entgegenhob. »Anvar, ich …«
»Aurian, nach dem, was du gerade durchgemacht hast – nach all den furchtbaren Dingen, die ich zu dir gesagt habe – wage es bloß nicht, dich bei mir zu entschuldigen«, schalt Anvar sie sanft.
»Aber ich …« Aurians Stimme erstickte in einem Sturzbach schrecklicher Schluchzer.
»Ach, mein Liebes.« Anvar schloß seine Arme um sie und fuhr ihr übers Haar, während sie weiterweinte. »Meine liebe, tapfere Aurian.« Das Ausmaß von Aurians Entscheidung erfüllte ihn mit Ehrfurcht. Sie war gezwungen gewesen, eine grausame Wahl zu treffen – eine unmögliche Wahl –, und doch war sie mit Mut zu Werk gegangen; und wenn er die Magusch kannte, dann auch mit vollkommener Ehrlichkeit. Und nachdem sie einmal ihre Entscheidung getroffen hatte, würde sie auch dabei bleiben. Noch während er sie tröstete, spürte Anvar, wie sich eine entsetzliche Last der Sorge von seinem Herzen hob. Seit jener Nacht ihrer Flucht aus Nexis, als sie mit ihm gehadert hatte, weil er ihr das Leben gerettet hatte, hatte er schreckliche Angst ausgestanden, daß sie am Ende doch noch jenen einen Weg wählen würde – daß sie ihn verlassen würde, um ihrem Liebsten in den Tod zu folgen. Aber nun hatten sie den schicksalsschweren Kreuzweg erreicht, und die Krise war vorüber. Aurian hatte das Leben dem Tod vorgezogen – hatte sich dafür entschieden, bei ihm zu bleiben, statt Forral zu folgen.
Obwohl Aurians Kummer ihn schmerzte, hob sich Anvars Geist wie zu einem freudigen Gesang. Oh, es lag noch ein langer Weg vor ihnen, soviel stand fest. Sie waren noch ganz am Anfang – Forral war kaum ein halbes Jahr tot, und Aurian würde noch einige Zeit um ihn trauern. Sie würde mit aller Kraft ihrer sturen Natur dagegen ankämpfen, jemand anderen zu lieben. Aber nichtsdestotrotz war das ein Kampf, den Anvar zu gewinnen beabsichtigte – und nun besaß er die Kraft und die Entschlossenheit, um ihrem eigenen, unbeugsamen Willen zu begegnen.
Anvar lächelte bei sich. Meine liebste Aurian, dachte er. Wieviel ich dir doch schulde! Zuerst hast du einen Magusch aus mir gemacht – und nun auch noch einen Krieger. Und eines Tages, das verspreche ich dir, werde ich dir das alles zurückzahlen – indem ich dich wieder glücklich mache. Anvar schloß seine Arme fester um die weinende Magusch. »Weißt du, was ich tun würde, wenn wir jetzt in Nexis wären?« murmelte er. »Ich würde dich in jede Taverne der Stadt schleppen und zusehen, daß du betrunkener wirst, als du es je in deinem Leben gewesen bist!«
Aurian sah dankbar zu ihm auf und schluckte. Dann bemühte sie sich, ihre Stimme wiederzufinden. »Es ist noch ein langer Weg bis nach Nexis«, sagte sie endlich.
»Wir werden es schaffen«, versicherte Anvar ihr. »Und wer weiß – vielleicht finden wir ja auch unterwegs schon ein paar Tavernen für dich!«
»Wenn wir welche finden, werde ich dein Angebot ganz bestimmt annehmen«, sagte Aurian kläglich. Anvar freute sich darüber, ihren alten Kampfgeist wieder aufblitzen zu sehen. In ihrer so vertrauten unbewußten Geste wischte sie sich das Gesicht mit dem Ärmel ab, und er stieß einen gespielten Seufzer aus.
»Weißt du«, neckte er sie, »ich glaube, daß ich dir diese schreckliche Angewohnheit niemals austreiben werde.«
Aurian funkelte ihn wütend an und war kurz davor, eine vernichtende Erwiderung zu machen, als Anvar kicherte.
»Also wirklich, du …« fauchte sie, aber ihre Lippen begannen zu zucken, und plötzlich warf sie die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. »Mein lieber Anvar«, murmelte sie. »Ich danke dir.«
Shia, die in der Hitze des Gefechts vollkommen vergessen worden war, kroch zu ihnen heran und legte ihren Kopf in Aurians Schoß. »Du hast einen tapferen Sieg erstritten, meine Freundin. Ich bin froh, daß du geblieben bist«, hörte Anvar sie sagen.
»Das sind wir beide«, fügte er sanft hinzu.
»Meine Freunde«, flüsterte Aurian und streckte die Hand aus, um die Katze zu streicheln. Sie sah erst Shia an, dann Anvar und holte schließlich tief Luft. »Wißt ihr«, sagte sie langsam, »trotz allem, was geschehen ist, bin auch ich froh, daß ich geblieben bin.«
Aurians Haar war vollkommen zerzaust und voller Sand; ihr Gesicht war schmutzig, von Tränen überströmt und abgeschürft von dem glitzernden Staub; ihre Kleider waren nichts als eine Masse Lumpen – aber für Anvar war sie, als er sie in seinen Armen hielt, schöner denn je. Es gab soviel, was er ihr in diesem Augenblick gern gesagt hätte, aber das mußte er sich für die Zukunft aufsparen – die Zukunft, die Aurian, ob sie es nun wußte oder nicht, ihm endlich doch gewährt hatte.
Als der Morgen über dem Juwelensand zu funkeln begann, blickte Aurian von ihren dahintrottenden Füßen auf, um festzustellen, daß sie endlich den Rand der Wüste erreicht hatten. Langsam und müde waren die beiden Magusch und Shia die ganze Nacht hindurch gelaufen und hatten darum gebetet, daß sie in Sicherheit wären, bevor die Sonne sich von neuem hob. Obwohl Aurians Füße weh taten und sie müde war, obwohl ihr Gesicht überschattet war von einer tiefen Traurigkeit, fühlte ihr Herz sich doch seltsam leicht an. Es tut mir leid, Forral, dachte sie, aber ich konnte nicht mit dir kommen, noch nicht. Ich habe dir damals nicht geglaubt, als du sagtest, es wäre falsch, wenn ich in meiner Trauer eines Tages mein Leben würde wegwerfen wollen, aber du hattest recht, mein Liebster, du hattest recht. Das Leben hat mir mehr zu bieten als Leid und Rache. Da gibt es Freundschaft und Hoffnung und neues Leben – und vielleicht, wenn das Schicksal es gut mit mir meint, werde ich lange genug leben, um unseren Sohn seinen eigenen Platz in der Welt einnehmen zu sehen.
Aurian blieb abrupt stehen, und ihr wurde schwindlig vor Überraschung. Ein Sohn? dachte sie. Woher weiß ich, daß es ein Junge ist? Aber sie begriff, daß sie es wußte. Ganz sicher. Voller Staunen wandte sie ihre Gedanken nach innen, um nicht nur einen Funken von Leben zu fühlen, sondern einen Geist. Einen winzigen, ungeformten, kindlichen Geist, aber trotzdem den Geist einer Person: ihres Sohnes. Zum ersten Mal wußte er, daß sie da war – erkannte er sie –, und seine kleinen, noch kaum konzentrierten Gedanken streckten sich vertrauensvoll nach ihr aus, vertrauensvoll und mit unendlicher Liebe.
»Anvar!« kreischte Aurian. Ihre Gedanken wirbelten in ungeheurer Erregung durcheinander, einer Erregung, die sie unbedingt mit ihrem liebsten Freund teilen mußte. Er drehte sich zu ihr um, und Aurian rannte auf ihn zu, als hätte sie Flügel wie Rabe. Dann preßte sie ihn fest an sich und lachte über seinen überraschten Gesichtsausdruck. Ihre Worte überstürzten sich in ihrem Eifer, ihm die gute Neuigkeit zu überbringen. »Anvar, es ist ein Junge! Ich habe ihn gespürt! Er kennt mich! Ich – er liebt mich, Anvar!«
»Du hast ihn …? Ich meine, er ist – er tut das wirklich? Oh, Aurian!«
Anvar wirbelte sie herum, bis ihr ganz schwindlig war. Seine blauen Augen leuchteten, und sein Gesicht war vor Freude ganz verändert. Und plötzlich ertönte über ihnen ein glücklicher Schrei, als wolle er an ihrer Feier teilhaben. Während sie die Tränen des Glücks zurückblinzelte, sah Aurian auf und erblickte dort oben im Wald am Rande der Wüste Yazour, der seine Arme um Eliizar und Nereni gelegt hatte. Neben ihm stand die breite, vertraute Gestalt von Bohan, und sein Gesicht verzog sich zu einem glücklichen Grinsen, während Shia den steilen Hang hinaufjagte, um ihn zu begrüßen. Aurian und Anvar sahen einander an.
»Ich danke dir, Anvar, daß du mich zurückgehalten hast«, sagte Aurian sanft. Er lächelte – lächelte dieses seltene, wunderbare Lächeln, das immer die Kraft gehabt hatte, ihr Herz zu berühren. Aurian streckte die Hand nach ihm aus, und er ergriff sie. Gemeinsam machten sie sich daran, ihre Freunde zu begrüßen.
Miathan, der in seinem Turm brütete, schleuderte seinen Kristall mit einem grauenvollen Fluch von sich und wünschte, er hätte Aurian nicht ausgerechnet in diesem Augenblick hinterherspioniert. Wie konnte sie es wagen, glücklich zu sein! Wie konnte sie es wagen, sich über die Brut dieses verfluchten Schwertkämpfers zu freuen! Und noch dazu zusammen mit diesem anderen abscheulichen Halbblut, das er, Miathan, gezeugt hatte! Nun, er würde seine Rache noch bekommen. »Wollen wir doch mal sehen, wie du dich freust, Aurian, wenn du das Monster zur Welt bringst, das du im Leib trägst«, murmelte er. »Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du dich nur noch über den Gedanken an den Tod freuen!«
Während er noch immer düster vor sich hin murmelte, hob der Erzmagusch den Kristall wieder auf, der in den Kamin gerollt war, wo er die marmorne Feuerstelle zerkratzt hatte. Noch war nicht alles verloren, tröstete er sich. Er hatte immer noch eine oder zwei Waffen in seinem Arsenal, und Eliseths Rebellion paßte gar nicht so schlecht in seine Pläne. Seine –, Rache würde wegen des langen Wartens nur um so süßer ausfallen – und diesmal würde er nicht versagen.