25 Die Gefangenen

Die Nachtfahrer hatten sich in einer sicheren und geheimen Honigwabe von Höhlen ein Zuhause geschaffen – vom Ozean aus war es über einen Tunnel von einer Stelle an der Küste aus zu erreichen, wo die Wellen sich in einer dunklen Öffnung in den Klippen verloren. Dieser unterirdische Kanal, der tief genug für ein Schiff war, öffnete sich zu einer riesigen Höhle. Ein sanft gerundeter Kiesstrand wurde nach hinten immer schmaler und verlor sich schließlich in den tiefen Wassern, bevor er die senkrechte Felswand am hinteren Ende der Höhle erreichte. In dem gewaltigen Bassin lagen vier kleine, schlanke und schnittige Schiffe mit Galionsfiguren, die nach dem Vorbild legendärer Tiere mit Talent und Liebe geschnitzt und bemalt waren. Eine Reihe kleinerer Boote war am Strand vertäut; dieser Strand stieg sanft zu einer breiten Terrasse aus flachem Fels an, und die Wand dahinter war durchlöchert von dunklen Eingängen, die in das Labyrinth von Fluren und Kammern führten, in denen die Schmuggler lebten.

Die Höhle wurde von Lampen und Fackeln beleuchtet, die auf in Fels gehauenen Konsolen standen oder auf hohen Holzpfosten thronten, die fest im Kreis verankert waren. Ihr flackerndes Licht spiegelte sich in den glitzernden Splittern der Glimmererde und den feinen Erzadern in den Wänden wider und fand sein Echo im Funkeln der Tränen in Zannas Augen.

Sie wollte nicht von hier weg. In drei kurzen Monaten war dieser Ort ihr Zuhause geworden. Sie haben mich hier wirklich leben lassen, rechtfertige Zanna sich gegen die Schuldgefühle, die ihre Liebe zu diesem Ort belasteten. Obwohl Dulsinas Schwester Remana freundlich und liebevoll gewesen war, hatte sie nicht versucht, Zanna zu verzärteln, als könne sie zerbrechen. In der geheimen Welt der Nachtfahrer mußte sich jeder nützlich machen.

Zanna hielt am Eingang der massiven Höhle inne, und die Erinnerungen an den Tag, an dem sie hier angekommen war, überfielen sie. Sie war müde und durchgefroren gewesen und hatte nicht wenig Angst gehabt. Trotz Dulsinas Versicherungen hatte der Widerwille, mit dem die Schmugglermannschaft sie akzeptiert hatte, Zweifel in ihr geweckt, ob sie in ihrem Versteck willkommen sein würde. Aber von dem Augenblick an, in dem Vannors Tochter mit dem gereizten Antor auf dem Arm über die federnde Laufplanke in die Welt der Höhle eingetreten war, hatte sich Remana als eine Quelle des Trostes und der Beruhigung erwiesen.

Die große, grauhaarige Frau, älter und stämmiger als ihre Schwester, aber mit derselben aufrechten Haltung, demselben energischen Auftreten und den klugen, zwinkernden grauen Augen, hatte Antor auf den einen Arm genommen und den anderen um das müde Mädchen gelegt. Zannas Versuch, ihr Erscheinen zu erklären, unterbrach sie mit einer Flut energischer, freundlicher Worte.

»Das spielt doch alles keine Rolle, Kind – du siehst vollkommen erschöpft aus. Ich nehme nicht an, daß diese nutzlosen Männer auch nur daran gedacht haben, dir etwas zu essen zu geben, oder? Nein? Das habe ich mir doch gedacht. Männer! Die einzige Möglichkeit, sie zu Verstand zu bringen, ist, ihnen ein Ruder auf den Kopf zu schlagen. Was? Dulsina hat dir einen Brief für mich mitgegeben? O Wunder über Wunder! Ich weiß, es ist nicht leicht, an diesem Ort irgendwelche Nachrichten zu bekommen, aber meine Schwester ist die schlechteste Briefschreiberin, die man sich nur denken kann … So, da wären wir, mein Kind – das ist die Küche –, und wir werden zusehen, daß du im Nu etwas zu essen bekommst und dich aufwärmen kannst …«

Noch während sie das gesagt hatte, hatte Remana die belustigte Zanna durch etwas hindurchgeführt, das ihr damals wie ein Labyrinth aus miteinander verbundenen Höhlen und Tunneln erschienen war. Endlich hatten sie einen niedrigen, überwölbten Eingang am Ende eines Flures erreicht und waren in eine warme, von Wohlgerüchen erfüllte Höhle getreten, die sich als Gemeinschaftsküche erwies. In der Gemeinschaft der Nachtfahrer hatte sogar der Küchendienst seinen Platz. Er war denen überlassen, die für die anstrengenden Arbeiten nicht in Frage kamen: den alten und den ganz jungen. In dieser Hinsicht trug jeder, sogar die Kinder, zum Wohlergehen der eng zusammengeschweißten Gruppe bei. Ein Gefühl der Dazugehörigkeit wurde schon bei den Allerjüngsten geweckt. Es war ein gutes System, fand Zanna – besser als das der Stadt, wo die Armen wie Sklaven gehalten wurden und kleine Kinder und Menschen, die zu alt waren, um noch irgendwelche handwerklichen Arbeiten zu verrichten, in den stinkenden Straßen betteln mußten oder gezwungen waren, sich um des Überlebens willen dem Verbrechen zuzuwenden. Die Küche war erfüllt von fröhlichem Geklapper und hell erleuchtet von vielen Lampen; ihre verrußten Wände erglühten in einem sanften Rot, erleuchtet von dem warmen Licht der Kochherde. Selbst zu dieser frühen Stunde herrschte hier geschäftiges Treiben. Ein blühendes, junges Mädchen, eine von den Ziegenhirtinnen, goß warme, frische Milch in Kannen, die in einem eisigen Becken im hinteren Teil der Höhle standen, wo die See durch einen unterirdischen Riß bis hierher dringen konnte. Ein Junge hockte vor einem Herd und rührte in einem Topf mit Haferbrei. Daneben dampfte ein Kessel voll duftenden Tees, den die Nachtfahrer aus getrockneten Blumen und Seegras gewannen, das oben auf den Klippen wuchs. Ein alter Mann mit knotigen Händen nahm in einer Ecke der Küche Fische aus, und die Früchte seiner Arbeit brieten bereits auf runden Backblechen über einem Feuer, sorgfältig bewacht von seiner Frau. Eine andere alte Frau schlug Möweneier in einer Schale auf, unter den hungrigen Augen eines kleinen Jungen und eines Mädchens, die auf die steilen Klippen geklettert waren und dort diese Eier gesammelt hatten. Das köstliche Aroma frisch gebackenen Brotes lag in der Luft.

Antor verursachte eine Sensation. Binnen wenigen Sekunden hatte eine lärmende Gruppe entzückter alter Fischersfrauen ihn in ihre Obhut genommen, und er wurde gebadet und gefüttert, verwöhnt und verhätschelt. Remana versicherte sich zuerst, daß niemand in seinem Eifer die Zubereitung des Frühstücks vernachlässigte, und wandte sich dann wieder Zanna zu. Sie wies ihr einen Platz neben dem Feuer zu und reichte ihr eine große Schüssel Haferbrei, eine Tasse mit dampfendem Tee, eine Scheibe von dem warmen, frischen Brot und etwas scharfen Ziegenkäse. Dann schenkte sie sich selbst eine Tasse Tee ein, setzte sich an die andere Seite des Kamins und las, während Zanna frühstückte, Dulsinas Brief.

»Also wirklich! Mein armes, liebes Mädchen, du hast schwere Zeiten hinter dir, nicht wahr?« Zanna errötete unter Remanas forschendem Blick, als die grauhaarige Frau einmal kurz von dem Brief aufschaute. »Mach dir keine Sorgen, mein Kind – wir werden gut für euch beide sorgen, und ihr könnt so lange bleiben, wie ihr wollt. Sei versichert, daß ihr hier willkommen seid, meine Liebe – ja, sogar sehr willkommen.«

Und so begann eine der glücklichsten Zeiten in Zannas Leben. Sie bekam eine Kammer neben der Remanas – ein winziger, mit Vorhängen abgeteilter Schlafraum, den man, wie so viele andere Räume hier, in den Felsen geschlagen hatte. Eine mühsame Arbeit, die nach und nach in den vielen Jahren, in denen die Nachtfahrer in diesem Höhlenlabyrinth lebten, zuwege gebracht worden war. Die wunderbar exzentrischen Möbelstücke waren aus Treibholz gemacht, und auf dem Boden lagen bunte Lumpenteppiche. Dicke gewobene Wandbehänge halfen, die Kälte, die von den dicken Mauern ausströmte, ein wenig einzudämmen, denn nur in der Küche und in den wichtigsten Wohn- und Arbeitsräumen gab es Kamine, die durch natürliche Brüche in den Klippen entlüftet wurden.

»Aber habt ihr denn keine Angst, daß der Rauch gesehen werden könnte?« hatte Zanna Remana gefragt.

»Aber nicht im geringsten, mein Kind. Zum einen bleibt nur sehr wenig Rauch übrig, wenn er erst einmal durch das ganze Felsmassiv gezogen ist, und zum anderen« – Remanas Augen wurden groß und rund, als sie ihre Stimme senkte – »wagt sich niemand jemals an diese verlassene Küste. Weißt du, hier spukt es.«

»Es spukt?« Zanna keuchte.

Remana brach in Gelächter aus. »Zanna, wenn du doch nur dein Gesicht sehen könntest! Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen müßtest. Es ist lediglich ein riesiger, hoher Stein in der Nähe, oder, um genauer zu sein, am anderen Ende der Bucht – ein großes, hoch aufragendes, schwarzes Ding, das ausgesprochen finster aussieht, vor allem bei Mondlicht. Leynards Großvater, der erste Führer der Nachtfahrer, fand heraus, daß die einheimischen Fischer und Schafhirten furchtbar abergläubisch waren, was diesen Stein betrifft. Daher hat er ein paar ›Gespenster‹ organisiert – du weißt schon, mysteriöse Lichter, die des Nachts um den Stein hüpfen, geisterhafte Stimmen im Wind, der Klang unsichtbarer Reiter, die vorüberziehen – dieser ganze alte Quatsch. Jetzt traut sich keiner mehr in seine Nähe. Aber denk daran …« Einen Augenblick lang hoben sich ihre Brauen zu einem Stirnrunzeln. »Ich muß zugeben, daß die Tiere Angst vor ihm haben, aber wirklich, es gibt keine Grund zur Furcht. Um genau zu sein, sind wir dankbar für den Stein, denn er schenkt uns Sicherheit. Ich wollte dich nur warnen, für den Fall, daß du dort hinauf reitest. Die nähere Umgebung des Steines sollte man besser meiden, wenn man keinen Sturz riskieren will …«

»Ich kann hier reiten lernen?« Zanna, die den Stein bereits vergessen hatte, konnte vor Freude kaum an sich halten.

»Willst du damit sagen, daß dein Vater es dir nicht beigebracht hat?« Remana wirkte schockiert. »Ich habe von Dulsina allerdings gehört, daß Vannor seine Töchter am liebsten in Watte packen würde, aber bei den Göttern, das geht wirklich zu weit. Natürlich kannst du reiten lernen – das ist etwas, das jedes Mädchen können sollte. Später im Jahr, wenn das Wetter besser wird, werde ich dir auch beibringen, wie man segelt …«

Und so kam es auch. Remana, die zu ihrem Wort stand, verlor keine Zeit, sondern erkor schnellstens einen jungen Schmuggler zu Zannas Lehrer, und in kürzester Zeit war sie zu einer unersättlichen Reiterin geworden, die an jedem Tag, an dem es das ungewisse Winterwetter gestattete, mit dem flachsblonden Burschen Tarnal hinausritt. Die Nachtfahrer unterhielten eine Herde schneller, stämmiger, trittsicherer Ponys, die für gewöhnlich wild auf der grasbewachsenen Landzunge herumlaufen konnten. Aber wenn Stürme über die östlichen Küste peitschten, kamen sie auch bereitwillig durch einen schmalen, niedrigen Tunnel, dessen Eingang oben auf den Klippen von einem Stechginsterbusch verborgen wurde, und ließen sich in die Sicherheit der Ställe in den Höhlen führen.

Zanna liebte ihre Ausritte mit Tarnal. Der Blick von den Klippen über den Schmugglerhöhlen war einfach prachtvoll. Unter und rechts von ihnen erstreckte sich ein bleicher, halbmondförmiger Strand zwischen den Klippen und dem leuchtenden Meer. Etwa eine halbe Wegstunde entfernt befand sich auf der gegenüberliegenden Spitze des Halbmondes ein grüner, von einem gewaltigen, finsteren Stein gekrönter Hügel, und dahinter lagen die endlosen, sanften, graugrünen Hügel des öden Moorlandes. Wenn sie auf ihrem geliebten Pony saß, einem zotteligen, fröhlich gescheckten Tier, das sie Piper genannt hatte, konnte Zanna zusammen mit dem Schmugglerjungen viele Meilen übers Moor reiten, und das Haar der beiden, das ihre dunkelbraun und seines von hellstem Gold, wehte hinter ihnen im Winterwind. Müde, aber überglücklich und mit von der Kälte schmerzhaft kribbelnden Händen und Gesichtern kehrten sie zur Abenddämmerung heim zu heißer Suppe in der Küche und einem liebevollen Schelten von Remana dafür, daß sie so lange ausgeblieben waren. Obwohl sie ihren Vater vermißte, hatte Zanna das Gefühl, als wäre sie jetzt erst richtig nach Hause gekommen.

Zuerst hatte sie sich darüber gewundert, warum sie keine Beweise für die eigentliche Tätigkeit der Schmuggler finden konnte, aber eine kichernde Remana hatte ihr das schon bald erklärt. »Oh, aber doch nicht im Winter, mein liebes Kind. Das ist unsere stille Jahreszeit, könnte man sagen. Die See ist viel zu rauh, um unsere Schiffe zu riskieren, und um ehrlich zu sein, gibt es im Winter ja auch kaum etwas, mit dem man handeln könnte.«

Sie hatte Zanna erklärt, daß die Hauptaktivität der Schmuggler darin bestand, zwischen den Küstendörfern hin und her zu pendeln. Sie brachten einheimische Nahrungsmittel und Handwerkswaren von einer Gemeinschaft zur anderen. Das Ganze basierte auf einem Tauschsystem und trug dazu bei, die unverschämten Preise, die die Händlergilde verlangte, zu umgehen. Auf diese Weise kamen auch die armen Bauern in den Genuß von Luxusgütern, die ihnen ansonsten verwehrt gewesen wären. »Natürlich ist dein Vater als Vorstand der Gilde offiziell gegen dieses kriminelle Verhalten«, hatte Remana bemerkt. »Glücklicherweise ist er privat der Überzeugung, daß die Händler schon genug Profite machen und die Bauern ruhig die Früchte ihrer Arbeit genießen sollten. Außerdem«, sie blinzelte Zanna zu, »wäre da auch die Kleinigkeit unserer südlichen Partnerschaft! Zumindest war das früher so.« Ihr Gesicht hatte sich bewölkt, und sie hatte nicht mehr gesagt, aber Zanna wußte, daß sie an Yanis dachte. Sie schwor sich, daß sie, bevor es für ihn Zeit war, wieder davonzusegeln, einen Plan für ihn ersinnen würde, wie er die Südländer besiegen konnte.

Während die Wintertage dahingingen, lernte Zanna viele Dinge von ihren Schmugglerfreunden. Die alten Männer hatten sie ins Herz geschlossen und zeigten ihr, wie man in den Gezeitenpfützen draußen vor den Höhlen fischen konnte. Bei Ebbe stritten sie um das Vorrecht, ihr beizubringen, wie man an den felsigen Riffen in der Nähe der Höhlen die Krabbenreusen befestigte. Remana hatte ihr versprochen, daß sie ihr im Frühjahr, sobald es ruhig genug dazu war, selbst das Segeln beibringen würde. Und sie wollte Zanna in das Geheimnis einweihen, wie man den einen sicheren Weg durch das trügerische Labyrinth der unterirdischen Riffe finden konnte.

Im Winter bestand ein großer Teil der Arbeit für die jüngeren, kräftigeren Männer darin, die Schiffe und ihre Ausrüstung zu reparieren und zu warten. Während draußen die Schneestürme wüteten, zeigten die Frauen Zanna, wie man Netze, Seile und Segel flickt und wie aus Lumpenfäden und rohem Sackleinen die Teppich gemacht wurden, die ihre Füße vor der Kälte der Steinfußböden bewahrten. Außerdem weihten sie sie in die Geheimnisse ihrer wunderschönen, raffinierten Weberei ein, die sie benutzten, um die warmen Wandbehänge anzufertigen, die die düstere Finsternis der Höhlen aufhellten.

Das waren gesellige Zeiten, erfüllt von Lachen und Plaudern, Schwatzen und Neckereien zwischen den jungen Frauen. Es gab auch eine Menge Gerede über die gutaussehenden, wettergegerbten jungen Männer und darüber, wer in wen verliebt war und wer heiraten würde. Zu diesen Zeiten war Zanna zufrieden damit, einfach nur zuzuhören und sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Obwohl Tarnal ihr ergebener Schatten geworden war, hatte sie bereits entschlossen, daß sie keinen anderen als Yanis heiraten würde, denn vom ersten Tag an hatte sie ihn geliebt. Glücklicherweise, oder auch vielleicht unglücklicherweise, hatte der Führer der Nachtfahrer bisher noch keine Ahnung von dem Schicksal, das sie für ihn entworfen hatte – und nun würde er vielleicht auch niemals davon erfahren, denn Zanna mußte fort.

Zanna hielt in dem dunklen Eingang, der zu der großen Hafenhöhle führte, inne, wie gelähmt von dem Ansturm der glücklichen Erinnerungen, die ihr jetzt solchen Schmerz bereiteten. Wütend schüttelt sie den Kopf und wischte sich die Tränen weg. Das würde ihr nicht helfen. Drei kurze Monate lang war sie glücklich gewesen, bis die Botschaft von der jüngsten Katastrophe in Nexis gekommen war. Eine Botschaft von Ungeheuern, gräßlicher, als je ein Mensch es sich hätte vorstellen können; Ungeheuer, die viele Tote gefordert hatten. Sie hatten auch davon gehört, daß der Erzmagusch die Macht ergriffen hatte und die Stadt in seinem Würgegriff des Entsetzens hielt. Und keine Nachricht von Vannor, der seit jener entsetzlichen Nacht, in der so viele gestorben waren, spurlos verschwunden war.

Als Remana ihr diese Neuigkeiten überbracht hatte, waren Zannas Schuldgefühle darüber, Vannor verlassen zu haben, mit überwältigender Macht zurückgekehrt. Sie hatte sofort gewußt, was sie tun mußte. Sie mußte nach Nexis zurückkehren, um ihren Vater zu finden oder zumindest herauszubekommen, was mit ihm geschehen war. Wenn die Nachtfahrer ihren Plan durchschaut hätten, hätten sie sie natürlich niemals gehen lassen – das war auch der Grund, warum sie jetzt spät in der Nacht hier herumschlich und sich auf ihre Flucht vorbereitete.

Es war eine glückliche Fügung, daß es in den letzten Tagen viel gestürmt hatte und die Pferde daher unten in den Ställen der Höhlen standen. Der Schneesturm, der draußen tobte, würde die Reise sowohl schwierig als auch gefährlich gestalten, aber Zanna glaubte, daß es reichen würde, wenn sie an diesem Abend nur irgendwo irgendeine Stelle zum Schlafen finden konnte – dann, wenn sie auf diese Weise die Verfolger, die Remana ihr zweifellos hinterherschicken würde, abgeschüttelt hatte, konnte sie ihren Weg bei Tageslicht fortsetzen. Es sollte doch nicht zu schwierig sein, über die Moore hinweg nach Nexis zu finden? Sie hoffte es jedenfalls.

Zanna spähte in den Bogengang hinein, um nach dem Wachposten, der bei Nacht auf die Schiffe aufpaßte, Ausschau zu halten. Als er in Sichtweite kam und seine Schritte über den Kiesstrand knirschten, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Bisher schien ihr Plan zu funktionieren. Sie hatte sich mit einem letzten Rest von Geduld dazu gezwungen, zu warten, bis Tarnal abends Dienst hatte. Nun holte sie tief Luft und trat ihm entgegen.

»Du bist aber noch spät auf!« Tarnal klang überrascht, aber wie sie erwartet hatte, leuchteten seine braunen Augen bei ihrem Anblick auf. Ach du liebe Güte, dachte Zanna – ich hoffe, ich bringe ihn nicht in allzu große Schwierigkeiten. Es gelang ihr, ein Lächeln zuwege zu bringen.

»Ich konnte nicht schlafen«, erzählte sie ihm kläglich. »Obwohl wir hier unter der Erde sind, scheint der Sturm mich trotzdem aufzuregen.«

»Ach, so geht es vielen von uns«, versicherte Tarnal ihr. »Das heißt, daß du ein guter Wetterprophet bist, wie wir es nennen. Du hast wirklich alle Voraussetzungen für einen guten Nachtfahrer, Zanna.« Er grinste sie schüchtern an, und sie wußte nur allzugut, was in ihm vorging. Er schmachtete schon so lange nach ihr, aber was für ein Zeitpunkt, romantisch zu werden!

»Wie dem auch sei«, sagte Zanna energisch, »da ich nicht schlafen konnte, dachte ich, ich sollte vielleicht in den Stall runtergehen, um nachzusehen, ob mit Piper alles in Ordnung ist.«

Tarnais Gesicht leuchtete auf. »Gute Idee«, sagte er. »Man kann bei diesem wilden Wetter nie wissen, was mit den Pferden los ist. Ich sage dir was – ich komme mit für den Fall, daß du Hilfe brauchen solltest.«

O nein, das wirst du nicht, dachte Zanna grimmig. Wenn du mich allein in diesem schönen, warmen, strohgefüllten Stall erwischt …

»Das ist sehr nett von dir, Tarnal«, sagte sie schnell, »aber wenn Yanis herausfände, daß du deinen Posten verlassen hast, wärst du wirklich in Schwierigkeiten.« Sie sah ihn mit einem kurzen, verschwörerischen Blinzeln an. »Bleib hier, Tarnal – ich bin gleich wieder da.« Mit diesen Worten trat sie hastig den Rückzug an und betete, daß er es sich nicht in den Kopf setzen würde, ihr zu folgen.

Die Stallhöhle war von der Wärme der dicht aneinandergedrängten Tierleiber erfüllt. Als sie eintrat und das schwere Gitter, das den Ausgang verschloß, hinter sich zuzog, konnte Zanna das sanfte Schnauben der Pferde, die im Dunkeln standen, vernehmen, gefolgt von einem Rascheln im Stroh und einem Scharren von Hufen auf den Steinen, als die schläfrigen Geschöpfe ihre Gegenwart bemerkten. Große leuchtende Augen wandte sich in ihre Richtung und funkelten wie Juwelen, als sie das Licht der Lampe, die sie bei sich trug, reflektierten. Zanna stellte sich auf die Zehenspitzen, griff hinauf und stellte die Lampe sehr vorsichtig in eine tiefe, hoch in die Felswand zu ihrer rechten Seite hineingehauene Nische. Es gab strenge Regeln, die sicherstellten, daß die Flammen nicht mit dem zundertrockenen Farngestrüpp in Berührung kamen, das den Boden der Höhle bedeckte. Ein Funke würde genügen, um die Höhle binnen Sekunden in ein flammendes Inferno zu verwandeln.

Zanna schlurfte durch die tiefe Lagerstreu und bewegte sich an der Wand entlang, bis sie an eine Reihe von Haken kam, an denen Sattel und Zaumzeug hingen. Dann durchstöberte sie einen Haufen Farngestrüpp und zog ihren warmen Umhang sowie das Bündel Nahrungsmittel und die anderen Dinge, die sie früher am Abend dort versteckt hatte, hervor. Statt all diese Dinge zusammen mit dem unhandlichen, sperrigen Sattel durch die Menge der ruhelosen Tiere hindurchzuschleppen, beschloß sie, zuerst Piper einzufangen und ihn dann herzubringen. Sie zog Pipers Sattel von seinem Haken, nahm einen Apfel aus der Tasche ihres Rocks und schlängelte sich vorsichtig durch die unruhigen Pferde hindurch, wobei sie sanft nach ihrem gescheckten Pony rief.

Piper gehorchte ihrem Ruf – das hatte sie ihm beigebracht, indem sie ihm jedesmal etwas Gutes mitbrachte, wenn sie ihn reiten wollte. Zanna lächelte, als er gierig seine Schnauze in ihre Handfläche drückte und den Apfel mit einem einzigen Bissen zermalmte. Während er nach Nachschub suchte, ließ sie das Zaumzeug über ihn gleiten und machte es schnell fest. Dann warf sie ungeachtet ihrer Eile die Arme um Pipers gewölbten Hals und barg ihr Gesicht in seiner schwarzweißen Mähne, um ihre Schluchzer zu ersticken. O ihr Götter, wie sehr sie ihn liebte! Und Remana und Yanis und Antor und Tarnal und all die anderen …

Das Pony schnaubte und drehte mit hoffnungsvoll aufgestellten Ohren den Kopf, um an ihrer Tasche zu knabbern. Sie hatte jedoch keine Äpfel mehr – alles, was er fand, war ihr Taschentuch, das er trotzdem herauszog. Zannas Schluchzen verwandelte sich in zittriges Gelächter. »Na vielen Dank, du kluger kleiner Kerl!« sagte sie zu ihm. Nachdem sie ihr durchgekautes und ziemlich feuchtes Taschentuch wieder zurückerobert hatte, führte sie das Pony zu dem Platz an der Mauer, wo sie ihre Sachen zurückgelassen hatte.

Zanna machte Piper an einem Haken fest und drehte sich um, um den Sattel über ihn zu legen – immer eine Strapaze für jemanden, der so klein war wie sie. Nachdem sie den Sattel vorsichtig auf den Rücken des Ponys gelegt hatte, kauerte sie sich unter seinen Bauch, um den herabhängenden Gurt zu finden – und wurde mit einem spitzen Schrei hochgerissen, als eine kräftige Hand sich um ihre Schulter schloß. Zanna wirbelte herum, und ihr Herz hämmerte vor Schreck, als sie sich in den Armen von Yanis wiederfand.

»Ich habe darauf gewartet, daß du weglaufen würdest, seit dem Tag, an dem ich dir von deinem Vater erzählt habe«, sagte der Schmuggler, aber in seinem Gesicht stand Mitleid, nicht Zorn.

»Yanis, bitte, halt mich nicht auf«, bat Zanna. »Ich muß gehen – ich kann es nicht ertragen! Ich muß es einfach wissen, verstehst du nicht …« Tränen schössen in ihre Augen.

»Ich weiß, Mädchen. An deiner Stelle würde ich genauso empfinden«, sagte Yanis sanft, »aber sich allein in diesen Sturm da hinauszuwagen ist keine Lösung. Selbst harte Männer, erfahrene Männer, haben sich in solchen Schneestürmen auf den Mooren da draußen verirrt, und alles, was wir im nächsten Frühling von ihnen fanden, waren ihre Knochen, sauber abgenagt von Wölfen – das heißt, wenn wir überhaupt irgend etwas gefunden haben.«

Zanna starrte ihn voller Entsetzen an. Einen Augenblick lang hatte sie gehofft, ihn überreden zu können … . aber obwohl sie offensichtlich keine Chance hatte, arbeitete ihr schneller Verstand bereits an einem neuen Plan. Yanis würde die Pferde zuerst mit Argusaugen beobachten, aber wenn sie sein Mißtrauen nur lange genug einlullen konnte …

»Na schön.« Sie seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Es tut mir leid, Yanis – ich wußte nicht, daß die Moore so gefährlich sind, aber jetzt, da du es mir erklärt hast …« Sie hielt den Atem an und war sich plötzlich seiner Umarmung bewußt; das war das erste Mal seit dem Tag ihrer Ankunft, daß er sie berührt hatte. Sie wollte nicht, daß er sie losließ, aber wenn ihr neuer Plan funktionieren sollte, war es wichtig, daß sie ihn glauben machte, sie habe sich in ihr Schicksal gefügt. Seufzend schob sie ihn von sich und wandte sich zum Gehen.

»Warte!« Yanis hielt sie am Arm fest. »Ich weiß, was du denkst. Du brauchst nur eine Weile zu warten, und dann kannst du es wieder versuchen – aber das wird nicht funktionieren, verstehst du?«

Zanna keuchte, voller Wut darüber, daß er sie durchschaut hatte. »Und was genau hat dich auf diese Idee gebracht?« fragte sie eisig.

Das Gesicht des jungen Schmugglers verdunkelte sich. »Ich weiß, was du von mir hältst«, sagte er steif, »aber das ist das erste Mal, daß du mir meine Dummheit um ein Haar ins Gesicht geschrien hättest. Nun, laß dir eines gesagt sein – es gibt Dumme und Dumme, und es war nicht schwierig für mich, festzustellen, was du vorhattest. Ich brauchte mich nur einen Augenblick lang in deine Lage zu versetzen. Ich selbst hätte niemals so leicht aufgegeben, und ich war mir sicher, daß du das auch nicht tun würdest, da du deinen Vater so sehr liebst. In diesem Fall warst du die Dumme, weil du mich unterschätzt hat.« Sein Finger schlössen sich noch härter um Zannas Arm, bevor er fortfuhr: »Die Nachtfahrer können dich nicht einfach in deinen sicheren Tod gehen lassen, du kleine Närrin! Ich werde dich nicht gehen lassen! Ich bin ein geduldiger Mann, glaub mir, und es ist Winter, also habe ich nichts Besseres zu tun. Gewöhne dich an den Gedanken, mich in deiner Nähe zu haben, Mädchen, denn ich habe die Absicht, von jetzt an dein Schatten zu sein.«

Zanna starrte ihn mit offenem Mund an. Einen Augenblick lang war sie zu wütend, um zu sprechen. Sie blickte in sein rauhes, hübsches Gesicht; die dunkelgrauen Augen funkelten zornig, und der Mund war jetzt hart und unnachgiebig. Noch vor nicht allzu langer Zeit wäre Vannors Tochter überglücklich gewesen bei dem Gedanken, Yanis ständig an ihrer Seite zu haben. Nun aber erfüllte diese Vorstellung sie mit Zorn und Enttäuschung. »Du Mistkerl!« schrie sie und trat ihm, so fest sie nur konnte, vor das Schienbein. »Ich könnte genausogut deine Gefangene sein!«

Mit einem unterdrückten Fluch ließ Yanis ihren Arm los, und Zanna floh mit Tränen der Wut aus der Höhle.

»Ich könnte genausogut deine Gefangene sein.« Die Erdmagusch Eilin funkelte den Waldfürsten an. »Du hast mir mit Absicht meinen Stab genommen, um ihn D’arvan zu geben, so daß ich nicht in mein Tal zurückkehren kann. Du konntest es kaum erwarten, die Chance zu ergreifen, wieder mit dem Schicksal der Welt da draußen herumzuspielen!«

Hellorin sah sie fest an, erwiderte jedoch nichts auf ihre Anschuldigungen. In Eilin stieg der Verdacht auf, daß er einfach abwarten würde, bis ihr Zorn verraucht war – warum sollte er schließlich seinen Atem in einer fruchtlosen Debatte verschwenden? Gleichgültig, wie sehr sie auch wüten und streiten und protestieren würde, sie war vollkommen in seiner Macht.

Die Magusch stellte fest, daß sie vor Zorn zitterte. »Einmischer!« fuhr sie ihn an. »So war es immer mit den Phaerie! Euch ist es egal, daß der Erzmagusch rücksichtslos die ganze Welt niedertrampelt! Solange ihr nur Euren Einfluß auf die Ereignisse habt, was kümmert es Euch da? Ist dir denn nicht klar, daß ich die einzige Magusch bin, die im Norden noch übriggeblieben ist, um sich Miathan in den Weg zu stellen? Du hast diese zwei Kinder auf mein Tal losgelassen, ausgerüstet mit meinem Stab, um, ganz auf sich gestellt, gegen den Erzmagusch zu kämpfen. Im Namen aller Götter, mein Fürst – sie brauchen mich!«

»Nein, Eilin – sie brauchen dich nicht.« Hellorins Stimme war sanft, aber die verborgene Kraft darin sandte ein Schaudern über die glatte silbergraue Borke, die die Wände des Zimmers bedeckte. Die Magusch versuchte, ihren Zorn weiter anzufachen: Das legendäre Temperament der Magusch war das einzige, was sie bisher davor bewahrt hatte, diesem Koloß von einem Unsterblichen nicht mit allzu großer Ehrfurcht zu begegnen. Sie verschränkte die Arme, und ihre Lippen zogen sich zu einer schmalen Linie zusammen.

»Warum nicht?« wollte sie wissen. »Sag mir einen einzigen guten Grund, warum nicht!«

»Weil ich der Herr hier bin und ich sage, sie brauchen dich nicht!«

Als Hellorin die Stirn runzelte, war es, als hätte sich eine Wolke über die Sonne geschoben, obwohl es in diesem wandellosen, zeitlosen Anderswo keine Sonne gab. Als sich seine dunklen Brauen zusammenzogen, schauderte Eilin bei dem Geräusch eines weit entfernten Donnergrollens. »Sei vorsichtig, Maguschfrau – ich mische mich nicht ein, wie du es nennst. Weder aus Langeweile noch aus Gehässigkeit – obwohl die Schuld, die dein Volk dem meinen gegenüber hat, eine immerwährende Versuchung ist.« Hellorins Stimme war nun wie eine Klinge aus Eis, und Eilin machte unwillkürlich einen Schritt zurück und rieb sich die Gänsehaut, die ihre Arme überzogen hatte.

»Darum geht es also!« zischte sie. »Rache – schlicht und ergreifend Rache. Oh, du magst ja auf deiner Unschuld beharren, mein Fürst, aber wäre ich keine Magusch –«

»Wärst du keine Magusch, hättest du den Mordanschlag von einem Mitglied deines eigenen Volkes nicht überlebt«, erklärte Hellorin ihr mit ausdrucksloser Stimme, und seine Augen glitzerten vor Ärger. »Wärst du keine Magusch, wärst du niemals hierhergekommen, um mich zu quälen!«

»Wenn ich dich quäle, dann laß mich gehen!« konterte Eilin schnell.

»Bei allen Götter, Eilin, begreifst du mich denn nicht? Ich – kann – nicht!« Hellorin warf die Arme mit der Geste des Besiegten in die Höhe und stampfte über den moosgrünen Teppich zum Fenstersims, wo eine Flasche Wein und zwei Kelche bereitstanden. Dann warf er sich auf einen Sessel vor dem Fenster, schenkte sich und Eilin etwas Wein ein und hielt ihr einen Becher hin. »Hier – setz dich, du verflixtes Weibsbild, und hör auf, dich so aufzuplustern. Wir wollen diese Kampf beenden, ein für allemal.«

»Aber …«

»Eilin, bitte!«

Die Veränderung in Hellorins Stimme entwaffnete die Erdmagusch. Sie biß sich auf die Lippen, ging durch das Zimmer auf ihn zu und hockte sich zaghaft auf die Kante eines anderen Sessels.

»Du siehst aus wie ein kleiner brauner Vogel, der in der Luft flattert und bereit ist, sich bei der leisesten Gefahr davonzumachen.« Hellorins feingemeißelter Mund wurde weicher, als er lächelte, und Eilin stellte sehr zu ihrem Ärger fest, daß auch die letzten Funken ihres gerechten Zorns wie Nebel bei Sonnenaufgang dahinschmolzen.

»Ein kleiner brauner Vogel, also wirklich!« gab sie scharf zurück, aber trotz all ihrer Bemühungen mußte sie bemerken, daß ihre Lippen zuckten, als sie den Kelch aus seiner Hand entgegennahm.

Hellorins Augen hatten sich keine Sekunde lang von ihr abgewandt. »Ruh dich aus, meine Lady«, sagte er sanft. »Deine Heilung ist erst vor kurzem erfolgt, und du brauchst Zeit, um deine Kraft wiederzuerlangen. Es wird dir nur schaden, wenn du dich so aufregst.«

»Ist das der Grund, warum du mich noch nicht gehen lassen willst?« Eilin stürzte sich begierig auf seine Worte. »Willst du damit sagen, daß ich, wenn …«

»Nein.« Das Wort war von erschreckender Endgültigkeit. Hellorin seufzte. »Lady, ich habe diese Erklärung aufgeschoben, um dich nicht über die Grenzen deiner Kraft hinaus zu beunruhigen – und weil ich fürchtete, daß du mir nicht glauben würdest.« Er nahm ihre Hand in seinen festen, warmen Griff, und seine unergründlichen Augen bohrten sich in die ihren. »Eilin, du mußt versuchen, zu verstehen. Was ich dir jetzt sagen werde, ist die absolute Wahrheit – ich schwöre es beim Haupte meines Sohnes. Als man dich hierhergebracht hat, waren deine Verletzungen tödlich, selbst für eine Magusch. Meine Heiler haben dich vom Abgrund des Todes zurückgeholt – an diesem Ort, an dem die Phaerie ihre Macht besitzen und die Zeit keinen Einfluß hat, war es ihnen möglich, das zuwege zu bringen. Aber dank deiner Maguschvorfahren hat ihre Macht – unsere Macht – in der irdischen Welt keinen Einfluß mehr. Um es kurz zu machen, du bist in dieser Welt geheilt, aber nicht in deiner eigenen. Wenn du versuchst, zurückzukehren …«

»Nein!« Eilin stieß einen erstickten Schrei aus. Ihr Blut war wie Eis in ihren Augen. »Das kann nicht wahr sein – es kann einfach nicht wahr sein!« Aber der Kummer auf dem Gesicht des Waldfürsten, das überwältigende Mitleid in seinen Augen überzeugten sie mehr, als irgendwelche Worte es vermocht hatten, daß er die absolute Wahrheit sprach. Eilin hatte nach all den Tragödien in ihrem Leben geglaubt, jedem Unglück, das das Schicksal ihr in den Weg werfen konnte, überlegen zu sein, aber dieser letzte grausame Streich des Schicksals fällte sie mit einem einzigen tödlichen Schlag.

Die uneinnehmbare Zitadelle wilden Maguschstolzes, mit der Eilin sich nach dem Tode Geraints umgeben hatte, begann endlich dahinzuschwinden und zu Staub zu zerfallen, und die Magusch hatte das Gefühl, zusammen mit ihrem Stolz zu zerbrechen. »Ich kann nicht von hier weg?« flüsterte sie. »Ich kann nicht nach Hause – nie mehr?«

Der Schmerz in Hellorins Augen sagte alles. »Ich fürchte nein, Lady«, erwiderte er voller Mitleid. »Zumindest nicht, bis …«

Aber Eilin hörte diese letzten wichtigen Worte nicht mehr. Sie gingen unter in dem Geräusch endlos brechenden Glases, als ihre diamantene Festung zu Scherben zerbrach, Scherben die fielen; fielen wie ihre Tränen …

Hellorin konnte sie nur hilflos im Arm halten, während sie zitterte und weinte. Ihre Verletzungen hatten sie natürlich furchtbar geschwächt – viel mehr, als es ihr bewußt war –, aber trotzdem war er über ihren tiefen Kummer bestürzt. Eilin so zu sehen, war mehr, als er ertragen konnte: sie, die immer so wild und stolz gewesen war. Wie sehr er sie dafür bewundert hatte. Niemand hatte sich seit Jahrhunderten so gegen ihn behauptet – bis auf die kleine Maya natürlich. Wir waren wirklich viel zu lange von der Welt geschieden, überlegte er. Während unserer Abwesenheit scheint sich dort ein wilder und wunderbarer Frauentyp entwickelt zu haben. Aber selbst die stärksten Frauen brauchten gelegentlich Hilfe.

Der Fürst der Phaerie sammelte seine Kräfte und stieß einen lauten Befehl aus: »Genug!« Ein gewaltiges Donnergrollen schien die Luft zu zerreißen, und ein Lichtblitz zuckte mit einer sengenden Flamme durch das Zimmer. Eilin sprang auf die Füße, schlug sich die Hand vor ihren offenen Mund, und der Widerhall von Macht in dem kleinen Zimmer ließ ihr das Haar wie einen leuchtenden Strahlenkranz vom Kopf abstehen. Ihre Augen wirkten riesig in ihrem kreideweißen Gesicht. Hellorin lächelte sie an. »So ist es schon viel besser!« sagte er energisch. »Und jetzt, da ich deine Aufmerksamkeit habe, Eilin …«

Der Waldfürst ergriff die Hand der verblüfften Magusch und zog sie hinter sich her aus dem Zimmer, um sie eine gewundene, hölzerne Treppenflucht hinunterzudrängen, die sich durch den ganzen schlanken Turm bis nach unten zog. Er ignorierte das ungläubige Starren seiner Untergebenen und zog sie hinter sich her durch jene scheinbar endlose Folge von Hallen und Gemächern, die seine Zitadelle bildeten, bis sie schließlich die große Halle durchquerten, in der Maya und D’arvan sich ausgeruht hatten, und durch das große, gewölbte Außentor ins Freie gelangten. Ohne einen Augenblick lang innezuhalten, drängte er sie die Stufen der Außenterrasse herab und über einen Rasen bis hin zu den nebelhaften Umrissen der dahinterliegenden Wälder.

»Hellorin, warte! Ich kann nicht …« Eilins atemloses Wimmern brachte den Fürst der Phaerie zum Stehen. Er drehte sich um und sah, daß sie wirklich am Ende ihrer Kräfte war; ihre Beine zitterten, und ihre Brust hob und senkte sich von der ungewohnten Anstrengung, die zu rasch auf ihre Erholung von den schrecklichen Wunden gefolgt war. Aber schließlich konnte sie wieder sprechen, und das zornige Glitzern in ihren Augen verhieß Gutes, was das Wiedererwachen ihres wilden Geistes betraf.

»Das war ein guter Lauf, meine Lady«, sagte er zu ihr, wohl wissend, daß er sich glücklich schätzen konnte, daß sie nicht mehr genug Luft bekam, um die heftige Zurechtweisung auszusprechen, die ihr so klar ins Gesicht geschrieben stand. Er legte einen Arm um sie und drehte sie herum, so daß sie in die Richtung blickte, aus der sie gekommen waren. Ihr leiser Aufschrei puren Entzückens belohnte ihn dafür. »Vergib mir, daß ich dich so überstürzt und auf so grobe Art und Weise hierhergebracht habe, Lady«, sagte er sanft, »aber ich war so begierig, dir dies hier zu zeigen.« Und dort, direkt vor ihren Augen, erhob sich höher und immer höher der sanfte Hügel des grünen Rasens, der ganze Stolz von Hellorins Herzen – die Zitadelle und das Heim seines Volkes.

Die Phaerie, vollendete Meister der Illusion, hatten sich diesmal selbst übertroffen; sie hatten Natur mit Magie kombiniert, um eine echte Einheit zu schaffen, die tatsächlich um sie herum lebte und atmete im Gegensatz zu den bedrückenden Haufen von seelenlosen, hingemordeten, herausgehauenen Steinen, die die Unterkünfte der Magusch und der Sterblichen bildeten. Die Zitadelle, die wie ein Juwel in dem fremden, goldenen Halblicht glühte, das eine unveränderliche Besonderheit dieser zeitlosen Anderwelt war, hatte die äußere Gestalt eines wuchtigen, schroffen Hügels angenommen. Ihre Wände und Balkone waren Klippen und Felsbänke, ihre Fenster durch Magie vor allen Blicken verborgen; und ihre vielen zierlichen, hölzernen Türme wie der, in dem Eilin sich aufgehalten hatte, waren prachtvolle Haine erhabener, lebender Buchen. In den flachen Bereichen des Gebäudes prangten Lichtungen und Gärten mit durchscheinenden, hellen Blüten, die wie gesponnenes Glas in dem elfenbeinfarbenen Licht funkelten. Bäche und Springbrunnen bedeckten den Hügel mit ihrem diamantenen Glitzern und stürzten funkelnde Silberschleier über die Gesichter des Felsens.

Hellorin stieß einen zufriedenen Seufzer aus. In all den Jahrhunderten hatte dieser Anblick es immer wieder geschafft, ihn mit einem Glück zu erfüllen, das eine solche Intensität hatte, daß es beinahe ein Schmerz war. Er lächelte Eilin an, die neben ihm stand, als wäre sie jetzt zu Stein verwandelt. Ihr Gesicht war verzückt und voller Glanz. »Es ist wunderschön, nicht wahr. Schöner, als man es mit Worten ausdrücken kann«, murmelte er. »Obwohl dein Exil für dich bitter sein muß – kann ein solcher Ort deinen Kummer nicht ein wenig lindern, Lady?«

Eilin seufzte. »Ein wenig vielleicht – im Laufe der Zeit.«

»Ach, die Zeit – ja, die Zeit wird schließlich vielleicht alles wieder in Ordnung bringen.« Da er das spöttische Stirnrunzeln der Magusch bemerkte, beeilte Hellorin sich, ihr Aufklärung zu verschaffen. »Dein Exil wird nicht ewig dauern, Lady – nur solange, wie auch wir hier gefangen sind.«

»Was?« keuchte Eilin. »Ich verstehe dich nicht.«

»Es hängt alles mit unserer Magie und deren Beschränkungen zusammen«, erklärte der Waldfürst. »Die Macht unserer Heiler kann sich bisher nicht auf deine Welt ausdehnen, aber wenn wir Phaerie aus unserem Exil entlassen werden, dann werden auch unsere heilenden Kräfte ganz wiederhergestellt sein. Dann kannst du ohne Risiko zurückkehren und gesund und munter weiterleben, wie du es früher getan hast.«

Eilin runzelte immer noch die Stirn. »Aber ich dachte, das alte Geschlecht der Magusch hätte euch hier für alle Ewigkeit gefangengesetzt.«

»Ach, natürlich! Jetzt verstehe ich deine Verwirrung. Ich habe zwar Maya und D’arvan die Prophezeihung erklärt, aber ich hatte ganz vergessen, daß du nichts davon weißt. Aber du bist schwach; und hier mitten auf der Wiese ist auch nicht der richtige Ort für lange Geschichten. Komm mit mir zurück, meine Lady, erfrische dich und ruhe dich ein wenig aus. Dann werde ich dir alles erzählen, was du wissen möchtest.«

»Also hängt eure – unsere – Freiheit von dem Einen ab, der kommt, um das Schwert der Flamme für sich zu fordern?« Eilin war wieder einmal vollkommen niedergeschmettert von ihrer Enttäuschung. Beinahe wünschte sie, Hellorin hätte ihr diese lächerlichen Geschichten erspart. Eine Phaerieprophezeihung war ein zu dünner Faden, um seine Hoffnungen daran zu knüpfen.

»Du mußt Vertrauen haben, Lady.« Hellorin nahm ihre Hand. »Glaub mir, wenn du das Drachenvolk gekannt hättest, wie ich es gekannt habe, dann würden ihre Worte auch dich trösten. Die Dinge sind in Bewegung – wir müssen nur warten.«

»Ja, aber wie lange?« Eine Träne zitterte in Eilins Wimpern. »Die Dinge sind in Bewegung, wie du sagst, aber da draußen in der Welt. Mein Kind hat sich verirrt und ist in Gefahr. Nexis ist gefallen. Das Volk der Magusch ist der Verderbtheit anheimgefallen – und Maya und D’arvan sind draußen im Wald und stellen mit diesem magischen Schwert von dir weiß der Himmel was an …« Ihre Worte gingen in einem Schluchzen unter. »Sie brauchen mich, Hellorin! Während ich mir hier in diesem – diesem Nirgendwo – die Beine in den Bauch stehe und nicht weiß, was geschieht …« Zu ihrem Unwillen hatte sie wieder zu weinen begonnen.

»Schsch, Lady, schsch«, tröstete Hellorin sie. »Was das betrifft, kann ich dich wenigstens beruhigen. Komm, Eilin – ich habe noch ein Wunder, das ich dir zeigen möchte.«

Er nahm die Hand der Magusch in die seine und führte sie von dem Feuer weg auf das andere Ende der Halle zu. Dort führte zu Eilins Überraschung eine kurze, steinerne Treppenflucht wenige Stufen nach oben und endete dann plötzlich im Nichts. Sie gingen lediglich ein paar Stufen hoch und blieben dann stehen. Vor ihnen war die Wand hinter einem üppigen, herabhängenden, grüngoldenen Brokatvorhang verborgen. Hellorin zog den Vorhang beiseite.

Eilin keuchte. Dort, hoch oben in der Mauer, befand sich ein prachtvolles Fenster aus glitzernden, vielfarbigen, wie Sonnenstrahlen geformten Kristallen. An den Rändern befanden sich prächtige Paneele, die ein funkelndes Licht auf die Kammer warfen. In der Mitte war ein einzelner, kreisförmiger Kristall, der, von der Treppe aus betrachtet, genau auf Augenhöhe angebracht war.

»Hier.« Hellorin schob sie, einen Arm um ihre Schultern gelegt, ein Stück weiter. »Schau durch mein Fenster.«

»Oh!« Die Magusch blinzelte, rieb sich die Augen und schaute näher hin. »Aber bei allen Göttern – das ist ja Nexis!« Sie fuhr herum, um ihn mit plötzlichem Argwohn anzusehen. »Ist das wieder eine von deinen Phaeriegaunereien?«

»Auf meinen Eid, das ist es nicht!« Der Waldfürst funkelte sie ärgerlich an. »O ihr Götter, wenn du nicht das widerspenstigste, halsstarrigste Geschöpf bist, das sich je in diesen Mauern aufgehalten hat …« Plötzlich stieß er ein sanftes Lachen aus und schüttelte den Kopf. »Nein, einen solchen Kampf von Geist und Willen habe ich nicht mehr erlebt, seit ich meine arme Adrina verloren habe. Vertrau mir, Lady Eilin – dich würde ich nicht täuschen. Das hier ist mein Fenster zur Welt – ein Vermächtnis deiner erbärmlichen Vorfahren, zweifellos dazu bestimmt, mich mit all dem zu quälen, das uns Phaerie entging. Durch dieses Fenster habe ich auch zum ersten Mal Adrina gesehen, wie sie im Wald ihre heilenden Kräuter sammelte.« Er seufzte. »An dem Tag, an dem ich sie verlor, habe ich das Fenster zudecken lassen, und seitdem hat niemand mehr hindurchgesehen. Aber wenn es dich erleichtert, Lady, werden wir hierherkommen, wann immer du es wünscht, und gemeinsam Wache halten, bis unser Exil schließlich ein Ende nimmt.«

Die Erdmagusch blickte zum Fürst der Phaerie auf, plötzlich zutiefst gerührt über seine Freundlichkeit. Wie konnten ihre Vorfahren nur so grausam gewesen sein, diesen prachtvollen, liebenswerten, großherzigen Mann aus der Welt auszuschließen? Ihre Finger schlössen sich um seine Hand, und zum ersten Mal seit ihrer Bekanntschaft lächelte sie zu ihm auf. »Ich danke dir, mein Fürst«, sagte sie einfach. »Das würde mir sehr gefallen.«

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