15 Flucht und Verfolgung

Aurian stakte das Boot immer im sicheren Schatten des Ufers flußabwärts; Anvar ruderte. Sie machten gute Fahrt, und die Strömung trug sie fort von den Schrecken, die hinter ihnen lagen. Zuerst glitten sie an Bäumen vorüber, dann an wohlgepflegten Gärten, die zu den Anwesen der reichen Kaufleute gehörten, dann wieder an Bäumen. Aurian hielt die Stange fest umklammert und legte all ihre Kraft in ihre Bewegungen – das war ihre Art, sich gegen den heftig brennenden Schmerz ihres Kummers zu wappnen. Sie schenkte dem dunklen, kabbeligen Wasser, das um sie herum gurgelte, keine Beachtung und sah nur Forrals Gesicht vor sich. Forral – den sie nun hinter sich ließ – der schon so viel weiter entrückt war als alles andere, dem sie jetzt den Rücken kehrte – der für immer gegangen war.

Sie würde sein geliebtes Gesicht nie mehr wiedersehen, nie mehr würde es vor Leben und Liebe sprühen. Niemals mehr durfte sie seinen Arm um sich spüren, niemals …

»Hör auf damit, du Dummkopf«, murmelte sie sich selbst durch ihre zusammengepreßten Zähne zu. »Nicht jetzt, noch nicht.«

Anvar blickte besorgt auf. »Herrin, geht es dir gut?«

»Sei still«, sagte Aurian knapp. »Sei still und rudere.«

Es waren ungefähr zwölf Meilen bis zum Hafen von Norberth an der Flußmündung, und sie setzten alles daran, die Strecke so schnell wie möglich zurückzulegen.

Sie passierten Mühlen und Dörfer, Weiden und Wälder. Die schnelle Strömung des Flusses, der nach der Schneeschmelze Hochwasser führte, trieb sie voran. Aurians Muskeln schmerzten, ihre Hände hatten schon Blasen, und Schweiß brannte ihr in den Augen. Einmal stöhnte Sara und begann sich zu regen, als Aurians Schlafzauber schwächer wurde. Die Magusch fluchte. Das hätte eigentlich nicht sein dürfen! Stimmte etwas mit ihrer Magie nicht mehr? Sie legte die Stange ins Boot und kniete sich neben das Mädchen. »Schlaf«, befahl sie mit schallender Stimme und legte ihre Hand dabei auf Saras Stirn. Sara entspannte sich wieder, ihre Augen blieben geschlossen, ihr Atem ging langsam und gleichmäßig. Aurian seufzte erleichtert. Als sie ihre Hand wegzog, war die Stirn des Mädchens blutverschmiert. Anvar stöhnte auf.

»Mach dir keine Gedanken, das Blut ist von mir«, sagte Aurian und besah sich kleinlaut ihre aufgeplatzten, blutenden Handflächen. Sie nahm wieder die Stange und machte sich mit erneutem Grimm an die Arbeit.

Die Zeit verstrich. Aurian nahm durch den Schleier von Schmerz und Erschöpfung, der sie umgab, nichts mehr wahr. Bestimmt mußten sie bald am Ziel sein. Diese schwarze, bittere Nacht schien kein Ende zu nehmen. Plötzlich fand sie mit der langen Stange keinen Grund mehr und begann – durch die Kraft ihres Stoßes aus dem Gleichgewicht gebracht – wild mit den Armen zu rudern. Als sie fiel, traf sie mit einer Hand auf hartes Holz und klammerte sich mit all ihrer Kraft daran. Die Stange verlor sie, als sie ins eiskalte Wasser eintauchte. Es war tief hier – zu tief –, und die Gewalt der Strömung zog und zerrte an ihrem langsam taub werdenden Körper, während sie sich mit einer Hand immer noch am Heck des Bootes festhielt. Sie konnte bereits spüren, wie ihre Kraft nachließ, wie sich ihr Griff lockerte, wie die Finger langsam über das nasse Holz zu rutschen begannen …

In diesem Augenblick überkam Aurian ein merkwürdiger Frieden – eine ihr neue, entspannte Klarheit des Denkens, alles, was sie jetzt tun mußte, war loszulassen, und sie würde in Sicherheit sein; unerreichbar für Miathan, der sie so niederträchtig verraten hatte, weit weg von allem Kummer und allem Streit. Und Forral, ihr geliebter Forral wartete schon auf sie …

»Halt aus, Herrin, ich komme!« Anvars Stimme war wie ein Schlag ins Gesicht. Starke Finger schlössen sich um ihr Handgelenk, dann um ihren Arm. Starke Hände zogen sie zurück an Bord des schwankenden Bootes. Aurian versuchte zu protestieren, aber sie war zu schwach, um zu kämpfen. Sie rutschte auf die Planken – ein zitterndes, durchnäßtes Häufchen Elend.

»Herrin, das Wehr!« Anvars entsetzte Stimme übertönte schrill das Brüllen des Flusses. Aurian wischte sich das Wasser aus den Augen. Weiße Gischt wehte in Streifen auf dem dunklen Wasser an dem kleinen Boot vorbei, das jetzt wild zu schaukeln begann und eine enorme Fahrt machte. Anvar kämpft mit den Rudern, blind in den umherfliegenden Schaummassen; sie sah gerade noch, daß ihm das linke Ruder von den brodelnden Wassermassen aus der Hand gerissen und gierig fortgewirbelt wurde.

Augenblicklich änderte das Boot seine Richtung, begann zu kreiseln und sich gefährlich zu einer Seite hin zu neigen. Sie hatten keine Kontrolle mehr über das Boot. Aurian lächelte.

Forral, dachte sie sehnsüchtig. Nur noch wenige Augenblicke …

Dann schien sie wie aus dem Nichts die Stimme des Schwertkämpfers zu hören. Du wirst mir folgen wollen. Tu es nicht! Sie blickte Anvar an. Er hatte ihr gerade das Leben gerettet. Ganz gleich, wie tief ihre Verzweiflung war, welches Recht hatte sie, ihn mit sich zu reißen?

Bitterlich fluchend zog Aurian ihren Zauberstab aus dem Gürtel. »Aus dem Weg«, rief sie Anvar zu. Sie rempelte sich an ihm vorbei zum Bug des Bootes, wo sie über Sara stand und versuchte, sowohl ihren Stab als auch das schlingernde Boot festzuhalten. Ein weißes Glänzen erstreckte sich vor ihnen quer über den Fluß. Es war schon verzweifelt nahe, und das Brüllen schwoll zu einem dröhnenden Donnern an. Aurian hielt ihren Stab jetzt fest mit beiden Händen umfaßt quer zum Boot auf ihrem Schoß. Ihre Fingerknöchel schimmerten weiß, während sie das glatte Holz umschlossen und Aurian sich mit all ihrer Kraft konzentrierte.

Der gleichförmige Klang ihres Singsangs erhob sich über das Donnern des Wehres. Der Stab begann zu leuchten, in einem blauweißen Licht zu schimmern, das sich wie die zarten Finger eines Blitzes ausbreitete und das ganze Boot einschloß, gerade als es die Kante des Wehrs erreichte und sich anschickte, vornüber zu kippen …

Aurian spürte, wie sich die Klauen der Angst fest um Anvar zusammenzogen – und dann, als sie eine letzte äußerste Anstrengung unternahm, richtete sich das Boot wieder auf und trieb ruhig über dem wirbelnden Mahlstrom dahin, getragen von einem Polster aus reinem Licht. Sanft schwebten sie über die Gefahr hinweg, und ebenso sanft gelangte das kleine Boot dann in das ruhige, flache Fahrwasser unterhalb des Wehrs.

Aurian schloß die Augen und brach keuchend über ihrem Stab zusammen, ließ sich von der Dunkelheit einhüllen, jetzt, da das Licht ihres Zaubers verbraucht war. Sie hatte sich auf die Lippen gebissen, und ihr Mund war voll vom metallischen Geschmack ihres eigenen Blutes. Undeutlich nahm sie wahr, daß Anvar sie in seine Arme zog. Sanft strich er ihr das durchnäßte, verfilzte Haar aus dem Gesicht und wischte ihr ein Rinnsal von Blut vom Kinn.


»Aurian? Herrin?« Seine Stimme klang ängstlich. Es kostete sie einige Mühe, ihre Augen zu öffnen. »Ist dir nichts passiert?« fragte Anvar.

»Müde.« Allein diese Wort auszusprechen war Anstrengung genug. »Bring uns zum Hafen, Anvar.« Ihre Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Hatte er sie gehört? Aber Anvar nickte. Er lagerte sie, so gut er konnte, in den beengten Bug des Bootes, stützte ihren Kopf mit seinem nassen Umhang und nahm dann mit dem übriggebliebenen Ruder seine Arbeit wieder auf. Dankbar schloß Aurian die Augen.

Als sie sie wieder aufschlug, war das Flußufer von Bauten gesäumt. Sie kamen an Wohnhäusern, Lagerhäusern und Mühlen vorbei und trieben dann nach einer Biegung des Flusses unter einer großen Brücke hindurch, hinter der der Hafen von Norberth begann. Die Brücke überspannte als mächtiger Bogen aus weißem Stein den Fluß, der hier breit und träge dahinströmte. Der Widerschein der Lichter der Stadt auf dem Wasser überzog die Unterseite des Brückenbogens mit einem nie stillstehenden Netzwerk von geschecktem Silber, und der Fluß selbst schien unter dem hallenden Steinbau höhnisch zu lachen. Als sie die Brücke hinter sich hatten, passierten sie rasch die Stadt selbst und erreichten dann die Hafenbecken. Hoch erhoben sich die Masten und Riggs der Segelschiffe in den Himmel, und Aurian fragte sich, welches dieser Schiffe sie wohl nach Süden bringen würde. Anvar ruderte in einem Zickzackkurs zu einer verfallenen, aufgegebenen Werft im Süden des Hafens und bekam dort einen der schlüpfrigen Pfähle zu fassen, so daß er das Boot unter die kleine Pier ziehen konnte, deren Schatten sie verbergen würde.

Aurian richtete sich müde auf und suchte in einem der Bündel, die im Boot lagen, bis sie schließlich eine kleine, silberne Flasche und ein hastig eingepacktes Paket mit Fleisch, Brot und Käse fand, das sich schon in Auflösung befand, nachdem es am Wehr völlig durchnäßt worden war. Sie nahm einen guter Schluck von Vannors starkem Branntwein und spürte, wie dessen Hitze wohltuend durch ihren steifen, frostkalten Körper lief. Sie gab Anvar die Flasche, der sie dankbar entgegennahm.

Mit ihren nachtsichtigen Maguschaugen bemerkte sie, daß er grau und abgehärmt aussah. Seine Augen waren vor Erschöpfung mit dunklen Ringen umgeben, sein blondes Haar war dunkel und strähnig von der Gischt des Flusses. Aurian teilte die durchnäßten Speisen mit ihm. Sie aßen schweigend, beide zu müde, um zu sprechen. Der Magusch tat die Mahlzeit gut; sie konnte spüren, wie ihr die Nahrung einen Teil der Energie zurückgab, die sie bei der Rettungsaktion am Wehr verloren hatte – wenn auch nur zeitweilig, wie ihr schmerzhaft bewußt war.

Das Wehr. Ach, sie war so nahe daran gewesen – so nahe daran, allem zu entkommen. Plötzlich wurde Aurian von all ihrem Kummer, von allem, was auf ihr lastete, überwältigt; von der Gefahr und der Tatsache, daß die Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, nahezu unlösbar war.

Sie drehte sich zu Anvar um, voller Wut darüber, daß er sich eingemischt hatte, und schlug ihm ins Gesicht, so fest sie konnte. »Das ist dafür, daß du mir das Leben gerettet hast!« fuhr sie ihn an. Überraschung und verletzte Gefühle zeichneten sich auf seinem Gesicht ab, aber dann straffte sich sein Mund grimmig, und seine Hand holte aus, um den Schlag zu erwidern.

»Und das ist dafür, daß du meins gerettet hast!« gab er zurück. Das Echo des Schlages hallte wie ein Knall über das Wasser, und Aurian kippte – die Hand auf der schmerzenden Wange, die Augen geweitet – nach hinten.

Anvar konnte ihr nicht mehr in die Augen sehen und wandte sich ab; er schämte sich. »Herrin, es tut mir leid«, murmelte er. Langsam schüttelte Aurian den Kopf. Wie konnte sie ihm eine Reaktion übelnehmen, die ein so getreues Ebenbild ihrer eigenen Verzweiflung war? Zum ersten Mal nach Forrals Tod begriff sie, daß sie nicht allein war, daß andere in der gleichen Lage waren wie sie und ebenso darunter litten. Sie hielt ihm ihre Hand hin – eine Geste zwischen Gleichen, zwischen Freunden.

»Mir tut es auch leid, Anvar«, sagte sie sanft. »Ich hatte kein Recht dazu – aber ich weiß einfach nicht, wo ich die Kraft hernehmen soll, mit allem fertig zu werden.« Ihre Stimme brach, und die strenge Selbstbeherrschung, die sie die ganze Nacht über aufrechterhalten hatte, begann zu schwinden. Anvar nahm die Hand, die sie ihm angeboten hatte.

»Dann werden wir versuchen, es zusammen durchzustehen«, sagte er und nahm sie in die Arme, als sie zu schluchzen begann und sich endlich all ihrem Kummer hingab, jetzt, da sie sich entschlossen hatte, die Last des Weiterlebens auf zu sich nehmen.

Nach einer Weile machte sie sich los und wischte ihr Gesicht am Ärmel ab. »Das ist eine furchtbare Angewohnheit«, sagte Anvar mit einem schiefen Grinsen, und sie brachte als Entgegnung ein zittriges Lächeln zuwege.

»Irgend jemand hat vergessen, die Taschentücher einzupacken«, sagte sie.

»Wie unangenehm«, sagte Anvar. »Ich würde an deiner Stelle den Diener dafür schlagen.«

»Oh, er hat seine guten Seiten. Er hat wenigstens daran gedacht, die richtigen Kleider mitzunehmen.« Aurian suchte kurz und zog dann ihr Bündel unter Saras Kopf hervor. »Ich mache mich jetzt besser auf den Weg und suche nach einem Schiff. Es wird nur allzubald hell werden, und ich möchte, daß von uns nichts mehr zu sehen ist, wenn hier die ersten Leute auftauchen. Dank sei der Göttin, daß die Nächte gerade jetzt so lang sind.« Während sie sprach, zog sie ihren Fechtanzug aus dem Bündel und begann, sich der durchnäßten, zerrissenen Reste ihres langen, grünen Kleides zu entledigen.

Anvar wandte höflich die Augen ab, aber Aurian benötigte seine Hilfe, um ihre Kampfmontur anzulegen, da das Leder ebenfalls am Wehr feucht geworden war und sie ihre Finger vor Kälte kaum bewegen konnte.

»Gut«, sagte sie forsch, als sie fertig war. »Ich versuche, so schnell zurück zu sein, wie ich kann.«

»Herrin, du willst doch nicht etwa allein gehen?«

»Geht nicht anders.« Aurian blickte stirnrunzelnd auf Saras leblose Gestalt hinunter. »Du mußt hierbleiben und ein Auge auf sie haben.« Sie verzog ihr Gesicht. »Bei den Göttern, sie wird uns eine Last sein.«

»Herrin, ich …« Anvar merkte, daß er schuldbewußt errötete. Er wußte noch nicht einmal, womit er anfangen sollte, um Aurian die Sache mit Sara zu erklären – zu erklären, daß sie sich einst geliebt hatten.

Aurian sah ihn verwirrt an. »Du kennst sie, nicht wahr?« sagte sie. »Damals, als sie dich in die Garnison gebracht haben, als wir uns zum ersten Mal sahen, da hat sie gelogen, als sie sagte, sie hätte dich nie zuvor gesehen, oder?«

Anvar nickte kläglich und fragte sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn er ihr erzählte, daß er und Vannors Frau früher einmal ein Paar gewesen waren. Glücklicherweise ersparte Aurian ihm weitere Fragen. »Noch mehr Komplikationen, wie?« sagte sie kleinmütig. »Na ja, du kannst mir ja später davon erzählen, Anvar. Ich muß jetzt wirklich los.« Sie zog sich den feuchten Umhang um die Schultern, kletterte vorsichtig in dem Strebwerk halbverrotteter Balken empor, das die alte Pier trug, und verschwand im Schatten des Lagerhauses.

Anvar lehnte sich zurück und überließ sich seinen eigenen, sorgenvollen Gedanken. Aurians plötzliche Forschheit hatte ihn nicht im mindesten täuschen können. Er wußte, wie tief sie um Forral trauerte, und es machte ihm Sorgen, wie sich das auf ihr Urteil auswirken würde. Ihr ganzer Plan – eine Armee aufzustellen, um den Erzmagusch zu besiegen – war reiner Wahnsinn. Aber er hatte selbst keinen besseren Plan zu bieten – außer dem, so weit und so schnell wie möglich zu fliehen. Nun, das taten sie ja jetzt, und vielleicht würde sie doch noch rechtzeitig zur Besinnung kommen.

Anvar fragte sich, wo Vannor wohl sein mochte. War es dem Kaufmann gelungen zu entkommen? Plötzlich begriff er auch, daß Sara frei sein würde, falls Vannor nicht mehr lebte. Schuldbewußt unterdrückte er den Gedanken. Vannor war ein guter Mann, das wußte Anvar. Wie würde der Kaufmann wohl reagieren, wenn er wüßte, daß er seine geliebte Frau deren einstigem Liebhaber anvertraut hatte? Sara, dessen war er sich sicher, gab um ihren sie liebenden Ehemann keinen roten Heller, und Anvar fragte sich, wie sie sich jetzt verhalten würde, da sie ihn zunächst einmal los war.

Er betrachtete sie, wie sie dalag und schlief. Ihr goldenes Haar fiel ihr bis auf die Schultern. Sie sah so zerbrechlich aus – so schön. Schlagartig übermannten Anvar die Erinnerungen an alte Tage, als sie beide jung gewesen waren und sich geliebt hatten, als sie miteinander glücklich gewesen waren und auf ihre Zukunft vertraut hatten.

Gab es denn gar keine Hoffnung, daß es wieder so werden könnte? Hatte er nicht auch ein Recht auf ein wenig Glück?

Die Morgendämmerung des feuchten, grauen Tages hatte bereits begonnen, als Aurian dicht im Schatten der verfallenen Lagerhäuser zurück zu der Werft kam. Es hatte ewig gedauert, ein Schiff zu finden, dessen Kapitän bereit war, sie mitzunehmen. Der Preis, den er dafür verlangt hatte, war der reinste Wucher – viel mehr als die Summe Goldes, die sie von Vannor bekommen hatte. Sie hatte ihm alles gegeben, was sie hatte, und lange auf ihn einreden müssen, um ihn zu überzeugen, daß er den Rest am Ziel der Reise erhalten würde. Auf ihrem Rückweg zu Anvar wurde die Magusch den Gedanken nicht los, in welcher Gesellschaft sie an Bord des rattenverseuchten, lecken alten Kahnes reisen würden. Sie hatte noch nie in ihrem Leben eine solche Bande von Strolchen gesehen, aber sie wußte, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als das Risiko einzugehen. Miathan suchte noch nicht nach ihnen, aber er würde bald damit anfangen.

Als Aurian das Boot erreichte, war sie schwach vor Müdigkeit, benommen und kaum noch fähig, sich zu bewegen. Anvar stand auf und bot ihr die Hand zum Abstieg über die glitschigen, faulen Pfähle. Sie war dankbar für den festen Halt, den er ihr bot. »Also los«, sagte sie, als sie endlich wieder im Boot saß. »Ich habe uns eine Passage nach Easthaven besorgt. Von dort aus reisen wir zu Lande weiter.«

»Und was ist mit Sara?«

»Wir haben keine Zeit, etwas mit ihr zu besprechen. Ich werde mich darum kümmern.« Aurian schnippste vor dem Gesicht des schlafenden Mädchens mit den Fingern. »Komm«, befahl sie. Saras Augen öffneten sich; ihr Gesichtsausdruck war vollkommen leer. Sie erhob sich steif, und Anvar griff schnell nach dem Pfahl, an dem sie festgemacht hatten, um das schwankende Boot zu beruhigen.

»Wir können sie nicht so mit an Bord nehmen!« protestierte er.

»Wir müssen. Zieh ihr die Kapuze ins Gesicht und nimm ihren Arm. Du mußt sie führen.« Aurians Gesichtsausdruck ließ es ihm angeraten erscheinen, auf Widerspruch zu verzichten.

Es war ein furchtbarer Kampf, das Mädchen auf die Pier zu hieven, aber danach bewegte sie sich fast natürlich. Anvar führte sie, und Aurian trug das Gepäck. Die ein oder zwei frühen Passanten, die sie trafen, schenkten ihnen kaum Beachtung, und Aurian begann etwas aufzuatmen – bis Anvar das Schiff sah, das sie mitnehmen sollte.

Er blieb wie angewurzelt stehen. Sein ganzes Gesicht war ein einziges Bild von Widerwillen. »O nein«, sagte er. »Das ist bestimmt nicht dein Ernst.«

»Anvar, was erwartest du von mir?« raunzte Aurian ihn an. Sie war den Tränen nahe. »Sieh uns doch an! Wir wirken kaum respektabel, oder? Glaubst du denn, irgendein vernünftiger Kapitän würde uns mitnehmen? Ich habe mein Bestes getan – und es ist auf jeden Fall besser, als hier darauf zu warten, daß Miathan uns findet!«

Es war klar, daß Anvar darauf nichts mehr würde entgegnen können. Kopfschüttelnd führte er Sara die schmale, schlüpfrige Planke hinauf, die an Bord des maroden kleinen Segelschiffes führte.

Kapitän Jurdag hatte lange Koteletten und trug sein fettiges, rotgelbes Haar zu einem Zopf zusammengebunden. In seinen Ohren glänzten Goldringe, und der wilde Ausdruck seiner eng zusammenstehenden Augen erinnerte Aurian an ein Wiesel. Er verbeugte sich vor ihr in heimtückisch vorgetäuschter Höflichkeit, und der Rest der auf Deck herumlungernden Mannschaft – ein schäbiger, von Messerstichen verunstalteter, pockennarbiger Haufen – kicherte. Als sie Aurians unbewegten, stählernen Blick bemerkten, trat plötzlich gespannte Stille ein. »Zeig uns unsere Kabine, Kapitän, und mache alles bereit, um die Segel zu setzen!« sagte sie kalt.

»Sehr wohl, Lady.« Der Kapitän machte aus dem Wort eine Beleidigung, und Aurian, die sah, wie sich Anvars Gesicht verärgert rötete, nahm ihn fest beim Arm und schüttelte den Kopf.

Sie wurden in eine winzige, schmutzstarrende Kabine im Heck des Schiffes geführt, die der Kapitän offensichtlich für sie frei gemacht hatte. Aurian las einen Haufen stinkender, ungewaschener Kleider vom Boden auf und gab sie ihm. »Deine, nehme ich an«, sagte sie. »Das ist im Moment alles.«

Mit finsterem Gesichtsausdruck ließ er sie allein. Aurian verriegelte mit einem Seufzer der Erleichterung die Tür hinter ihm. »Große Götter!« sagte sie. »Es tut mir leid, Anvar.«

Anvar kämpfte mit dem Verschluß des winzigen, salzverkrusteten Glasfensters in der Heckwand des Schiffes. Es war die einzige Möglichkeit, den Raum zu lüften. »Wie lange brauchen wir bis Easthaven?« fragt er mit schwacher Stimme.

»Mit gutem Wind ungefähr vier Tage«, sagte Aurian düster. »Wenn uns in der Zwischenzeit niemand die Kehlen durchschneidet.«

Die Magusch führte Sara zu der einzigen Koje und legte sie hinein. »Ruh dich aus«, sagte sie sanft, und Saras Augen schlössen sich wieder.

»Da«, sagte Aurian müde. »Sie schläft jetzt wieder einen natürlichen Schlaf und wird aufwachen, wenn sie ausgeschlafen hat. Die Götter mögen geben, daß es nicht allzubald ist.« Sie zog Coronach aus der Scheide, setzte sich auf den Boden, lehnte sich gegen die Koje und schlief augenblicklich ein, das Schwert in der Hand.

Saras Gejammer riß Aurian rüde aus dem Schlaf. »Ich will nicht hierbleiben, ich will nicht! Es ist schmutzig, und es stinkt, und es ist mit Wanzen verseucht! Ich will nach Hause. Das ist deine Schuld, Anvar. Wenn du nicht …«

Die Magusch sprang auf die Füße und baute sich vor dem wütenden Mädchen auf, das mit fest um die Knöchel gezogenem Rock auf der Koje saß. »Sei still!« befahl sie scharf. Sara verstummt mitten in ihrer Tirade und starrte zu ihr hinauf. Aurian bemerkte die schwankende Bewegung des Schiffes unter ihren Füßen und beugte sich, ohne Sara weiter zu beachten, an ihr vorbei, um aus dem winzigen Heckfenster zu schauen. »Da hinten, da liegt das Land«, sagte wie ruhig und deutete aus dem Fenster. »Ich schlage vor, du schwimmst sofort los, bevor wir uns noch weiter davon entfernt haben. Ich glaube nicht, daß du hier durchs Fenster paßt, aber ich bin sicher, daß wir es arrangieren können, dich über Bord werfen zu lassen.«

Sara verzog vor Wut das Gesicht. »Ich hasse dich!« stieß sie hervor.

»Und wenn schon«, sagte Aurian gleichmütig. »Das interessiert mich nicht. Aber mach dir klar, daß du kein Zuhause mehr hast. Dieses stinkende, lausige Loch ist alles, was du hast, und genau hier wirst du bleiben, bis wir Easthaven erreicht haben.«

Sara fiel der Unterkiefer herab. »Du meinst, ich bin eine Gefangene?« kreischte sie. »Das kannst du nicht machen! Wie kannst du es wagen! Wenn Vannor davon hört …«

»Vannor hat dich mir mitgegeben, zu deinem eigenen Schutz. Ich bin für deine Sicherheit verantwortlich, und ich sage dir, daß du diese Kabine auf gar keinen Fall verlassen wirst. Wenn irgend jemand an die Tür kommt, dann verschwinde in der Koje und versteck dich unter deiner Decke – vor allem dein Gesicht. Was immer auch geschieht, du darfst dich keinesfalls irgend jemandem von der Mannschaft zeigen. Ich habe dem Kapitän gesagt, daß du Pocken hättest. Das sollte sie davon abhalten …«

»Was?« schrie Sara völlig außer sich.

»Herrin«, protestierte Anvar, »es ist nicht fair …«

»Habt ihr beide jemals eine junge Frau gesehen, die von einer ganzen Piratenbande vergewaltigt worden ist?« Aurians nüchterner Ton ließ die beiden anderen verstummen. Saras Blick wurde plötzlich ängstlich. »Ich habe es nicht«, fuhr Aurian fort, »und ich will es auch jetzt nicht sehen. Die Mannschaft dieses Schiffes ist die niederträchtigste, gemeinste Bande von Strolchen, die ich jemals zu Gesicht bekommen habe, und wenn sie auch nur einen Blick von dir erhaschen, dann werde weder ich noch Anvar sie aufhalten können. Ich weiß, daß es hart für dich ist, Sara. Anvar hat recht, es ist nicht fair, und es tut mir leid. Aber mach es so, wie ich es sage, bitte – um unser aller willen.«

Sara starrte sie einen Augenblick lang an, ließ sich dann vornüber auf die Koje fallen und brach in Tränen aus. Anvar beeilte sich, sie zu trösten. Aurian blickte ihn erstaunt an, wandte sich dann mit einem Schulterzucken ab und verließ die Kabine.

Die Magusch setzte sich, ein Bein untergeschlagen, auf die schmale Bank, die sich im Bug des Schiffes an der Reling entlangzog. Die Mannschaft schien einen großen Bogen um sie zu machen, obwohl sie oft die Blicke der Männer spürte, während sie zusah, wie eine bleiche Sonne sich langsam auf den dämmrigen Horizont zu ihrer Rechten herabsenkte. Sie dachte über die zurückliegende Nacht nach und versuchte, so gut sie konnte, die Tatsachen von dem Schleier von Ärger, Trauer und Furcht abzusondern, der ihre Erinnerung an das, was geschehen war, überschattete. Das Kind – das war das eine. Forschend richtete Aurian ihre Gedanken auf sich selbst, nach innen, um diesen schwachen Funken von Leben zart zu berühren – er war noch so winzig, daß noch nicht einmal sie von seine Existenz gewußt hatte. Obwohl sie es mit aller Kraft versuchte, war es ihr unmöglich, die Abneigung zu unterdrücken, die in ihr aufwallte. Wenn dieses Kind nicht gewesen wäre, lebte Forral noch … und doch war es jetzt alles, was von ihm übrig war. Es sollte das Allerkostbarste für sie sein. Und es hatte ja auch nicht darum gebeten, gezeugt zu werden. Das war ihre Schuld. Ihre eigene Sorglosigkeit, die es Meiriel ermöglicht hatte, sie zu hintergehen. Das arme Ding hatte nichts als Feinde – der Erzmagusch würde es töten wollen, so wie er seinen Vater getötet hatte …

Wie konnte sie hoffen, Miathan jemals zu besiegen? Aurian schauderte. Es war ja sehr schön gewesen, in der Hitze des Gefechtes diesen Eid zu schwören, und sie war entschlossen, es ihm heimzuzahlen, so gut sie nur konnte – aber wie? Der Erzmagusch war verrückt, ein Abtrünniger, der sich gegen die Ordnung gestellt hatte, und er besaß eine Waffe, die weit über ihre magischen Fähigkeiten hinausging. Wie mächtig war der Kessel? Welchen Sinn machte es, gegen solch eine Gewalt eine Armee aufzustellen? Tausende von Menschen würden nutzlos hingeschlachtet werden. Aber was war mit den anderen verlorenen Werkzeugen der Hohen Magie passiert? Ach, wenn sie doch nur eins davon aufspüren könnte … Aber wo sollte sie mit ihrer Suche beginnen. Sie waren schon seit Jahrhunderten verloren. Aurians Gedanken drehten sich in hoffnungsloser Verzweiflung. Es ist zuviel für mich, dachte sie. Wenn nur Forral bei mir wäre …

Als sie an ihren Liebsten dachte, erschien sein Bild plötzlich vor ihren Augen. Nicht das Bild seiner Leiche, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte, sondern das eines lebendigen Forral, der – unpassender ging es wohl nicht – im Schankraum des Unsichtbaren Einhorns saß. Er beugte sich über den bierbefleckten Tisch zu ihr herüber und erklärte ihr etwas; Aurian begriff, daß sie sich an eine Unterhaltung erinnerte, die sie vor einiger Zeit gehabt hatten. »Wenn dir ein Problem zu groß erscheint«, sagte er, »dann wirst du niemals weiterkommen, indem du dagegen anrennst. Zerlege es in einzelne Schritte und kümmere dich um das Wichtigste zuerst. Dann wirst du meistens feststellen, daß sich der Rest von allein ergibt.«

Das war ein guter Rat, und er kam zur rechten Zeit. Noch ganz in ihrer Erinnerung gefangen, lächelte Aurian. »Ich danke dir, Liebster«, flüsterte sie, und sein Bild schien zurückzulächeln, während es langsam verwand. Aurian sah wieder den Ozean vor sich und schüttelte den Kopf. War das eine Erinnerung gewesen? Eine Vision? Einbildung? Sie hatte keine Vorstellung, aber immerhin fühlte sie sich jetzt ruhiger und auf merkwürdige Weise getröstet. Und ihren Weg sah sie plötzlich klar vor sich. Das wichtigste zuerst. Nun, gut, das Wichtigste war, diese Reise sicher hinter sich zu bringen – weder den Piraten noch dem Erzmagusch zum Opfer zu fallen und die Bergfestungen zu erreichen, wo sie Hilfe und ein gewisses Maß an Sicherheit vorfinden würde. Und danach? Nun sie würde schon sehen.

Aurian fuhr herum, als sie hinter sich leise Schritte hörte. Sie hatte das Schwert schon halb aus der Scheide gezogen, bevor sie begriff, daß es sich um Anvar handelte, der überrascht zurückwich. Sie zuckte entschuldigend die Achseln und rückte ein Stück, damit er sich neben sie auf die Bank setzen konnte. »Wie geht es Sara?« fragte sie.

Anvar machte ein gequältes Gesicht. »Immer noch aufgebracht«, sagte er. »Sie verflucht Vannor und dich und mich – jeden, der ihr einfällt.«

Aurian seufzte. »Solange sie in der Kabine flucht, werde ich keine Zeit damit vertun, mir darüber Gedanken zu machen. Wir werden dieses jämmerliche Wesen ohnehin niemals davon überzeugen können, daß sie nicht die einzige auf der Welt ist, die Probleme hat.«

Auf diese Andeutung hin schaute Anvar sie besorgt an. »Wie geht es dir, Herrin? Ich habe dich nicht gern so lange allein gelassen, aber sie …«

»Ich werde überleben. Ich nehme an, daß ich einfach muß.«, Aurian milderte ihre grimmigen Worte durch ein Lächeln. »Und es hat mir nichts ausgemacht, allein zu sein, Anvar. Die Mannschaft läßt mich in Ruhe – die Leute scheinen einen gewissen Respekt vor dem hier zu haben« – sie klopfte auf den Griff ihres Schwertes – »und ich mußte etwas nachdenken.«

»Herrin, wie soll es jetzt weitergehen?«

»Ich weiß es nicht.« Es schien Aurian sinnlos, ihm etwas vorzumachen. »Ich würde mir im Moment darüber nicht allzu viele Gedanken machen, Anvar. Zunächst einmal müssen wir lebendig von diesem Schiff wieder herunterkommen. Wollen wir uns also fürs erste darauf konzentrieren. Ich frage mich, was es hier wohl zu essen gibt.«

Was es zu essen gab, erwies sich als eine fettige, übelkeiterregende, graue Brühe, die als ›Eintopf‹ bezeichnet wurde. Vor allem Sara war weit davon entfernt, beeindruckt zu sein, und ließ darüber auch keine Unklarheit aufkommen. »Das kann ich nicht essen!« protestierte sie. »Es ist ekelhaft! Mir wird schlecht werden davon!«

»Wenn dir schlecht wird, dann sieh zu, daß du rechtzeitig zum Fenster kommst«, sagte Aurian brutal und zwang sich, noch einen Löffel von dem Fraß herunterzubekommen und dabei nicht an tote Ratten zu denken. Sara zog sich in beleidigtem Schweigen in ihre Koje zurück, und kurz darauf konnte man sie unter ihrer Decke schluchzen hören.

»Herrin«, flüsterte Anvar vorsichtig, »könntest du nicht nun, etwas freundlicher zu ihr sein? Es ist hart für sie – sie ist es nicht gewohnt …«

Das war zuviel für Aurian. »Anvar, darf ich dich daran erinnern, daß wir nicht zu einem Picknick unterwegs sind? Wir sind auf der Flucht, weil es um unser Leben geht, und wir haben keine Zeit, Sara zu hätscheln. Es ist für uns alle dasselbe, weißt du. Sie wird sich einfach daran gewöhnen müssen – und zwar verdammt schnell!« Sie schleuderte ihren leeren Teller auf den Boden, stürmte aus der Kabine und schlug die Tür hinter sich zu.

Anvar zuckte zusammen und fragte sich, ob er ihr nachgehen sollte oder nicht. Nach kurzem Zögern entschloß er sich, zunächst einmal Sara zu beruhigen. »Sara, weine nicht. Sie meint es nicht so. Sie macht gerade eine schwere Zeit durch. Die Sache mit Forral …«

»Hör endlich auf, von ihr zu reden!« Sara setzte sich plötzlich auf, schleuderte die Decke weg und sah ihn wild an. Ihr Gesicht war gerötet. »Um genauer zu sein, sprich überhaupt nicht zu mir! Ihr habt mich entführt, du und sie – gerade als ich glaubte, es bliebe mir erspart, daß du mir jemals wieder unter die Augen kommst.«

»Laß uns nicht wieder damit anfangen«, sagte Anvar verdrossen. »Vannor hat uns gebeten, dich mitzunehmen. Ich glaube nicht, daß du verstehst, in welcher Gefahr wir waren. Wir hatten keine andere Wahl.«

»Vannor!« stieß Sara hervor. »Dieses Tier! Dieser Idiot! Ich verachte ihn!«

»Sara, Vannor liebt dich.«

»Was weißt denn du davon? Du hast mir auch erzählt, daß du mich liebst, früher einmal. Und wie hast du mir deine Liebe gezeigt? Du hast mich geschwängert und mich dann im Stich gelassen, so daß ich diesem ungehobelten Rohling verkauft werden konnte. Komm also nicht her und erzähl mir was von Liebe, Anvar.«

»Das war nicht meine Schuld!« Anvar hielt ihr seine linke Hand vor das Gesicht, auf der das verhaßte Zeichen der Leibeigenschaft eintätowiert war. »Glaubst du nicht, ich …«

»Anvar!« Die Kabinentür flog auf. Aurian stand mit aufgelöstem, windzerzaustem Haar und weißem, von Anstrengung gezeichnetem Gesicht vor ihnen. »Anvar – der Erzmagusch! Er sucht nach uns! Ich glaube, er weiß, welchen Weg wir genommen haben!«

»Was?« Anvar sprang auf die Füße. »Wie ist das möglich?«

Die Magusch schloß die Kabinentür und lehnte sich dagegen. »Hellseherei, wahrscheinlich mit einem Kristall – das ist die effektivste Methode. Ich wußte überhaupt nicht, daß er das kann. Es war immer Finbarrs Spezialität.« Sie kniff bei dem Gedanken an ihren toten, vom Erzmagusch hingemeuchelten Freund vor Schmerz die Lippen zusammen. »Er muß uns auf dem Fluß auf die Spur gekommen sein durch die dort noch vorhandenen Reste des magischen Feldes, mit dem ich uns über das Wehr gebracht habe. Und dann hat er erraten, welchen Weg wir nehmen würden. Jetzt sucht er das Meer ab – als ich auf Deck war, konnte ich spüren, wie seine Suchimpulse über uns hinwegstrichen.«

»Bei den Göttern! Hat er uns gefunden?«

Aurian schüttelte den Kopf. »Es ist mir gelungen, uns rechtzeitig abzuschirmen. Seine magische Kraft wirkte eher zaghaft, nicht allzu stark. Ich glaube, er macht das zum ersten Mal. Aber es wird nicht lange dauern, bis er es richtig beherrscht, jedenfalls nicht, solange er sich auf die Kräfte des Kessels stützen kann. Und er wird nicht aufgeben, bis er uns gefunden hat.«

»Was wird er dann machen?« Anvar wurde schlecht vor Angst. »Wird er uns diese – Dinger nachschicken?« Als er den verzweifelten Ausdruck auf Aurians Gesicht sah, verfluchte er sich, sie an die Monster erinnert zu haben, die Forral auf dem Gewissen hatten. Aber als sie ihm dann antwortete, war ihre Stimme fest.

»Nein. Das bezweifle ich. Er schien ja kaum Gewalt über die Nihilim zu haben, nachdem er sie einmal losgelassen hatte.« Sie schauderte. »Wenn ich daran denke, daß dieser Schrecken jetzt in Nexis umgeht … Aber ich glaube nicht, daß sie uns nachkommen werden. Nur die Götter wissen, was er auf unsere Spur setzt, Anvar. Er kann uns auf jede erdenkliche Weise angreifen. Das einzige, was wir tun können, ist, uns nicht finden zu lassen. Ich muß uns alle unter meinen Schild nehmen, das ganze Schiff – und zwar während der gesamten Dauer unserer Passage nach Easthaven.«

»Aber Herrin, das kannst du nicht!« Anvar war bestürzt, denn er wußte nur allzugut, wie sie sich auf dem Fluß verausgabt hatte, um ihre Magie wirksam werden zu lassen. »Die Reise dauert wenigstens noch drei Tage, und du bist jetzt schon völlig ausgelaugt!«

»Ich weiß. Aber es hilft alles nichts. Wir müssen es versuchen, wenn uns unser Leben lieb ist, und ich werde deine Hilfe brauchen.«

»Meine Hilfe?«

Aurian nickte. »Ich muß wach bleiben. Wenn ich schlafe, wird meine Abschirmung zusammenbrechen, und wir können entdeckt werden. Du mußt mich wach halten, Anvar, und ich fürchte, das bedeutet, daß du selbst wach bleiben mußt. Sprich mit mir, sing mir etwas vor – wenn sonst nichts hilft, schlag mich –, aber laß mich nicht einschlafen, was immer auch geschehen mag, sonst sind wir verloren. Versprich mir das, Anvar.«

»Ich verspreche es, Herrin«, versicherte Anvar ihr. Aber ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, dachte er. Er fürchtete die lange zermürbende Wache, die vor ihnen lag.

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