Der Klang leiser Stimmen weckte Aurian aus einem unruhigen Schlaf. Einen panikerfüllten Augenblick lang fragte sie sich, wo sie war, bis sie das Lampenlicht neben der Tür glühen sah, die zu Meiriels Quartieren am anderen Ende der Krankenstube führte. »Lady Meiriel!« rief sie nervös. Dieser Ort erschien ihr so fremd mit seinen grellweißen Wänden und dem planen, polierten Mamorboden, auf dem sich eine Reihe leerer Betten widerspiegelte. Die Heilerin kam energisch lächelnd ins Zimmer.
»Hab’ ich dich aufgeweckt?«
»Stimmt irgend etwas nicht?« fragte Aurian.
»Nichts, worüber du dir Gedanken machen müßtest.« Meiriel zuckte gleichgültig die Achseln. »Nur ein ignoranter Sterblicher, der am Tor Unruhe gestiftet hat. Weil wir bestimmte Kräfte haben, glauben diese Leute, unser einziger Lebenszweck bestünde darin, herumzulaufen, um ihnen zu helfen!«
Aurian runzelte die Stirn. Jede Erwähnung der Sterblichen erinnerte sie schmerzlich an Forral – aber andererseits schien es nichts zu geben, was sie nicht an den Schwertkämpfer erinnerte. Sie ballte die Fäuste und nahm all ihre Willenskraft zusammen, damit ihr nicht die Tränen in die Augen traten. »Sollten wir ihnen denn nicht helfen?« fragte sie. »Ich verstehe das nicht.«
Die Heilerin setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Hier in der Akademie, Aurian, wirst du lernen, daß es einfach nicht genügt, deine Kräfte an stumme, winselnde Kreaturen zu vergeuden. Nun, wir haben eine lange Reise hinter uns und brauchen jetzt unsere Ruhe. Kann ich dir etwas holen, damit du besser schläfst?«
»Ja bitte, Meiriel.« Alles war besser, als wach im Bett zu liegen und zu grübeln.
Während sie versuchte, nicht das Gesicht zu verziehen, schluckte Aurian den Trank, den die Heilerin ihr gebracht hatte, so schnell wie möglich herunter. Obwohl er klebrig war und ausgesprochen ekelhaft schmeckte, zog sie ihn doch eindeutig Meiriels Schlafmagie vor, die sie furchtbar zermürbend fand. Die Zeit schien stillzustehen, wenn sie unter dem Zauber stand – sie brauchte ihre Augen nur für eine Sekunde zu schließen, so schien es – aber wenn sie sie wieder öffnete, waren Stunden vergangen. Glücklicherweise, so dachte sie, hatte die Heilerin ihre Furcht verstanden. Nachdem man sie gegen ihren Willen aus ihrem Zuhause an diesen neuen und erschreckenden Ort gebracht hatte, war Aurian selbst für Meiriels schroffe, sachliche Freundlichkeit geradezu mitleiderregend dankbar. Nun schluckte sie die Tränen herunter, kuschelte sich unter der Decke zusammen und hoffte, daß sie einschlafen würde, bevor ihr Geist sich mit der Katastrophe beschäftigen konnte, die ihrem Leben eine solche Wendung gegeben hatte.
Die Heilerin hatte mehrere Wochen gebraucht, um Aurians zerschmetterte Schulter wiederherzustellen, aber an die ersten Tage konnte sie sich überhaupt nicht mehr erinnern. Meiriel hatte unermüdlich daran gearbeitet, ihren Arm zu retten; mit ihrer Heilmagie und peinlicher Genauigkeit setzte sie Fragmente zertrümmerter Knochen wieder zusammen und reparierte auch die durchtrennten Muskeln. Dann hatte Meiriel ihre Kräfte benutzt, um den natürlichen Heilungsprozeß des Körpers zu beschleunigen, ein Vorgang, bei dem ein großer Teil der Kraft der Patientin verzehrt wurde, so daß Aurian in einen mehrtägigen, tiefen Schlaf verfiel, während dessen ihr Körper seine Energien zurückgewann. Als sie schließlich erwachte, hatte die Wunde sich geschlossen und machte schnelle Fortschritte, obwohl ihr Arm sich immer noch steif, schwach und wund anfühlte. Natürlich hatte sie sofort nach Forral gefragt. Zuerst hatte ihre Mutter sie hingehalten, aber schließlich hatte sie auf Meiriels Rat hin nachgegeben und Aurian seinen Brief überreicht. Mittlerweile kannte sie jedes Wort auswendig:
Aurian, mein Liebes, es tut mir leid, daß ich nicht da sein kann, wenn Du aufwachst, aber wenn ich bliebe, um Dir auf Wiedersehen zu sagen, brächte ich es niemals fertig, zu gehen. Ich weiß nicht, ob ich es Dir so erklären kann, daß Du es verstehst, aber ich werde es versuchen. Gib Deiner Mutter keine Schuld – diesmal hat sie mich nicht weggeschickt. Ich gehe, weil ich nicht mit dem fertig werde, was ich dir angetan habe. Ich weiß, daß es ein Unfall war, aber trotzdem bleibt es meine Schuld. Ich hatte kein Recht, Dich einem solchen Risiko auszusetzen – ich kann kaum glauben, wie dumm ich war. Die Lady Meiriel sagt, Du würdest wieder gesund werden und Dein Arm wieder seine volle Kraft haben, und ich kann den Göttern nur dafür danken, daß ich Dich nicht auf der Stelle getötet habe. So, wie die Dinge liegen, kann ich mir selbst niemals verzeihen.
Ich mußte Deiner Mutter sagen, warum wir mit Deiner Schwertausbildung überhaupt begonnen haben, aber mach Dir keine Sorgen – sie war nicht böse, es sei denn darüber, daß ich es ihr nicht schon früher gesagt habe. Nun, wie dem auch sei, sie und die Heilerin wollen, daß Du in die Akademie zu Nexis gehst, um dort eine ordentliche Ausbildung zu bekommen, was nur recht und billig ist, denn Du bist schließlich eine Magusch. Ich habe daran gedacht, mit Dir nach Nexis zu gehen und dort wieder der Garnison beizutreten, so daß wir einander sehen könnten, aber das wäre nicht fair Dir gegenüber. Du mußt bei Deinem eigenen Volk zur Ruhe kommen und lernen, Deine Talente richtig zu nutzen, und ich wäre Dir dabei nur im Weg. Also gehe ich fort und werde mich wieder als Soldat verdingen.
Aurian, bitte verzeih mir, daß ich Dich so im Stich lasse. Es bricht mir das Herz, aber es ist das beste so, wirklich. Bitte vergiß mich nicht, so wie ich Dich niemals vergessen werde. Und zweifle nicht daran, daß wir uns eines Tages wiedersehen werden. Ich werde immer an Dich denken. Mit aller Liebe, die ich habe, Forral.
Die folgenden Wochen waren wie in einem Nebel des Jammers an ihr vorübergerauscht. Nichts schien mehr eine Rolle zu spielen, nun, nachdem Forral gegangen war. Hatte sie sich in dem Schwertkämpfer geirrt? Wenn er sie wirklich liebte, wie konnte er sie dann so im Stich lassen? Aurian, betäubt und zutiefst verletzt, hatte schließlich einfach getan, was ihre Mutter und die Heilerin ihr gesagt hatten, so daß sich ihr Körper nach und nach so weit erholt hatte, daß sie zusammen mit Meiriel die Reise nach Nexis antreten konnte. Aber nicht einmal der Ritt durch das weite, unbekannte Land hatte es geschafft, ihre Stimmung zu heben. Das Wetter, das beharrlich kalt und trostlos blieb, war ein perfektes Spiegelbild ihrer Gemütsverfassung, während sie ihrem Ziel, Nexis, immer näher kamen: Zuerst ritten sie über wilde, verschneite Moore und dann, sobald sie die große Straße, die ins Tiefland führte, erreicht hatten, durch kultiviertes und gepflegtes Ackerland und durch Wälder. Von alledem aber nahm Aurian kaum etwas wahr. Sie war sich kaum ihrer Umgebung bewußt, geschweige denn der Tragweite der Reise, die sie angetreten hatte.
Es hatte erst der Stadt bedurft, um Aurian mit einem Ruck aus ihrem Selbstmitleid herauszureißen. Nachdem sie beinahe ihr ganzes Leben in der Abgeschiedenheit des einsamen Tales ihrer Mutter zugebracht hatte, war Nexis mit seinen hoch aufragenden Gebäuden und den unglaublichen Menschenscharen ein unglaublicher Schock für sie. Alles war so groß, so laut und überfüllt, daß sie meinte, nicht mehr atmen zu können. Sie hatte ja nicht gewußt, daß es so viele Menschen auf der Welt gab! Meiriel war auf ihre etwas brüske Art und Weise voller Mitleid gewesen. »Nur Mut, Kind«, hatte sie gesagt. »Hab keine Angst, sie werden dir nichts tun! Atme tief durch und halt dich dicht hinter mir. In der Akademie ist es viel friedlicher, und an die Stadt wirst du dich noch beizeiten gewöhnen.«
Aurian zweifelte daran, daß sie sich jemals an die Stadt oder an die Akademie gewöhnen würde. Meiriels makellose Krankenstube war so ganz anders als das vertraute Durcheinander im Turm ihrer Mutter, und da ihr alles so fremd war, lebte sie in ständiger Angst davor, etwas Falsches zu tun oder zu sagen. Sie sehnte sich nach der Zuflucht ihres eigenen Zimmers und nach der starken, tröstlichen Gegenwart Forrals.
Um ihren schwindenden Mut ein wenig aufzurichten, klammerte Aurian sich fest an die harte, schlanke Form ihres Schwerts. Jede Nacht nahm sie die in der Scheide steckende Klinge mit ins Bett, denn das war alles, was ihr von Forral geblieben war. Sobald sie sich soweit von ihren Verletzungen erholt hatte, daß sie laufen konnte, war sie zu der Lichtung gegangen, wo sie so viele glückliche Stunden im Training verbracht hatten. Ihr kostbares Schwert lag unberührt auf dem Boden, dort, wo es hingefallen war, und seine lederne Scheide war bereits steif und verlor schon ihre Farbe; die Klinge war mit Rostflecken übersät. Von Schluchzern geschüttelt hatte Aurian ihr Schwert vorsichtig aufgehoben und nach Hause gebracht. Dann hatte sie Stunden darauf verwandt, sowohl Klinge als auch Scheide mit größter Sorgfalt zu ölen, wobei sie immer wieder innehalten mußte, um sich die Tränen abzuwischen, die ihr Werk zu ruinieren drohten. Und trotz der Einwände Meiriels und ihrer Mutter hatte sie sich geweigert, sich von Coronach zu trennen, und schon der bloße Vorschlag hatte eine so heftige Reaktion ausgelöst, daß die beiden nachgaben und ihr erlaubten, es zu behalten. Aurian, die sich nun fest an das Schwert klammerte, weinte sich in den Schlaf, wie sie es so oft getan hatte seit jener Nacht, in der Forral sie verlassen hatte.
In ihrem Quartier lauschte Meiriels Aurians leisem Weinen und bedauerte, daß es notwendig gewesen war, das Kind auf solche Weise aus ihrem vertrauten Zuhause zu reißen. Als es endlich still wurde, schlich sie sich an Aurians Bett, um sicherzugehen, daß das Kind wirklich schlief. Dann beauftragte sie einen Diener damit, auf ihren Schützling achtzugeben, warf sich einen Umhang über die Schultern und machte sich über den frostversilberten Hof auf den Weg zum Maguschturm. Das rote Licht, das hoch hinter den blutrot verhängten Fenstern des höchsten Stockwerks brannte, sagte ihr, daß der Erzmagusch in seinen Gemächern war.
»Wie geht es mit dem Kind, Meiriel?« Der Erzmagusch war wie alle Abkömmlinge seines Volkes sehr groß. Mit seinem langen, silbrigen Haar, seinem dichten Bart, seiner knochigen Hakennase, seinen dunklen, brennenden Augen und seinem hochmütigen Gehabe sah er wie der Inbegriff des mächtigsten Magusch der Welt aus. Seine scharlachrote Robe fegte über den kostbaren Teppich, als er das Zimmer durchquerte, um Meiriel einen Kelch Wein einzuschenken. Als sie Platz nahm, bemerkte die Heilerin auch die schlanke, in ein silberfarbenes Gewand gehüllte Gestalt Eliseths, die neben dem Fenster im Schatten saß. Meiriel runzelte die Stirn. Sie hatte die eiskalte, ränkevolle Wettermagusch nie gemocht und hatte ihr auch niemals über den Weg getraut.
»Ich dachte, dies sollte eine private Besprechung sein«, wandte sie ein.
Miathan reichte ihr einen bis zum Rand gefüllten Kristallkelch. »Nun komm schon, Meiriel, sei nicht töricht«, schalt er sie. »Seit wir deine Nachricht erhalten haben, hat Eliseth mir geholfen, Pläne zu schmieden. Wenn das, was du sagst, stimmt, hat Geraints Kind Talente, die uns nützlich sein können; Talente, die eine ganz spezielle Handhabung erforderlich machen. Ich brauche dich doch wohl kaum daran zu erinnern, daß wir heutzutage auf die äußerste Loyalität aller Magusch angewiesen sind. Unser Volk ist dahingeschwunden. Der Maguschkodex schränkt unsere Kräfte ernstlich ein, und die Uneinigkeit unter diesen erbärmlichen Sterblichen wird immer stärker. Noch kontrolliere ich die Stimme der Garnison im Rat der Drei, aber Rioch wird über kurz oder lang in den Ruhestand treten, und unter seinen Kriegern gibt es keinen ausreichend entgegenkommenden Nachfolger. Der neue Repräsentant der Kaufleute, dieser rüpelhafte Emporkömmling Vannor, macht mir jetzt schon Schwierigkeiten.«
Der Erzmagusch runzelte die Stirn und trank einen Schluck Wein. »Da eine Maguschfrau während der Schwangerschaft ihre Kräfte verliert, hat es für unser Geschlecht immer nur wenig Nachwuchs gegeben, und jetzt werden uns überhaupt keine Kinder mehr geboren. Wir sind den Sterblichen zahlenmäßig ernsthaft unterlegen. Wenn man Eilin nicht mitzählt, die sich weigert, zu uns zurückzukehren, sind wir nur noch sieben Magusch: du und ich, Eliseth und Bragar, die Zwillinge und Finbarr. Und von diesen sieben scheinen die Zwillinge obendrein noch unfähig zu sein, ihre magischen Kräfte freizusetzen, und Finbarr kommt kaum je aus seinen Archiven heraus – nichts für ungut, Meiriel. Ich weiß, daß er dein Seelengefährte ist, und es tut mir leid, daß wir deine heilenden Kräfte nicht so lange entbehren können, daß du ein Kind zur Welt bringen könntest. Und aus demselben Grunde können wir natürlich auch nicht auf Eliseth verzichten. Ihre Studien haben ein kritisches Stadium erreicht …«
»Sonst wäre ich natürlich nur allzu glücklich, das Opfer zu bringen«, warf Eliseth glattzüngig ein.
Meiriel unterdrückte eine sarkastische Erwiderung. Lügnerin, dachte sie. Alles, was du willst, ist Macht. Du würdest keinen Augenblick zögern, Miathans Kind zur Welt zu bringen, wenn er dich darum bäte. Dann wandte sie sich wieder an den Erzmagusch. »Was hat das alles mit Aurian zu tun?« fragte sie. »Du erwartest doch sicher nicht von ihr, daß sie uns ein paar neue Magusch gebärt? Das Kind ist kaum vierzehn!«
Miathan machte ein geduldiges Gesicht und sah die Heilerin eindringlich an. »Meine liebe Meiriel«, sagte er höflich. »Was für ein Vorschlag! Natürlich erwarte ich nichts Derartiges! Noch nicht, jedenfalls. Aber wir müssen in dieser Angelegenheit Weitsicht walten lassen. Sie wird nicht für immer vierzehn bleiben. Und wie du schon sagtest, ihre Kräfte umfassen möglicherweise das ganze Spektrum, und dann müssen sie zum Wohle unserer Rasse unbedingt weitergegeben werden. In der Zwischenzeit dachte ich jedoch an unsere prekäre Position bei den Sterblichen. Wenn es sich herumsprechen sollte, daß wir eine neue Magusch haben – eine, deren Kräfte, nun, sagen wir einmal, spektakulär sind –, dann werden sie es sich vielleicht zweimal überlegen, bevor sie uns in die Quere kommen. Schließlich haben sie ja bereits erlebt, wozu ihr Vater fähig war.«
»Aber das ist ja schrecklich, Miathan! Und vollkommen unmoralisch«, explodierte Meiriel. »Der Maguschkodex verbietet uns ausdrücklich, unsere Magie einzusetzen, um Macht über andere zu erlangen!«
»Natürlich tut er das, meine Liebe.« Miathans Stimme war melodiös und weich. »Aber wenn du dir den Wortlaut genau ansiehst, verbietet er nicht, daß die Leute glauben, daß ein Magusch seine Macht gegen sie einsetzen könnte. Wenn die Sterblichen nun zufällig auf eine so unerhört seltsame Idee kommen sollten, dann wäre das doch kaum unsere Schuld, nicht wahr?«
»Das ist Wortklauberei, und das weißt du auch! Du bist gefährlich nahe daran, deinen Eid auf den Kodex zu brechen, Miathan, und wenn du das tust, wirst du uns alle mit ins Verderben reißen. Hast du vor, das Kind ebenfalls zu verderben?«
Eliseth zog ihre schlanken Schultern hoch. »Du reagierst wohl ein bißchen übertrieben«, sagte sie seidenweich. »Schließlich handelt es sich doch nur um eine reine Vermutung des Erzmagusch. Alles, was er im Augenblick will, ist dem Kind helfen und ihr Vertrauen gewinnen. Wer weiß, welche Narreteien Eilin und dieser ungehobelte Sterbliche ihr in den Kopf gesetzt haben? Du weißt selbst, wie hart unsere Ausbildung ist, und das Mädchen fängt spät an. Es wird ihr an Disziplin mangeln, das wage ich zu sagen, und daher liegt eine schwere Zeit vor ihr. Das letzte, was wir wollen, ist, daß sie das Maguschvolk am Ende verabscheut – schließlich ist sie eine von uns. Also haben Miathan und ich uns etwas ausgedacht, wie wir mit dem Problem fertig werden. Es geht uns nur um ihr Wohl – das wirst du sehen, Meiriel.«
»Das wirst du bestimmt«, sagte Miathan herzlich. »Meiriel, morgen früh wirst du Aurian an Eliseth übergeben. Danach wirst du vorläufig für ihre Ausbildung nicht mehr benötigt und uns den Rest überlassen. Halt dich von dem Kind fern und misch dich nicht ein.«
»Aber …«
Miathans Gesicht versteinerte. »Das ist ein ausdrücklicher Befehl deines Erzmagusch, Meiriel. Du darfst jetzt gehen.«
Aurian konnte Eliseth vom ersten Augenblick an nicht leiden. Obwohl ihr Gesicht makellos schön war und ihr das silberne Haar wie ein schimmernder Wasserfall bis auf die Füße floß, erreichte das Lächeln der Magusch niemals ihre grauen Augen, die hart waren und kalt wie Stahl. Sie führte Aurian zu einer Kammer, die in Zukunft die ihre sein sollte – eine winzige, weiß getünchte Zelle im Erdgeschoß des Maguschturms. Mit schlichtester Einfachheit möbliert, enthielt sie lediglich ein schmales Bett, einen Tisch und einen Stuhl sowie Regale und eine Truhe, um ihre Besitztümer und Kleidungsstücke zu verstauen.
Aurian besaß nichts, was sie hätte einräumen müssen. Außer den Kleidern, die sie am Leibe trug, war ihr Schwert alles, was sie hatte. Als Eliseth es sah, runzelte sie die Stirn. »Das kannst du nicht behalten«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Es ist viel zu gefährlich für ein kleines Mädchen. Gib es mir.« Sie griff nach dem Schwert.
In Windeseile hatte Aurian die Klinge aus der Scheide gezogen, wie Forral es ihr beigebracht hatte. »Wage es nicht, mein Schwert anzufassen!«
Eliseths Augen wurden schmal, und sie machte eine merkwürdige, zuckende kleine Geste mit der linken Hand. Aurian stöhnte auf, als eine kalte, durchscheinend blaue Wolke sie plötzlich einschloß. Sie konnte sich nicht mehr rühren. Ihr Körper war festgefroren. Eisige Kälte schien sich bis in ihre Knochen hineinzubohren. Eliseth stürzte sich auf sie und entriß Coronach ihren widerstandslosen Fingern. Dann blickte sie mit kalten Augen auf sie herab. »Hör mir zu, du kleines Biest«, zischte sie. »Solange du hier bist, wirst du Disziplin und Gehorsam lernen – vor allem, mir zu gehorchen –, oder du wirst unter den Konsequenzen leiden! Jetzt werde ich die Näherin holen, damit sie dir ein paar anständige Kleider anpaßt, und als Strafe für dein widerspenstiges Benehmen kannst du so bleiben, bis ich zurückkomme I«
Sie fegte aus dem Zimmer, nahm das Schwert mit sich und ließ Aurian immer noch festgefroren und unfähig, auch nur zu weinen, zurück. Obwohl sie vor Haß auf die kaltäugige Eliseth schäumte, hatte die Lektion ihre Spuren hinterlassen. Aurian hatte bereits gelernt, sie zu fürchten.
Später an jenem Tag führte Eliseth ihren in sich gekehrten und unglücklichen Schützling durch die Akademie. Dort gab es eine Menge zu sehen. Der Felsen hatte die Form einer breiten Speerspitze, die oben in der runden Einfassung der hohen Mauer endete, die die steilen Abhänge auf allen Seiten sicherte.
Das Haupteingangstor befand sich dort, wo der Schaft des Speeres hätte ansetzen müssen. Links davon stand ein kleines Pförtnerhaus. Jenseits des Tores schlängelte sich die steile Straße, die Aurian am Vortag erklommen hatte, den Damm hinunter bis zum unteren Pförtnerhaus.
Von allen Gebäuden aus konnte man in den zentral gelegenen, ovalen Hof hinabblicken, dessen Boden ein buntes Mosaik aus Steinplatten bedeckte. In der Mitte sang ein eleganter Springbrunnen sein tröstliches, plätscherndes Lied, während er gleichzeitig federzarte Wasserbögen in ein weißes Marmorbecken sandte. Vom Pförtnerhaus gesehen links befand sich Meiriels kleine Krankenstube, und daneben lagen die Küchen und die Quartiere der Dienerschaft, die an die Große Halle mit ihren hoch emporstrebenden Bogenfenstern angrenzten. Dahinter, wo die Mauer einen Bogen beschrieb, um die Akademie vom äußersten Ende des weit hervorragenden Felsens abzutrennen, stand der elegante, stolze Turm, in dem die Magusch lebten. Dem Turm gegenüber, auf der anderen Seite des Ovals, lag die riesige Bibliothek mit ihrer vielschichtigen, verschlungenen Architektur, und dahinter erstreckten sich in einem Bogen zum Haupttor hin die Seminargebäude zum Studium der verschiedenen Disziplinen der Magie. Beherrscht wurde dieser Komplex von dem massiven, weißen Wetterdom, dessen Silhouette meilenweit sichtbar war.
All diese Gebäude einschließlich des Pförtnerhauses und der bescheidenen Dienstbotenquartiere waren aus blendend weißem Marmor erbaut, der ganz von einem inneren perlmuttartigen Schimmern erfüllt war. Er war atemberaubend schön – und Aurian, verängstigt und von Heimweh geplagt, wie sie war, haßte ihn, obwohl sie alles voller Staunen betrachtete: die große Bibliothek mit ihren unbezahlbaren Archiven, den offenen Tempel hoch oben auf dem Dach des Maguschturms mit seinen großen, hoch aufgerichteten Steinen und die imposante Große Halle, die nun, da die Magusch nur noch so wenige waren, kaum mehr benutzt wurde.
Aurian lernte auch das besondere fensterlose Gebäude kennen, dessen Türen und Inneneinrichtungen aus Metall waren, damit man dort gefahrlos die Feuermagie studieren konnte. Ein niedriges weißes Gebäude enthielt einen tiefen Teich und viele Springbrunnen, Flüsse, Kanäle und Wasserfälle zum Studium der Wassermagie. Dann gab es da noch ein großes Gebäude aus Glas, das Pflanzen, Gräser und sogar einige kleine Bäume enthielt. Es erinnerte Aurian schmerzlich an den Arbeitsraum ihrer Mutter in deren Turm im Tal und war zum Studium der Erdmagie bestimmt. Aber die Gräser waren braun und verwelkt, und alle Pflanzen waren verdorrt und tot. Wenn jemals Tiere dort gehaust hatten, waren sie schon seit langer Zeit verschwunden. Eilin war die einzige lebende Magusch, die Erdmagie praktizierte, und seit sie der Akademie den Rücken gekehrt hatte, war dieser Raum sträflich vernachlässigt worden.
Der wunderbarste Ort von allen war für Aurian jedoch die gewaltige Kuppel, deren Silhouette den ganzen Maguschkomplex beherrschte. Die gewölbte Kammer innerhalb dieser Kuppel war so hoch, daß sich sogar kleine Wolken unter ihrem Dach ansammeln konnten, das über eine Vielzahl von Klappen und Öffnungen verfügte. Dies war Eliseths Raum und dem Studium der Wettermagie gewidmet, und sie machte Aurian schnell klar, daß dies die wichtigste von allen Disziplinen war. Aurian wagte nicht zu fragen, warum.
Auf dem Weg durch die Akademie stellte Eliseth Aurian auch den anderen Magusch vor. »Wir sind alle eher Einzelgänger«, sagte sie. »Die meiste Zeit sind wir mit unseren eigenen Projekten beschäftigt, und für gewöhnlich essen wir auch in unseren eigenen Räumlichkeiten, es sei denn, es findet ein Fest statt oder es gibt sonst einen besonderen Anlaß. Da dies jetzt der Fall ist, kannst du ebensogut gleich alle kennenlernen. Alle bis auf den Erzmagusch natürlich. Er ist viel zu beschäftigt, um sich um kleine Mädchen zu kümmern.« Aurian war niedergeschmettert.
Finbarr heiterte sie jedoch ein wenig auf. Sie fanden ihn unten in den Archiven, dem Kellerlabyrinth, das man unter der Bibliothek in den gewachsenen Fels hineingehauen hatte. Er saß an einem Tisch in einer kleinen Höhle, deren Wände gesäumt waren mit unzähligen Regalen voller altertümlicher Schriftrollen. Der Tisch war leer bis auf einen Schreibstift, zwei ordentliche Stapel Papier, von dem der eine bereits beschrieben war und der andere noch auf seine Benutzung wartete, sowie etwa ein halbes Dutzend Schriftrollen, die ordentlich aufgerollt und zusammengeschnürt waren. Finbarr war gerade mit der Lektüre eines dieser altertümlichen Dokumente beschäftigt und benutzte dazu das Licht einer hell glühenden Leuchtkugel, die pflichtschuldigst und mit vollkommener Stetigkeit über seinem Kopf schwebte.
»Ich sehe, du verschwendest deine Zeit immer noch mit diesem alten Unfug«, lauteten Eliseths verächtliche Grußworte.
Aurian erwartete halb, daß der Magusch vor Schreck zusammenfahren würde, denn er war vollkommen in seine Arbeit versunken gewesen, als sie eintraten. Aber er seufzte nur und legte die Schriftrolle auf den Tisch, wo die beiden ausgerollten Enden augenblicklich versuchten, sich wieder zusammenzurollen. »Bleib offen!« befahl Finbarr in scharfem Tonfall. Die Schriftrolle erzitterte, streckte sich und nahm prompt wieder die richtige Position ein.
Finbarr drehte sich nun zu ihnen um und betrachtete sie mit stechendblauen Augen. Er war sehr dünn, und sein glattrasiertes Gesicht besaß die typische, knochige Eckigkeit der Maguschgeborenen. Sein langes, braunes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, aber sein Gesicht war weder alt noch jung, und seine Augen zwinkerten. »Heil dir, o Herrin des Donners, Gebieterin der Stürme«, begrüßte er Eliseth spöttisch. »Bist du gekommen, um mich mit einem Schneesturm eisiger Verachtung zu überziehen, oder willst du es nur auf mich herabregnen lassen und mir den Tag verderben?« Er blinzelte Aurian zu, die sich bemühen mußte, ein Kichern zu unterdrücken.
»Finbarr, eines Tages wird dich dein sogenannter Humor noch in Schwierigkeiten bringen«, fuhr Eliseth auf. »Du bist ungefähr so nützlich wie diese dummen, alten Schriftrollen da!«
Finbarr zuckte mit den Schultern. »Zumindest sind meine Schriftrollen eine angenehme Gesellschaft«, sagte er, »wenn auch nicht ganz anspruchslos. Ich nehme an, der Grund für deinen vollkommen unerwarteten Besuch in diesem Heiligtum der Gelehrsamkeit und Weisheit ist diese wunderschöne junge Lady, der du mich vorstellen möchtest.« Er schenkte Aurian ein freundliches Lächeln.
»Du weißt genau, wer sie ist, Finbarr.« Eliseth machte ein finsteres Gesicht. »Das ist das Balg des Verräters Geraint.«
Aurian unterdrückte einen leisen Laut des Protests und ballte ihre Fäuste. Mit einer Bewegung schob Finbarr seinen Stuhl zurück und kniete vor ihr nieder, um seine große schlaksige Gestalt auf ihre Höhe zu bringen. Dann hob er mit einem sanften Finger ihr Kinn und sah ihr tief in die Augen. »Kind, du wirst in diesen ehrwürdigen Mauern eine Menge von diesem Unsinn zu hören bekommen«, sagte er sanft. »Mach dir nichts draus. Geraints einziger Fehler war sein Stolz, und das ist ein Fehler, den auch all die haben, die seinen Namen anschwärzen.« Er warf Eliseth einen harten Blick zu. »Ich will nicht sagen, daß das, was er getan hat, richtig war, aber dasselbe Unglück hätte jeden von uns treffen können. Hör nicht auf das, was die Leute sagen, Kind, sondern sieh zu, daß du aus seinen Irrtümern lernst – und aus unseren, denn das, was Geraint getan hat, war kaum einzigartig. Die Geschichte ist voll von ähnlichen Beispielen – die Verheerung zum Beispiel, als die alten Magusch untereinander Krieg führten. Sie kamen der Zerstörung der Welt gefährlich nahe. Mit den vier großen Artefakten der Macht …«
»Um Himmels willen, Finbarr, erspar uns deinen Vortrag.«
Eliseths Schroffheit schockierte Aurian, aber Finbarr schien nicht weiter überrascht zu sein. Er sprach einfach weiter, als sei der übellaunige Ausbruch der Maguschfrau nicht weiter von Bedeutung. »Ich hoffe, meine junge Freundin, daß du niemals von Eliseth lernen wirst, das Wissen zu verachten, das so wichtig für uns alle ist. Wenn wir unsere Geschichte studieren, lehrt sie uns, die alten Fehler nicht zu wiederholen. Ich weiß, daß Eliseth im Augenblick für deine Ausbildung verantwortlich ist, aber wenn es dir erlaubt ist, kannst du jederzeit wiederkommen und mit mir reden. Ich kann dir auch andere Dinge als Magie beibringen, und ich bin immer hier, um deine Fragen zu beantworten. Ich freue mich jederzeit über zivilisierte Gesellschaft. Und jetzt – ich glaube nicht, daß Eliseth mir deinen Namen gesagt hat?«
»Ich heiße Aurian.« Sie brachte ein Lächeln für ihn zustande.
»Und ich heiße Finbarr. Ich bin Meiriels Seelengefährte, und ich hoffe, wir werden uns im Laufe der Zeit viel öfter sehen. Währenddessen gebe ich dir einen Rat: Widme dich eifrig deinen Studien, sieh zu, daß du nicht in Schwierigkeiten kommst – und laß dich von dieser Herrin des Ungemachs hier nicht zu sehr schikanieren.«
»Es wird Zeit, daß wir gehen«, unterbrach ihn Eliseth eisig.
Finbarr grinste. »Siehst du, was ich meine? Wir sollten besser tun, was sie sagt, sonst stecken wir gleich bis zum Hals in Hagelkörnern!«
»Zum Donnerwetter, Finbarr!« fauchte Eliseth. »Wage es ja nicht, auf meine Kosten Witze zu reißen!«
»Tut mir leid, Eliseth.« Für Aurian sah der Archivar jedoch überhaupt nicht reumütig aus. »Leb wohl, Aurian – für den Augenblick.«
Bei den anderen Magusch fiel ihre Vorstellung weit weniger befriedigend aus. Die Zwillinge behandelten sie lediglich mit gleichgültiger Verachtung, und Aurian fühlte sich in ihrer Gesellschaft ausgesprochen unwohl. Die beiden hatten etwas seltsam Fremdes an sich, das sie nicht recht einordnen konnte. Es waren bartlose, junge Männer, und beide waren blond, aber Davorshan war darüber hinaus für einen Maguschgeborenen überraschend untersetzt und von eher derber Gestalt. Sein kurzgeschorenes, blondes Haar zeigte einen unverkennbaren Stich ins Rötliche, und seine farblosen Augen waren von bleichen Lidern umrandet. Aurian fand es schier unmöglich, ihm in die Augen zu sehen, denn die unbenennbare Färbung dieser Augen schien ihren Blick automatisch in eine andere Richtung zu lenken. Schlimmer war jedoch, daß er sich dieser Tatsache sehr wohl bewußt zu sein schien, und sie hatte den Verdacht, daß er diesen Umstand absichtlich nutzte, um die Leute zu verunsichern.
Davorshans Bruder D’arvan war seiner Erscheinung nach vollkommen anders – so anders, daß es unmöglich schien, die beiden für Brüder zu halten, geschweige denn für Zwillinge. Das helle, flachsblonde Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und sein Knochenbau war so fein gemeißelt und zart, daß er ihm etwas Ätherisches verlieh. Sein schönes Gesicht sah beinahe feminin aus, und seine tiefen, leuchtendgrauen Augen hatten lange, geschwungene, dunkle Lider, für die so manches Mädchen seine Seele verkauft hätte. Er stand die ganze Zeit hinter seinem Bruder, sagte nichts und überließ Davorshan allein das Reden. Wäre Aurian reifer und selbstsicherer gewesen, hätte sie ihn vielleicht in Verdacht gehabt, einfach nur schrecklich schüchtern zu sein, aber wie die Dinge lagen, fand sie ihn nur kalt und undurchschaubar.
»Womit beschäftigen sie sich?« erkundigte sich Aurian ein wenig zaghaft bei Eliseth, nachdem sie die Räume der Zwillinge verlassen hatten.
Die Maguschfrau zuckte die Achseln. »Das wissen nur die Götter. Sie haben beide Maguschblut in den Adern – ihr Vater war der berühmte Wassermagusch Bavordran, und ihre Mutter war Adrina, die Erdmagusch. Miathan ist sich ganz sicher, daß sie irgendwelche Kräfte haben müssen, aber worin diese Kräfte auch bestehen mögen, bisher sind sie noch nicht in Erscheinung getreten. Wir glauben, daß es daran liegt, daß sie Zwillinge sind; sie sind jeder so in die Gedanken des anderen verstrickt, daß sie ihre Kräfte nicht freisetzen können. Davorshan zeigt eine gewisse Neigung für die Wassermagie, aber ihn scheinen die physikalischen Methoden mehr zu faszinieren als die magischen. Er hat lauter Pumpen und Röhrenaquädukte und solche Dinge im Sinn. Wir sagen ihm natürlich immer wieder, daß dergleichen etwas für Sterbliche ist – uns stehen ganz andere Methoden zur Verfügung – aber wir können ihm diesen Unsinn nicht austreiben. Und was D’arvan betrifft, der kann nicht einmal Luft holen ohne die Hilfe seines Bruders. Ich habe dem Erzmagusch gesagt, es sei Zeitverschwendung, aber Miathan besteht darauf, daß wir es weiter mit ihm versuchen sollen.«
Von dem letzten Magusch, Bragar, schien Eliseth jedoch ausnahmsweise einmal sehr viel zu halten. Seine Disziplin war die Feuermagie – wie bei Aurians Vater Geraint –, und Aurian freute sich darauf, ihn kennenzulernen. Ihre Begeisterung wurde jedoch im Keim erstickt, als sie ihn zum ersten Mal sah. Bragar war ausgezehrt und vollkommen kahlköpfig. Seine dunklen Augen entbehrten, wie die Eliseths, jeglicher Wärme und jeglichen Ausdrucks und verliehen ihm ein reptilienhaftes Aussehen. Seine Aura war ebenso dunkel wie seine purpurfarbenen Roben, und Aurian konnte trotz ihrer Jugend und Unerfahrenheit die Grausamkeit seiner Natur spüren, die ihn wie der schwärzeste aller Flügel überschattete. Er blickte über seinen hohen Nasenrücken auf sie herab, als wäre sie ein interessantes Exemplar irgendeiner Insektenspezies, und seine Stimme war, wenn er sich überhaupt dazu herabließ, mit ihr zu sprechen, sardonisch und herablassend. Aurian bekam in seiner Gegenwart eine Gänsehaut, und sie schwor sich, daß sie ihm in Zukunft aus dem Weg gehen würde. Sie wußte bereits, daß sie das Talent ihres Vaters, die Feuermagie, geerbt hatte, und der Gedanke, unter Bragar daran zu arbeiten, erfüllte sie mit Furcht.
Die Wochen, die Aurians Ankunft in der Akademie folgten, wurden zu einem langen, unentrinnbaren Alptraum. Sie stand einzig und allein unter Eliseths Obhut, und die Magusch begegnete ihr stets mit der gleichen Härte. Aurian ermangelte es vollkommen an einer ordentlichen Ausbildung in Magie, und daher hatte sie ihre Kräfte bisher immer nur spontan und instinktiv eingesetzt. Nun mußte sie lernen, ihr ungebändigtes Talent zu bezähmen, um die kontrollierte Konzentration der Macht zu erlangen, die das wahre Geheimnis der Magusch war. Und das konnte man Eliseths Meinung nach nur durch die endlose Wiederholung von Übungen und Trainingsaufgaben erreichen, die in Aurians Augen nichts erklärten und nur wenig bewirkten.
Eliseth quälte sie mit Feuermagie, ließ sie eine Kerzenflamme entzünden oder auslöschen, größer oder kleiner werden. Aber Aurian hatte nicht die geringste Vorstellung, wo sie beginnen sollte. Sie versagte auch auf dem Gebiet der geistigen Verständigung – ohnehin eine Seltenheit unter den Magusch, obwohl Aurian das nicht wußte –, da zwischen ihr und Eliseth keinerlei Freundschaft herrschte. Einen begrenzten Erfolg konnte sie im Bereich einfacher Schwebezauber und in der Erdmagie verzeichnen, während die Wassermagie ihr vollkommen verschlossen blieb. Die Magie der Luft – die das Spezialgebiet der Wettermagusch Eliseth war – hatte die Maguschfrau angesichts Aurians schwacher Leistungen von vornherein als viel zu schwierig vom Lehrplan gestrichen.
Forrals Konzentrationsübungen halfen ihr ein wenig, aber für Aurian war es ein großer Unterschied, ob sie ihren Willen auf ein bestimmtes Ziel richten oder ihren Geist zu strenger Disziplin zwingen mußte. Ein ums andere Mal war es irgendeine Kleinigkeit, die ihre Aufmerksamkeit ablenkte, und sie verlor entweder ihre mühsam gesammelten Kräfte wieder, oder sie gerieten außer Kontrolle und führten zu unglücklichen Ergebnissen. Eliseths Strafen anläßlich solcher Pannen waren erfinderisch, grausam und demütigend, und Aurian hatte schon bald Angst, die ihr gestellten Aufgaben auch nur anzugehen, da sie befürchtete, wieder einmal zu versagen. Aber auf diese Weise bekam sie nur noch mehr Schwierigkeiten mit ihrer ungeduldigen Lehrerin. Nicht einmal abends gehörte ihr ihre Zeit allein, denn Elisabeth verlangte von ihr, den gesamten Maguschkodex auswendig zu lernen, und fragte sie jeden Tag ab.
Aurian war unglücklicher und einsamer als je zuvor in ihrem Leben. Die Dinge wären vielleicht einfacher gewesen, wenn sie ihrer Mutter eine Nachricht hätte senden oder mit Finbarr und Meiriel hätte reden dürfen, aber Eliseth hielt sie praktisch wie eine Gefangene; tagsüber mußte sie pausenlos arbeiten, und abends wurde sie in ihrem Zimmer eingeschlossen. Aurian verlor ihren Appetit und konnte nicht mehr schlafen. Jede Nacht lag sie wach und wälzte sich bekümmert von einer Seite auf die andere, und jeden Morgen schien das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, noch bleicher, hagerer und hohläugiger geworden zu sein. Sie wurde immer nervöser und schüchterner und brach beim geringsten Anlaß in Tränen aus. Als die Wochen zu Monaten wurden und der Frühling langsam zurückkehrte, wuchs ihre Überzeugung, daß aus ihr niemals eine richtige Magusch werden würde. Unausweichlich gewann ihre Hoffnungslosigkeit allmählich die Oberhand über ihre Furcht vor der Stadt und der großen Welt da draußen, so sehr, daß sie schließlich den verzweifelten Wunsch verspürte zu fliehen.
Endlich bot sich ihr eine Gelegenheit. Nach einem besonders qualvollen Tag schickte Eliseth sie auf ihr Zimmer und vergaß, die Tür abzuschließen. Aurian wartete atemlos bis spät in die Nacht hinein, wobei sie betete, daß die Magusch nicht zurückkehren würde, um sie doch noch einzuschließen. Dann verstaute sie ihre wenigen Kleidungsstücke in einem Laken und schlich sich aus dem Turm. Jeden Augenblick erwartete sie, eine zornige Stimme zu hören, die sie zurückrief.
Das Ganze schien beinahe zu einfach zu sein. Die Luft war mild und frühlingshaft, der Vollmond spendete ihr ausreichend Licht, und der Hof war vollkommen verlassen. Aurian huschte leise von einem Schatten zum anderen, um nach einem anderen Ausgang als dem Haupttor zu suchen, das bewacht war und sie lediglich auf die ungeschützte Straße zum Pförtnerhaus auf dem Damm führen würde. Während sie die hohe Mauer entlanglief, die den Gebäudekomplex umgab, begann sie zu verzweifeln. Es mußte doch noch einen anderen Weg ins Freie geben! Aber ihre Suche hatte sie lediglich wieder an ihren Ausgangspunkt zurückgebracht, zum Turm der Magusch. Aurian hätte sich am liebsten hingesetzt und geweint, aber eine solche Chance zur Flucht würde sich ihr vielleicht nie wieder bieten, und sie konnte es sich nicht leisten, sie zu vertun. Sie biß die Zähne zusammen und murmelte einen von Forrals Lieblingsflüchen. »Na schön«, murmelte sie, »dann werde ich eben hinüberklettern!« Auf der Suche nach einem möglichst guten Angriffspunkt auf dem glatten Stein der Mauer kroch sie in die Ecke, wo das Mauerwerk auf die abgerundete Seite des Turms traf. Und dort, versteckt im Schatten, fand sie eine kleine, hölzerne Seitentür, die tief in die Mauer eingelassen war. Aurian biß sich auf die Lippen, kämpfte mit dem großen Eisenring, der als Griff diente, und drückte dagegen. Die kleine Tür gab schließlich nach und öffnete sich. Aurian schlüpfte hindurch, und neue Mutlosigkeit überfiel sie. Vor ihr lag nicht der Weg ins Freie, sondern nur ein abgeschlossener Garten.
Von ihrem Versteck in den Büschen, die an der Mauer entlang wuchsen, sah Aurian sich den Garten nun genauer an. Er wurde offensichtlich mit großer Sorgfalt in Ordnung gehalten; kurze, gepflegte Rasenstücke, funkelnde Springbrunnen und ordentliche Beete mit zarten Frühlingsblumen schimmerten im bleichen Mondlicht. Eine warme Brise trug den Duft der Blüten zu Aurian herüber, und ein paar frühe Nachtfalter tanzten über ihnen in der Luft. Abgesehen von einem kreisförmigen Laubengang in der Mitte boten nur die Mauern mit ihrer dichten Decke aus Gebüsch und Kletterpflanzen einem Flüchtling Schutz. Und eine Mauern – die von ihr am weitesten entfernte – war nur hüfthoch. Sie konnte mühelos hinüberklettern! Aurians Herz machte einen kleinen Sprung. Aber sogleich wurde sie wieder ernüchtert. Es war die Mauer über dem Rand des steilen Felsabhangs, der wie der Bug eines Schiffs zu dem tief darunterliegenden Fluß abfiel. Entschlossen biß sie die Zähne zusammen und kämpfte ihre Verzweiflung nieder. Ich muß lediglich versuchen, die Klippe hinunterzuklettern, das ist alles, dachte sie. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm. Ich würde jedenfalls lieber sterben, als noch eine Nacht in diesem Gefängnis zu verbringen!
Aurian schlich sich im Schatten der Büsche durch den Garten auf die niedrige Mauer zu. Dann sah sie plötzlich den alten Mann. Als sie durch den Garten gekommen war, hatte ihn der Laubengang verborgen, aber jetzt konnte sie ihn deutlich sehen, wie er da mit einem Hohlspaten in der Hand über einem Blumenbeet kniete. Mit pochendem Herzen drängte sie sich zurück in die Büsche, entdeckte aber zu spät, daß es sich um Rosen handelte. Die Dornen bohrten sich schmerzhaft in ihren Rücken und verfingen sich in ihren Kleidern und in ihrem Haar, aber sie wagte es nicht, einen Laut von sich zu geben oder sich aus dem Gebüsch zu befreien, obwohl der alte Gärtner vollkommen in seine Aufgabe versunken zu sein schien.
Aurian wartete. Und wartete, und betete darum, daß der alte Narr sich endlich beeilen und weggehen würde. Er hatte doch wohl nicht die Absicht, die ganze Nacht zu arbeiten? Offensichtlich nicht. Ohne aufzusehen, sagte er: »Ist es nicht ein bißchen ungemütlich da drin?« Aurian stockte der Atem, und die Dornen bohrten sich noch tiefer in ihre Haut, als sie weiter in das schützende Versteck der Büsche zurückwich.
»Du kannst ruhig herauskommen, weißt du.« Die rauhe, alte Stimme war nicht unfreundlich. »Der private Garten des Erzmagusch ist nie und nimmer ein guter Platz, um sich zu verstecken, Kind. Es heißt, selbst die Blumen flüsterten ihm Geheimnisse in die Ohren.«
Mit einem Keuchen sprang Aurian aus den Rosenbüschen heraus, wobei sie sich die Kleider an den spitzen Dornen aufriß. Der alte Mann lächelte. »So ist es schon besser. Dieser Garten hat schon seit mehr Jahren, als ich zählen kann, kein hübsches Mädchen mehr gesehen.« Aus der Tasche seines geflickten, alten Rocks holte er eine kleine Flasche Wein hervor sowie ein ordentlich in einen sauberen, weißen Stoff gewickeltes Päckchen. »Ich wollte gerade etwas essen«, sagte er. »Magst du Brot und Käse?«
Er war offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf. Aurian bewegte sich langsam auf die niedrige Mauer zu. »Nein danke«, sagte sie. »Ich fürchte, ich habe keine Zeit.«
»Unfug. Es ist auf jeden Fall besser, mit vollem Magen davonzulaufen als mit leerem, sage ich immer.«
»Woher weißt du, daß ich fliehen will?« Die Worte waren ausgesprochen, bevor sie sie hätte zurückhalten können.
Er zuckte mit den Schultern. »Das ist doch ziemlich offensichtlich. Ich würde es an deiner Stelle allerdings nicht hier am Felshang versuchen. Bisher hat das noch niemand geschafft, und du wirst sicherlich scheußlich aussehen, wenn du mit gebrochenen Knochen da unten auf den Steinen liegst.«
Aurian starrte ihn niedergeschlagen an. Eine einsame Träne kullerte ihr über die Wange.
»So, und nun komm«, sagte der alte Mann freundlich, »iß ein wenig zu Abend und erzähl mir alles. Vielleicht kann ich dir helfen.«
Es war das erste Mal, daß Aurian Wein trank, und es endete damit, daß sie den Löwenanteil der Flasche bekam. Das ungewohnte Getränk löste ihre Zunge, und es dauerte nicht lange, da hatte er ihr die ganze Geschichte ihres Lebens entlockt, die mit ihren Schwierigkeiten und ihrem Elend an der Akademie endete. Der alte Mann hörte ihr ernst zu und warf nur von Zeit zu Zeit eine kurze Frage ein. Als ihr wieder einmal die Tränen kamen, gab er sogar sein Taschentuch. Schließlich war sie mit ihrer Geschichte am Ende, und er streckte ihr seine Hand hin. »Komm mit mir«, sagte er sanft. »Es wird Zeit, daß wir die Dinge wieder ins rechte Lot bringen.«
Gehorsam folgte ihm Aurian durch den Garten und den kleinen Nebeneingang. Erst als sie am Maguschturm angekommen waren, stockte sie plötzlich. Der alte Narr konnte nicht ganz bei Trost sein! »Ich kann nicht!« keuchte sie. »Eliseth ist da drin – und der Erzmagusch!« Sie versuchte, sich von ihm loszureißen, aber er hielt sie unerbittlich fest, und seine dunklen Augen bohrten sich in die ihren.
»Mein liebes Kind, hast du es denn noch nicht erraten? Ich bin der Erzmagusch!«
Aurian wäre um ein Haar in Ohnmacht gefallen. Sie hatte sich beim Erzmagusch höchstpersönlich bitter über die Akademie beklagt. Er hatte sie dabei erwischt, wie sie seinen privaten Garten betreten und versucht hatte, wegzulaufen. Es war ihr unmöglich zu sprechen, und sie zitterte so heftig, daß ihre Beine unter ihr nachzugeben drohten.
Miathan legte beruhigend einen Arm um ihre Schultern. »Hab keine Angst, Kind«, sagte er. »Wenn ich irgend jemandem wegen dieser Angelegenheit die Ohren lang ziehe, dann bestimmt nicht dir.« Aurian zögerte immer noch, denn die stählerne Härte, die plötzlich in seiner Stimme lag, machte ihr angst. Der Erzmagusch blickte auf sie herab und seufzte. »Nun komm schon, Mädchen. Ich werde dich schon nicht in eine Kröte verwandeln. Ich werde dich vielmehr zu einer erstklassigen Magusch machen.« Mit diesen Worten lächelte er ihr noch einmal ermunternd zu. Es war so ein strahlendes, freundliches Lächeln, daß Aurians Befürchtungen wie Schnee in der Sonne zerschmolzen.
Als sie seine Gemächer erreicht hatten, rief der Erzmagusch einen schläfrigen Diener zu sich und bestellte ein zweites, weit üppigeres Mahl, als es das erste gewesen war. Dann setzte er Aurian in einen weichen Sessel neben dem Feuer, während er seine geflickten, alten Gärtnerkleider gegen die prachtvolle, scharlachrote Robe seines Amtes eintauschte. Sie sah sich unterdessen um, voller Ehrfurcht für die prachtvollen Möbel, den tiefen, weichen Teppich und die goldbestickten Wandbehänge, die überall im Zimmer hingen. Wirklich, dieses Gemach wäre eines Königs würdig gewesen. Es war himmelweit entfernt von ihrer kahlen, kleinen Zelle im Erdgeschoß.
Das Essen kam mit verblüffender Schnelligkeit, wenn man bedachte, daß die Küchenangestellten aus ihren Betten geholt werden mußten, um es zuzubereiten. Aurian betrachtete die verführerischen Speisen mit einem verwirrten Blick – viel zuviel für zwei. Sie fragte sich voller Nervosität, ob der Erzmagusch von ihr erwartete, daß sie das alles aß. Und das Mahl selbst! Eilin hatte wenig Zeit zum Kochen gehabt, und das Essen bei ihr war stets gut, aber einfach gewesen; Eliseth dagegen schien geglaubt zu haben, daß Brot und Milch auf jeden Fall genug für sie wären. Jetzt hatte sie Fleischstücke vor sich, die ganz unkenntlich waren unter den köstlichen Soßen, und Gemüse und Früchte, die in kunstvollster Weise zubereitet waren. Sehr zu ihrer Verlegenheit hatte Aurian bei einigen der exotisch anmutenden Speisen nicht die geringste Ahnung, was sie mit ihnen tun sollte. Nahm man sie einfach mit den Fingern, oder wäre das ein schreckliches Vergehen? Miathan schien sich ihrer mißlichen Lage jedoch bewußt zu sein. Er bestand darauf, sie selbst zu bedienen, und sobald er sie zögern sah, erklärte er ihr die raffinierten Gerichte, die er ihr reichte. Von seiner Freundlichkeit ermutigt und gestärkt vom Wein, der langsam eine schwindelerregende Wirkung zeigte, begann Aurian, sich zu entspannen und das Essen zu genießen. Während sie aßen, erklärte ihr Miathan, daß es ein Mißverständnis gegeben habe und daß er von nun an ihre Ausbildung persönlich überwachen werde. Aurian überlief es plötzlich eiskalt. »Aber – aber Eliseth sagt, ich sei nutzlos«, gestand sie ihm beschämt.
Miathan zog die Augenbrauen hoch. »Was? Die Tochter von Geraint und Eilin nutzlos? Das glaube ich nicht!« Er streckte die Hand aus, um die einzige Kerze, die in einem silbernen Leuchter in der Mitte des Tisches brannte, auszulöschen. Plötzlich war das ganze Zimmer in Dunkel getaucht; das einzige Licht kam von den lodernden Flammen im Kamin. »Aurian, würdest du bitte die Kerze für mich anzünden, ich sehe ja gar nicht mehr, was ich esse«, sagte der Erzmagusch.
Aurian schienen die Sinne zu schwinden. Je mehr sie versuchte, ihre verworrenen Gedanken zu konzentrieren, um so schlimmer wurde es. Was würde er ihr antun, wenn sie versagte? Plötzlich schloß sich Miathans starke Hand um die ihre, und seine warme Stimme durchschnitt das Chaos ihrer Gedanken. »Entspann dich, Kind. Denk an die Flamme. Stell sie dir im Geiste vor. Zuerst ist es nur ein glühender kleiner Fleck, der sich an den Docht klammert. Dann beginnt das Wachs am Docht zu schmelzen und zu zischen – du kannst es riechen –, und die kleine Flamme erglüht und wächst …«
Aurians Augen weiteten sich. Es passierte tatsächlich! Sanftes Licht ergoß sich bis in die Ecken des Zimmers, als ihre kleine Flamme aufflackerte und immer größer wurde. »Ich habe es geschafft«, rief sie triumphierend und schlug sich dann voller Entsetzen mit der Hand auf den Mund, als eine wild lodernde Feuersäule wie in Antwort auf ihre Begeisterung von der Kerze aufschoß und die Decke versengte. »Oh!« Aurian erstickte die Flamme automatisch, wie sie es zu Haus so oft bei den Feuerbällen getan hatte. »Es tut mir leid«, flüsterte sie und wich vor Miathan zurück.
Der Erzmagusch warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen. »Wahrhaftig!« rief er. »Das habe ich verdient! Ich sehe, daß ich in Zukunft sehr vorsichtig sein muß, wenn ich dich um etwas bitte!«
Aurian war sprachlos. »Ihr meint – es ist in Ordnung? Aber ich habe gerade Eure Decke ruiniert.«
»Kümmere dich nicht um meine Decke, mein Liebes. Die Diener werden das schnell wieder in Ordnung bringen«, sagte Miathan. »Wichtiger ist, daß du bewiesen hast, daß du kein hoffnungsloser Fall bist, sondern über ein sehr machtvolles Talent verfügst. Wir müssen dir lediglich beibringen, es einzusetzen – was dir ja sehr gut gelungen ist, nachdem ich es dir erst einmal erklärt habe –, und dann mußt du lernen, deine Kraft zu kontrollieren. Du hast es nicht geschafft, deine Verbindung mit der Flamme zu lösen, verstehst du, so daß sie einfach auf deine Gefühle reagiert hat.«
»Werdet Ihr mir zeigen, wie ich es machen muß?« fragte Aurian eifrig.
Miathan lächelte. »Bist du nicht müde? Es ist schon sehr spät.«
»Müde? Nein, kein bißchen. Es ist alles so …« Aurians Stimme ging in einem gewaltigen Gähnen unter.
Der Erzmagusch streckte ihr seine Hand entgegen. »Komm mit«, sagte er. »Du kannst heute nacht in meinem Bett schlafen, und morgen früh werde ich dafür sorgen, daß du ein neues Quartier bekommst. In der Etage direkt unter dieser gibt es einige leerstehende Räume – sie haben übrigens deinem Vater gehört –, und ich denke, sie wären für dich sehr geeignet. Wir werden in Zukunft sehr eng zusammenarbeiten, also möchte ich, daß du auch in meiner Nähe bist. Na, wie klingt das?«
»Oh, vielen Dank, Erzmagusch!« In einem Übermaß an Dankbarkeit schlang Aurian ihre Arme um Miathans Hals und drückte ihn an sich. Einen angstvollen Augenblick lang fragte sie sich, ob sie zu weit gegangen war, aber dann sah sie, daß ein Strahlen über sein ernstes, altes Gesicht glitt. Und genau in diesem Augenblick begann Aurian, ihn zu lieben. Als sie in seinem großen Himmelbett einschlief, war sie glücklicher und zufriedener als in all den letzten Monaten, und statt Forral war es Miathan, der ihre letzten, schläfrigen Gedanken ausfüllte.
Ein Klopfen an der Tür riß den Erzmagusch aus seiner Betrachtung des schlafenden jungen Mädchens. Seufzend verließ er das Schlafzimmer und schloß die Tür leise hinter sich zu. Wie erwartet, handelte es sich bei seinem Besucher um Eliseth. »Hatte das nicht bis morgen Zeit?« sagte er ungehalten.
Eliseth trat ans Feuer und wärmte sich die Hände. »Ich konnte nicht schlafen. Ich wollte wissen, wie es gelaufen ist.«
»Nun, du hast deine Rolle jedenfalls sehr erfolgreich gespielt. Das arme Kind war so eingeschüchtert, daß es kaum noch Gewalt über seine Kräfte hatte. Aber was für Kräfte, Eliseth! Es ist schier unglaublich bei einem so jungen Menschen.«
»Und was genau hast du mit ihr vor?« Eliseths Stimme wurde plötzlich scharf. »Du willst sie selbst ausbilden – heißt das, daß du sie zu deiner Nachfolgerin machen willst?«
Miathan kicherte. »Darum geht es also bei diesem nächtlichen Besuch. Das hätte ich mir ja denken können. Nun, du kannst beruhigt sein, meine Liebe. Ich habe nicht die Absicht, ausgerechnet jetzt einen Nachfolger zu bestimmen – um genau zu sein, werde ich das vielleicht überhaupt nicht tun.«
»Was? Aber – aber die Amtsdauer ist auf höchstens zweihundert Jahre festgesetzt. So ist es immer gewesen.«
»Traditionell, ja. Aber Traditionen kann man auch beiseite schieben. Mir gefällt es, Erzmagusch zu sein – und außerdem, wer sollte mir schon nachfolgen? Du und Bragar, ihr habt einen gewissen Ehrgeiz in dieser Hinsicht …«
»Bragar?« Eliseth schnappte nach Luft.
Miathan lachte. »Wie naiv du doch bist! Hast du etwa geglaubt, du hättest ihn mit den Verlockungen deines Körpers gezähmt? Das ist dir ja schon bei mir mißlungen – was hat dich auf den Gedanken gebracht, du könntest bei ihm mehr Erfolg haben? Es war überaus unterhaltsam zuzusehen, wie ihr beide taktiert und manövriert habt, aber in diesem kleinen Spiel bin ich euch immer eine Nasenlänge voraus. Du tust besser daran, auf meiner Seite zu bleiben, meine Liebe. Ich habe die Absicht, eines Tages die Welt zu beherrschen, und meine treuen Anhänger werden Macht und Wohlstand genießen.« Miathans Gesicht wurde grimmig. »Versuch nicht, mir in die Quere zu kommen, Eliseth. Ich allein bin zehnmal mächtiger als du, aber jetzt hast du es auch noch mit Aurian zu tun. Du hast dir ja selbst eine hübsche, kleine Falle gestellt mit unserem schönen Plan. Aurian haßt dich, und jetzt gehört sie mir.«