Sonntag. Eva hasste diese Sonntage, die immer gleichen Sonntage, die sich fast nur durch Regen, Sonne, Schnee und Wind unterschieden und gelegentlich durch einen Kinobesuch. Sie hasste sie noch mehr als die Wochentage, an denen sie wenigstens die Hoffnung haben konnte, dass irgendetwas passierte, dass jemand mit ihr sprach oder dass Franziska ihre Hand auf ihren Arm legte und ihr etwas erzählte. Sonntag, das hieß Lernen, um die Langeweile zu übertönen, englische Vokabeln gegen das Gedudel von Bayern drei, mathematische Gleichungen gegen den rülpsenden Sonntagsfrieden.
Zum Frühstück saß die Familie um den Tisch, um die dampfende Kaffeekanne und den Sonntagskuchen. Mutter im geblümten Morgenrock, steif, Nylon, dunkelrote Röschen auf rosa Grund, und der Vater, noch nicht rasiert, mit dunkelblauem Bademantel über dem Schlafanzug, blauweiß gestreift.
«Einen guten Kuchen hat unsere Mama wieder gebacken«, sagte der Vater und die Mutter schaute auf ihren Teller und antwortete:»Ein bisschen braun ist er geworden. Ich hätte den Herd fünf Minuten eher ausmachen sollen. «Oder sie sagte:»Die Käsefüllung ist ein bisschen zu feucht. Die Unterhitze im Herd funktioniert nicht mehr so richtig.«
«Nein, Marianne«, widersprach der Vater.»Der Kuchen ist wirklich gut. Nicht wahr, Kinder?«
Eva und Berthold stopften den Kuchen in sich hinein und murmelten mit vollem Mund» besonders gut«, wie jeden Sonntag.
Um halb zwölf Aufbruch der ganzen Familie zum Mittagessen bei Oma.»Wir halten das Familienleben hoch«, hatte die Mutter zur Schmidhuber gesagt.»Ich sage immer, es gibt nichts Wichtigeres für Kinder als ein gutes Familienleben. Und dazu gehört, dass wir jeden Sonntag bei den Eltern meines Mannes zu Mittag essen. «Und die Schmidhuber hatte genickt und gesagt, wenn alle Familien so intakt waren, gäbe es weniger Jugendkriminalität. Eva hätte am liebsten laut geschrien.
Alle waren ordentlich angezogen und gekämmt. Fingernägelkontrolle. Evas Fingernägel waren immer sehr kurz geschnitten, bis zur Fingerkuppe musste sie sie herunterschneiden, um die zerbissenen und zerfransten Ränder wieder glatt zu bekommen.
Berthold, mürrisch, schlecht gelaunt, erwischte noch schnell eine Ohrfeige, sonntags, beim Aufbruch, weil er lieber Fußball gespielt hätte drüben in den Anlagen, mit seinen Freunden, und es nicht schaffte, wortlos zu verzichten, schweigend seinen Wunsch zu unterdrücken.
«Aber Fritz, doch nicht am Sonntag!«, sagte die Mutter.
«Wenn er es aber verdient hat!«, antwortete der Vater.
Bei schönem Wetter gingen sie zu Fuß, nur wenn es regnete, nahmen sie das Auto.»Das tut gut nach einer Woche im Büro«, sagte der Vater und dehnte seine Schultern, ging mit federnden Schritten, ein stattlicher Mann, durch die sonntäglich leeren Straßen. Von der Anlage drüben hörte man das Geschrei der Buben:»Toooor!«Berthold drehte den Kopf zur Seite. Auf seiner Backe sah man noch die rötlichen Spuren der Ohrfeige.
Eva trottete hinter den anderen her. Sie ging nicht gern zur Oma. Noch nie war sie gern zur Oma gegangen.
Sie erinnerte sich noch genau, wie das damals war, als sie bei Oma gewesen war. Als Mama im Krankenhaus gewesen war.»Evachen hier «und» Evachen da «und der Geruch von Putzmitteln überall.»Räum auf, Evachen. Ein braves Mädchen isst seinen Teller leer. Ein braves Mädchen räumt seine Spielsachen weg. Ein braves Mädchen gibt der Oma ein Küsschen. «Eva hatte nur noch auf den Vater gewartet.
Sie war schon fünf gewesen bei Bertholds Geburt, sie erinnerte sich an die Freude des Vaters, die laute, aufgeregte Stimme.»Stellt euch vor, ein Junge! Es ist tatsächlich ein Junge. «Das Lachen des Vaters war anders, ganz anders als das Lachen, das er für Eva hatte. Sie hatte zu ihm gehen wollen, sich in seine Arme werfen, hatte den ganzen Tag schon darauf gewartet, dass er kommen würde, der Vater, dass er sie auf seine Knie heben würde, hatte darauf gewartet, dass er sie kitzeln würde, bis sie kreischen müsste vor Lachen, bis ihr Bauch hart würde und fast wehtäte, aber nur fast. Auf diese schmale Kippe zwischen Lust und Schmerz hatte sie gewartet.
Und dann war er da und er sah sie nicht.»Ein Junge«, sagte er.»Stellt euch vor, es ist ein Junge. «Eva war noch einen Schritt auf ihn zugegangen, hatte die Arme nach ihm ausgestreckt. Er hatte sie nicht bemerkt.»Und was für einer. Acht Pfund wiegt er.«
Die Oma hatte die Hände zusammengeschlagen, na so was, endlich ein Junge, war an den Küchenschrank gegangen, hatte die obere Tür aufgemacht, die Glastür, an die Eva damals noch nicht drankam, die Oma hatte sich gereckt und eine Flasche herausgeholt. Der Rock war ihr hochgerutscht und Eva hatte den Wulst gesehen, diesen Strumpfwulst über Omas Knien. Sie rollte die Strümpfe immer über den Knien zu einem Wulst, der dann mit einem Gummiband gehalten wurde. Über dem braunen Wollstrick waren Omas Beine sehr weiß, wie Hefeteig sah die Haut aus, wie der Teig, der in einer Schüssel unter einem sauberen weißen Küchenhandtuch blasig aufgegangen war.
Sie hatten am Küchentisch gesessen, der Vater hatte das kleine Gläschen ein paar Mal leer getrunken, die Oma hatte ihm nachgeschenkt, der Vater hatte mit rotem Gesicht gelacht, ja, ein Junge, und die Oma hatte gesagt:»Das war auch damals, bei deiner Geburt, eine Freude, das kannst du dir gar nicht vorstellen«, und hatte dem Vater die Hände getätschelt.
Und Eva hatte dabeigestanden und die Tischdecke angestarrt, blauweiße Karos, Eva hatte angefangen, sie zu zählen, die Karos, bis zehn konnte sie zählen damals. Auf einem weißen Karo war ein grüner Fleck gewesen, Spinat vom Mittagessen.»Spinat ist gesund«, hatte Oma gesagt. Eva mochte keinen Spinat.
«Berthold soll er heißen.«
Eva war ganz leise hinübergegangen in das Schlafzimmer, hatte sich m Omas Bett gelegt, die riesige, weiße Zudecke über sich gezogen, weiß mit eingesticktem Monogramm, EM, E, weil Oma Elfriede hieß, und M, weil sie, bevor sie den Opa heiratete, Müller geheißen hatte.
Eva setzte automatisch einen Fuß vor den anderen. Sie ging nicht gern spazieren. Nach einer halben Stunde fing der Vater auch noch an zu drängeln:»Los, Kinder, ein bisschen schneller! Wir wollen Oma doch nicht warten lassen.«
Eva war schon wieder ganz verschwitzt und wischte sich mit einem Tempotaschentuch über das heiße Gesicht. Endlich waren sie da, an den alten Wohnblocks.
Oma und Opa wohnten im Hinterhaus, im ersten Stock. Eva mochte diese düstere Wohnung nicht, hatte sie noch nie gemocht. Alles war mit Möbeln voll gestellt, überall hingen Fotos an den Wänden.
«Das ist deine Tante Adelheid. Die ist nach Amerika ausgewandert. Sie hat ihren Mann in Deutschland kennen gelernt, er war hier stationiert, ein guter Mann. Schau, drei Kinder hat sie.«
Und Eva schaute das Foto an, eine kräftige Frau unter einem bunten Weihnachtsbaum, der Mann und die Kinder standen neben ihr.
«Jeden Monat schreibt sie einen Brief«, sagte die Oma und wischte sich mit dem Schürzenzipfel über die Augen.»Jeden Monat schreibt sie.«
«Ja, ja, Mutter«, sagte der Vater und legte ihr den Arm um die Schulter.»Ist schon gut, Mutter.«
«Ach Gott, die Gans«, rief die Oma und watschelte in die Küche.
Gans bei der Hitze, dachte Eva. Sie stand am Vertiko und betrachtete die Fotos ihres Vaters, die da in schmalen Goldrähmchen aufgereiht waren: Vater am ersten Schultae, ein dicklicher Junge mit einem dunk-
len Pullover, eine Schultüte an sich gepresst. Vater bei der Erstkommunion, schwarzer Anzug, weißes Hemd, Kerze, sehr ernsthaft und feierlich. Vater beim Schulabgang, Vater bei der Bundeswehr, im Kreis seiner Kameraden. Er war auch immer dick gewesen.
«Evachen, komm in die Küche, das Essen ist fertig.«
Das war Opa. Er legte seine Arme um sie und gab ihr einen feuchten Kuss. Eva strich ihm über das schüttere, weiße Haar.
«Opa, wie geht es dir denn?«
Er war alt, viel älter als Oma.
«Es geht, Kind. Wenn man alt wird, ist alles anders. Da wird man bescheiden. Da muss man Gott danken, wenn man noch einigermaßen gesund ist.«
Die Gans war groß und braun und das Fett troff nur so an ihr herab und bildete hell schwimmende Goldaugen auf der Sauce. Die Oma stand am Tisch, hielt einen Teller in der Hand und legte ein Stück Gans darauf, ein Bein, dann zwei Knödel, goss mit einem kleinen Schöpflöffel goldäugige Sauce darüber, fettäu-gige Sauce, und füllte die noch verbliebenen Lücken auf dem Teller mit Rotkraut.
«Danke, Mutter«, sagte der Vater, als sie den Teller vor ihn hinstellte. Er bekam immer zuerst.
«Danke«, sagte Opa.
«Danke«, sagte die Mutter. Oma strahlte.
Berthold hatte schon die Gabel in der Hand und fing sofort an zu essen, als Oma ihm seinen Teller gab.
«Lass es dir schmecken, Evachen.«
Eva spürte ein kleines, leichtes Würgen in ihrer Kehle und trank schnell einen Schluck Apfelsaft.
Die Oma schnitt sich das Fleisch in ganz kleine Stückchen.»Meine Zähne, wisst ihr!«Sie schmatzte beim Essen.
«Die Adelheid hat geschrieben, ihr Sohn ist mit der Schule fertig und hat ein sehr gutes Zeugnis bekommen. Er wird studieren.«
«Die Eva wird auch immer besser in der Schule«, sagte der Vater.»Sie macht uns viel Freude.«
Eva ärgerte sich.
«Ja, sie ist ein gutes Mädchen. «Oma sprach mit vollem Mund. Eva konnte den Knödel-Rotkrautbrei zwischen ihren Zähnen sehen.
«Nur der Berthold«, fuhr der Vater fort.»Der Berthold ist faul. Nicht dass er etwa dumm wäre! Faul ist er.«
Berthold wurde rot. Er hatte den Mund voll, kaute verzweifelt und würgte. Er musste husten und hielt sich schnell die Hand vor den Mund. Eva betrachtete ihren Vater. Er schaute mit finsterem Gesicht zu, wie die Mutter unbeholfen auf Bertholds Rücken klopfte.
«Trink etwas«, sagte er. Gehorsam griff Berthold nach dem Glas mit Apfelsaft. Seine Hand war gesprenkelt mit Saucenflecken, braun wie Sommersprossen. Er trank hastig.
«Wenn Marianne ihn nicht so verwöhnt hätte«, sagte der Vater.
«Ja, ja«, antwortete Oma.»Bei Kindern muss man auch mal hart durchgreifen.«
Die Mutter sagte kein Wort.
«Aber die Eva«, wiederholte der Vater,»die Eva macht uns viel Freude. Sie schreibt nur gute Noten.«
«Ja, ja, das Evachen«, sagte die Oma und schob ein Stück Knödel in den Mund.»Das Evachen ist ein gutes Kind. Du warst auch immer ein gutes Kind, Fritz.«
Eva aß ihren Teller leer.
Nach dem Essen spülte die Mutter das Geschirr, Eva trocknete ab.»Aber das musst du doch nicht machen, Marianne«, sagte die Oma jeden Sonntag. Und jeden Sonntag antwortete die Mutter:»Aber das mach ich doch gern, Oma, wo du uns doch schon so was Schönes gekocht hast.«
Eva war schlecht von dem vielen Essen.
Zum Kaffeetrinken waren sie dann schon zu Hause. Es gab wieder den besonders guten Kuchen.
«Adelheids Sohn wird studieren«, sagte der Vater bitter.»Und meiner? Mein Sohn geht nicht mal aufs Gymnasium.«
«Hack doch nicht immer auf dem Jungen herum«, sagte die Mutter.
Das Gesicht des Vaters wurde böse.»Du halt dich da raus! Warum hat er denn die Übertrittstests nicht geschafft, wie? Weil er nicht rechnen kann! Und das will mein Sohn sein!«
Eva musste sich auf die Zunge beißen, um nicht laut zu lachen. Wahrscheinlich, dachte sie, wäre er viel lieber der Sohn von jemand anders. Laut sagen konnte sie das natürlich nicht. Der Vater war Buchhalter und bildete sich viel darauf ein, dass er sehr schnell und sehr sicher rechnen konnte. Für ihn war die Note in Mathematik ein Maßstab für die Intelligenz eines Menschen, und Intelligenz war das, womit man es im Leben zu etwas brachte, beispielsweise zu einer gut eingerichteten Wohnung, Farbfernseher, Waschmaschine, Spülmaschine und so weiter.
«Wie willst du es denn im Leben je zu etwas bringen, wenn du so faul bist?«
Na bitte, hatte sie es nicht gewusst?
«Ich will Fernfahrer werden«, sagte Berthold in einem Anfall von Trotz.»Da brauche ich kein Gymnasium.«
«Ich wäre froh gewesen, wenn ich hätte lernen dürfen«, antwortete der Vater bitter.»Aber bei uns war kein Geld da für so etwas. Und weil ich das besser beurteilen kann als du, sage ich dir, dass du im nächsten Jahr so viel lernen wirst, dass dir die Dummheiten schon vergehen. Und dein Zeugnis wird nach der fünften Klasse besser, verstanden?«
Berthold senkte die Augen auf den Teller. Eva sah ihm an, dass er am liebsten geweint hätte. Stattdessen beugte er sich vor und schob ein Stück Kuchen in den Mund. Er setzte die Tasse an und trank Kakao nach. Dann schluckte er und biss sofort wieder in den Kuchen. Eva schaute ihm verstohlen zu. Berthold aß sehr schnell, man konnte eigentlich nur schlingen dazu sagen. Er schaute nicht mehr von seinem Teller auf. Verbissen stopfte er sich voll.
«Eva, warum isst du nicht?«, fragte der Vater.
Sie merkte erst jetzt, dass das Stück Kuchen noch unberührt vor ihr auf dem Teller lag. Ohne den Vater anzuschauen, sagte sie:»Bei deiner Meckerei kann einem ja der Appetit vergehen.«
«Eva!«Die Stimme der Mutter klang erschrocken.
«Ist doch wahr!«
«Ach, die junge Dame wird aufmüpfig, wie?«, sagte der Vater.»Bis jetzt habe ich allerdings noch nie gemerkt, dass dir der Appetit vergangen wäre. Du siehst jedenfalls nicht so aus.«
«Hört doch auf!«, sagte die Mutter beunruhigt.»Ich weiß gar nicht, was heute in euch gefahren ist. Beim Essen streitet man nicht. Das ist nicht gesund.«
Eva schwieg. Was hätte sie auch sagen können? Wenn es nach der Mutter ging, war es überhaupt nie gesund zu streiten. Aber für den Vater war es offensichtlich gesund, jeden Tag zu meckern. Eva kaute auf ihrem Kuchen herum. Er war trocken und brösehg. Sie legte ihn wieder auf den Teller.
«Das Stück Kuchen wirst du doch noch essen können«, sagte die Mutter.»Nur das eine Stückchen.«
Eva machte es wie Berthold. Sie trank viel Kakao nach.