18

Was für ein Tag! So viele Tage gab es in Evas Leben, die langsam vergingen, träge, zäh, mit Minuten, die sich mühsam-müde aneinander reihten, bis endlich wieder eine Stunde um war, so viele Tage, an denen nichts passierte, an denen die Welt stillzustehen schien oder besser: in einer klebrigen, durchsichtigen Masse zu ersticken drohte, Tage, an denen Eva sich langsam bewegte, nicht merkte, dass sie sich bewegte, Tage, an denen nichts, überhaupt nichts passierte außer dem üblichen Trott, kein Glanzlicht, kein heller Tupfer auf dem grauen Einerlei, kein Blick, kein Lächeln, keine flüchtigen Worte und keine Berührung.

Und dann kam ein Tag wie dieser.

Es war noch nicht einmal so, dass das Wetter besonders schön gewesen wäre. Eigentlich war es eher trist, wolkenverhangen, aber als Eva morgens aus ihrem Fenster schaute, hinein in diesen grauen Morgen, spürte sie schon das Kribbeln auf der Haut, die Sommermorgenkühle, frische, kalte Luft, und sie atmete tief durch.

Der Häuserblock gegenüber, der, in dem die Grabers wohnten, die Grabers mit der >guten Tochter<, verschwand fast im Grau des Himmels. Himmel und Haus hatten die gleiche Farbe, die Konsistenz war natürlich anders, aber Eva musste zweimal hinschauen, um das zu sehen. Es war ein seltsames Grau, ein weiches, wattiges, einhüllendes.

Eva stand lange am Fenster und schaute hinaus.

Dann, beim Frühstück, zog der Vater sein Portemonnaie und hielt Eva einen Hunderter hin.»Hier«, sagte er.»Kauf dir was Schönes, das ist zusätzlich zum Taschengeld, weil es doch dieses Jahr nichts wird mit dem Urlaub.«

Berthold schaute von seinem Teller hoch.

«Du kriegst auch etwas«, sagte der Vater,»morgen, wenn du zu Tante Irmgard fährst.«

Berthold nickte und bestrich sein Brot mit Kalbsleberwurst.

«Natürlich bekommst du keine hundert Mark. Du bist ja erst zehn. Bei Eva ist das schon etwas anderes.«

«Ja«, sagte Berthold.

Eva nahm den Hunderter und legte ihn unter ihren Teller.»Danke, Papa.«

«Was kaufst du dir?«, fragte die Mutter.

«Ich weiß noch nicht«, antwortete Eva.»Ich gehe heute in die Stadt. Vielleicht sehe ich was, das ich will.«

Sie räumte ihr Zimmer auf, ordnete ihre Platten, als ihre Mutter hereinkam.»Post für dich, Eva. «Sie hielt ihr eine Postkarte hin und blieb neugierig stehen.

Eva nahm die Karte, legte sie auf ihren Schreibtisch und stellte die Beatles-Platten nebeneinander in den Ständer.

«Na ja, dann nicht«, sagte die Mutter und ging zurück in die Küche.

Eva nahm die Karte und drehte sie um. In sauberer, kindlicher Schrift stand da:»Meine liebe Eva! Hamburg ist wunderschön. Ich bin gerade erst angekommen. Schade, dass du nicht da bist. Ich schreibe dir bald. Dein Michel.«

Eva lachte. Viel war das nicht, aber sie freute sich, dass er sofort an sie gedacht hatte.

Laut singend machte sie ihr Zimmer fertig.

«Mama, ich hole mir einen Blumenstrauß. Soll ich dir etwas mitbringen?«

«Zwei Liter Milch und ein Pfund Salz. Und sechs Äpfel. Ich will Milchreis machen.«

Eva wählte einen Strauß Wiesenblumen für eine Mark achtzig. Ich fahre nächste Woche mal mit der S-Bahn in irgendein Dorf und dort werde ich spazieren gehen, nahm sie sich vor. Sie sah die Wiese, eine Hangwiese würde es sein, in der Sonne, voller Blumen. Richtig bunt würde die Wiese sein. Sie würde sich mitten hineinlegen und in den blauen Himmel schauen. Bienen würden über sie hinwegfliegen und im nahen Wald würde ein Kuckuck rufen. Kuckuck, Kuckuck, sag mir doch, wie viel Jahre leb ich noch? Eins, zwei, drei, vier…

Eier und Schmalz, Butter und Salz, Milch und Mehl, Safran macht den Kuchen gel, sang sie, als sie die Treppe hinaufstieg.

Die Mutter fuhr mit Berthold zum Kaufhof. Er brauchte noch Unterhosen und neue Gummistiefel, wenn er morgen zu Tante Irmgard fuhr.

Eva setzte Teewasser auf und goss die Blumen im Wohnzimmer. Da klingelte es. Eva drückte auf den Türöffner und hörte, wie unten die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.

«Ich bin's«, sagte Franziska.»Mir war langweilig zu Hause.«

«Komm rein.«

Und dann saß Franziska, bräunlich in der hellen Hose und dem hellblauen Hemd, in Evas Zimmer. Sie saß auf dem Bett und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, die Beine hatte sie weit von sich gestreckt. Wie eine Katze liegt sie da, so entspannt, dachte Eva. Richtig schön.

«Hast du Lust, Mathe zu machen?«, fragte sie.

Franziska schüttelte den Kopf.»Heute nicht, morgen.«

Was für ein Tag. Wann hatte sie einmal Besuch gehabt in ihrem Zimmer? Nie? Wirklich nie?

«Ich bin froh, dass du gekommen bist.«

Franziska lachte und streckte sich.»Mach doch mal Musik an!«

Eva legte eine Kassette ein.

«Bei dir ist es richtig gemütlich. Aufgeräumt.«


Eva dachte an Franziskas Zimmer, an den großen Raum in der Altbauwohnung, mit hoher Stuckdecke und schönen, alten Möbeln. Die ganze Wohnung war so, schön, aber unordentlich war sie auch.

«Eure Wohnung gefällt mir viel besser.«

«Mir nicht. So ein Zimmer, wie du es hast, klein, gemütlich, das ist viel schöner. Hast du schon mal in einem Altbau geschlafen? Nein? Dann musst du bald mal bei mir übernachten. Überall knistert und knarzt es in der Nacht. Das ist richtig unheimlich. Ich habe immer Angst davor, nachts aufzuwachen.«

Du musst bald mal bei mir übernachten, hatte sie gesagt. Eva hatte noch nie bei einer Freundin übernachtet.

«Ich hatte früher, als Kind, oft Angst nachts«, erzählte sie.»Ich stellte mir vor, was alles passieren könnte. Einbrecher könnten kommen, Mörder, oder das Haus könnte in Brand geraten. Dabei ist in Wirklichkeit nie etwas passiert.«

«Das kenn ich«, sagte Franziska.»Ich bin dann immer zu meiner Mutter ins Bett gestiegen. Leider bin ich jetzt schon zu groß dafür. Ich habe gern bei meiner Mutter geschlafen.«

«Ich habe nie bei meiner Mutter geschlafen«, sagte Eva.»Aber wenn ich geweint habe, ist sie immer gekommen und hat mich getröstet.«

Heiße Milch mit Honig und ein Butterbrot. Oder ein paar Kekse. Und wenn es gar zu schlimm war, gab es eine Tafel Schokolade. Verdammt, immer war es Essen gewesen. Essen ist gut, Essen vertreibt jeden Kummer!

Eva stand auf und ging zum Kassettenrecorder. Sie zog den Bauch ein beim Gehen.

«Die andere Seite?«, fragte sie.

«Ja, bitte.«

Eva drehte die Kassette um. Ich muss mir die Haare waschen, dachte sie. Unbedingt muss ich mir heute Abend die Haare waschen.

«Ich fand das toll, wie du das mit dem Brief an das Direktorat gemacht hast«, sagte Franziska.»Ich habe dich das erste Mal richtig reden hören, morgens in der Schule und dann nachmittags bei uns zu Hause. Sonst sagst du ja kaum was. Man muss dir die Wörter fast einzeln aus der Nase ziehen.«

Eva, verlegen, zog ihren Rock über die Knie.»Ich bin halt kein großer Redner.«

«Aber du kannst das«, sagte Franziska.»Wieso bist du nicht Klassensprecherin geworden?«

Eva, getroffen von dieser plötzlichen Aufwertung, wandte sich ab. Antwortlos, sprachlos holte sie den Tee aus der Küche.

Eva stand vor ihrem Bücherregal. Hinter den anderen Büchern steckte, in Querlage und gut getarnt, das Diätbuch. Es war nicht leicht gewesen, ein sicheres Versteck zu finden.


Eva dachte an die Situation in der Buchhandlung, an ihren heimlichen Diätversuch, an all die Verzweiflung, die niemand merken durfte, und zögerte. Doch dann nahm sie das Buch heraus und ging schnell in die Küche. Ihre Mutter saß am Tisch und las die Zeitung.

«Mama«, sagte Eva und legte das Buch auf den Tisch.»Kannst du nicht für mich mal anders kochen? Ich würde gern ein bisschen abnehmen, wenn es geht.«

Die Mutter schaute erstaunt auf.»Wieso? Hat dein Freund etwas gesagt?«

Eva schüttelte den Kopf.»Nein, nicht deswegen. Aber ich finde mich zu dick.«

«Aber du siehst doch gut aus«, sagte die Mutter.»Und dass du so schwer bist, das hast du vom Papa.«

«Und vom Essen. «Eva wollte das Buch schon wieder nehmen, es wäre einfacher gewesen und es ging ihr nicht mehr wirklich um die Diät, doch sie dachte an die Heimlichkeiten, an die verborgene Scham, und redete weiter:»Ich glaube ja auch nicht, dass ich dünn werde. Aber ausprobieren möchte ich es gern und ich will es nicht heimlich tun. Ich will nicht mehr heimlich essen und nicht mehr heimlich hungern. Nein, hungern will ich überhaupt nicht mehr. Aber wir könnten doch mal probieren, ein bisschen anders zu essen.«

Die Mutter nahm neugierig das Buch und blätterte darin herum.»Natürlich«, sagte sie.»Natürlich kann ich dir so etwas kochen. Weißt du was? Ich mache auch mit. Schaden kann es mir nicht. Und dem Papa erst recht nicht. Und jetzt in den Ferien können wir das wirklich machen. «Die Mutter war ganz begeistert.»Schau mal, da das Mittagessen: Fischfilet Neptun mit Grilltomaten. Das hört sich doch prima an. Soll ich das heute machen? Und zum Nachtisch Eis?«

«Ja«, sagte Eva.»Soll ich für dich einkaufen?«

«Wir könnten zusammen gehen. Magst du, dass wir zusammen gehen?«

Eva nickte.»Gern. Wir gehen zusammen einkaufen und dann kochen wir zusammen.«

«Und wenn es dem Papa nicht schmeckt, dann schicken wir ihn ins Restaurant.«

Eva lachte.»Traust du dich das?«

Die Mutter zuckte mit den Schultern.»Vielleicht nicht. Aber ich werde für dich das kochen, was du willst. Bestimmt.«

Eva legte ihrer Mutter die Arme um den Hals und küsste sie.

«Eva«, sagte die Mutter,»ach, Eva. Du sollst es besser machen als ich. Du sollst gescheiter sein.«

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