17

Eva betrat den Hauptbahnhof durch den Seiteneingang. Sie wollte nicht gesehen werden. Dabei wusste sie, dass noch niemand sie sehen konnte, es war noch viel zu früh. Erst in über einer Stunde würde der Zug abfahren, genau in einer Stunde, zwölf Minuten und — sie schaute auf die Uhr — siebenundzwanzig Sekunden.

Ein Ruck des Zeigers, sechsundzwanzig Sekunden, noch ein Ruck, fünfundzwanzig Sekunden.

Lärm, Schreien, Quietschen, Stimmen, überall Stimmen, überall Menschen. Und dann der Geruch. Bahnhofsgeruch. Schwüler Metallgeruch, Schmutz. Schnellimbiss: Bratwurst vom Grill, Pommes frites. Heißes Öl stinkt.

Ein Mann, leicht schwankend, mit den Händen Halt suchend am einbeinigen Tisch des Stehausschanks, rief ihr zu:»Willst du was, Kleine?«

Eva ging schnell vorbei, versuchte, flach und kurz zu atmen, den säuerlichen Geruch nach Schweiß und Bier nicht in sich eindringen zu lassen. Sie blieb vor der großen Anzeigetafel» Abfahrt «stehen und suchte mit den Augen die Reihen ab. Da war der Zug. Vierzehn Uhr sechzehn Abfahrt München, zweiundzwanzig Uhr fünfundzwanzig Ankunft Hamburg, Abfahrt Gleis fünfundzwanzig.

Eine Frau ging an Eva vorbei, eine schöne Frau, sehr groß, sehr schlank. Sie roch nach Maiglöckchen. Oder Veilchen? Wie rochen Maiglöckchen, wie Veilchen? Eva konnte sich nicht erinnern. Sie fühlte sich unförmig und schweißig. Warum hatte sie auch die hellrote Bluse angezogen! Hellrot wie eine noch nicht ausgereifte Tomate, die, viel zu früh gepflückt, nicht mehr nachreifen würde. Eine, die verfaulen würde, ohne rot geworden zu sein. Außerdem sah man an dieser Bluse jeden Schweißfleck. Sie brauchte gar nicht hinzuschauen, sie wusste, wie die Flecken aussahen unter ihren Achseln, dunkel, mit hellzackigen Rändern.

Sie winkelte die Arme leicht an, ganz leicht nur, so leicht, dass man es nicht sehen konnte, aber doch weit genug, dass Luft an ihre Achselhöhlen gelangte. Vielleicht würde der Schweiß trocknen.

Wenn es nur nicht so schwül wäre. Dicke schwitzen eben viel mehr als Dünne.

Der Krach war wirklich schlimm. Eva hasste Lärm, der sich aufdrängte, dem man nicht entweichen konnte. Seine Ohren schließen kann keiner. Geräuschen ist man ausgeliefert.

Noch eine Stunde und drei Minuten.

Ein Schweißtropfen rann ihr über die Schläfe, seitlich an ihrer Backe herunter, und fiel auf ihre Hand, die sie ausgestreckt hatte, um ihn abzuwischen.

Wann würden sie kommen? Würden sie alle da sein, Vater, Mutter und acht Kinder? Nein, acht konnten es nicht sein, Frank war noch im Krankenhaus.»Es wird doch noch ein bisschen länger dauern«, hatte Michel gesagt, gestern, als sie sich voneinander verabschiedet hatten.

Ein Kettchen hatte sie ihm geschenkt zum Abschied, ein dünnes Silberkettchen mit einem >M< dran.

«Ein >E< hätte es sein müssen«, hatte Michel gesagt.»Ein >E< wie Eva. Warum ist es kein >E

Eng umschlungen hatten sie auf einer Parkbank gesessen.

«Schreibst du mir, Eva?«

«Ja, Michel.«

Geküsst hatten sie sich, ganz traurig hatten sie sich geküsst.

«Eva, wirst du meine Freundin bleiben?«

Eva hatte die Trauer gemerkt, diesen kleinen, stechenden Schmerz, dieses kleine Loch in ihrem Herzen, das >Michel< heißen würde.

«Du wirst andere Mädchen kennen lernen«, hatte sie gesagt.»Viele Mädchen wirst du kennen lernen in Hamburg.«

«Du hast so schöne Haare«, hatte Michel gesagt und sein Gesicht in ihren Haaren vergraben. Sein Atem war warm gewesen.

Eva betrat das Bahnhofsrestaurant, setzte sich an einen Tisch, von dem aus sie das Gleis fünfundzwanzig beobachten konnte. Ein Glas Cola hat 80 Kalorien. Sie bestellte ein Selterswasser. Michel rülpste immer ganz laut, wenn er Überkinger trank.

Wann er wiederkommen würde? Das wusste er nicht. Er wusste auch nicht, wann er seine erste Fahrt antreten würde.»Das macht alles der Onkel.«

«Warten Sie auch auf jemanden?«, fragte eine alte Frau, die sich zu Eva an den Tisch setzte. Eva zögerte, schüttelte dann den Kopf.»Nein, nicht eigentlich«, sagte sie.

Die Frau hielt ihre Handtasche auf dem Schoß.»Man kann nicht vorsichtig genug sein«, sagte sie, als sie Evas Blick bemerkte.»Man liest das immer wieder in der Zeitung.«

Die Bedienung kam.»Ein Kännchen Kaffee Hag und ein Stück Käsesahne«, bestellte die Frau und fuhr, zu Eva gewandt, fort:»Ich warte nämlich auf meine Tochter. Sie kommt für ein paar Tage zu mir, bevor sie in Urlaub fährt.«

Eva nickte. Was sollte sie sonst auch tun? Sie ärgerte sich. Sie wäre lieber allein gewesen.

Immer noch achtunddreißig Minuten. Der Zug stand schon da.

«Ich lebe nämlich allein hier«, sagte die alte Frau. Ihre Stimme klang so kläglich, dass Eva sie erstaunt ansah.

«Seit mein Mann tot ist. «Sie wischte sich mit der Serviette über die Augen.


Eva tat ihr Ärger von vorhin Leid.

«So ist das«, sagte die Frau und rührte mit dem Löffelchen im Kaffee.»Wenn man alt wird, ist man allein.«

«Wo wohnt Ihre Tochter denn?«, fragte Eva und winkte der Bedienung.

«In Frankfurt«, sagte die Frau.

«Das ist natürlich ganz schön weit weg. «Eva suchte ein Zweimarkstück zum Bezahlen.»Auf Wiedersehn. Hoffentlich kommt Ihre Tochter bald.«

Sie kaufte sich eine Süddeutsche Zeitung und suchte einen Platz, von dem aus sie den Bahnsteig beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.

Dreizehn Uhr fünfundfünfzig. Sie kamen. Eva trat noch einen Schritt zurück hinter den Zeitungsstand und hielt die Zeitung halb vor das Gesicht.

Michel trug eine dunkle Hose und ein weißes Hemd. Er schleppte einen großen, bräunlichen Pappkoffer. Der Vater trug noch eine Reisetasche. Eva betrachtete alle neugierig. Der Vater war nicht groß, mager und dunkel, mit einem großen Schnauzbart und mittellangen Haaren. Er sieht nett aus, dachte Eva. Ein bisschen angeberisch mit dem Anzug und der roten Fliege, aber nett.

Die Mutter trug ein Kind auf dem Arm, ein blondes, vielleicht zwei Jahre alt. Zwei andere Kinder, zwei Buben, rannten aufgeregt auf dem Bahnsteig hin und her. Ilona, schwer, langsam, in demselben Kleid, das sie auf dem Fest getragen hatte, nahm der Mutter das kleine Kind ab.

Michel sah ganz anders aus, so mitten in seiner Familie. Jünger sah er aus, kindlicher.

Der Vater hob den Koffer und die Reisetasche in den Zug. Die Mutter umarmte Michel. Sie war groß und kräftig, dick konnte man sagen, und Michel verschwand fast in ihren Armen. Das kleine Kind fing an zu weinen und die Mutter nahm es wieder. Ilona strich ihrem Bruder mit der Hand über das Gesicht. Wieder war Eva erstaunt über die Innigkeit in den Bewegungen dieses Mädchens. Ein Gefühl von Eifersucht stieg in ihr hoch. Wie kommt die dazu, ihn so zu berühren? dachte sie. Nur ich sollte das dürfen.

Aber gleichzeitig wusste sie, dass sie das nicht konnte. Nicht bei Michel.

Eva hatte die Zeitung schon lange sinken lassen. Michel schaute nicht herüber. Er umarmte Ilona und streichelte ihren Kopf. Seine Mutter, das kleine Kind auf dem Arm, wischte sich mit der anderen Hand über die Augen. Michel war ganz eingeschlossen in Berührungen, Blicken und Worten.

Eine richtige Familie, dachte Eva. Sie gehen sehr lieb miteinander um. Bei uns würde zum Beispiel nie so viel geküsst.

Wann hatte sie eigentlich Berthold das letzte Mal geküsst? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Sie wusste noch nicht einmal, ob Berthold das mögen würde.

Die beiden Buben kamen zurück von der anderen Seite des Bahnsteigs. Sie hatten einen Gepäckwagen erwischt. Einer schob, der andere saß darauf. Sie lachten und winkten und drängten sich zwischen den Leuten hindurch. Einer sah ein bisschen aus wie Michel, ein ausgelassenes, frohes Gesicht.

Der Bahnsteig war voll geworden. Überall standen Leute herum, die sich verabschiedeten. Vierzehn Uhr zehn war es inzwischen. Noch sechs Minuten. Ach Michel. Eva war traurig. Ich hätte dich lieben können, wenn…! Wenn was?

Sie drehte sich um und ging. Ein bisschen steif waren ihre Beine und ihre Augen brannten, aber sie drehte sich nicht mehr um. Michel würde ihr schreiben, sicher, und sie würde ihm antworten. Es war noch nicht vorbei. Noch nicht.

Am Bahnhofsplatz war ein Cafe. Eva ging hinein, setzte sich an einen freien Tisch und bestellte eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen. Käsesahne.

Загрузка...