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Am nächsten Morgen wachte Eva mit brennenden Augen auf. Erst wollte sie zu Hause bleiben, im Bett liegen, krank sein, sie wollte nicht aufstehen und wieder in der Schule sitzen, leidend und verbittert, und sich an die letzte Nacht erinnern. Und an die vielen Nächte davor.

Müde zog sie das Laken über sich.

Die Mutter kam herein.»Aber Kind, es ist schon sieben. Steh doch endlich auf!«Und als Eva keine Anstalten machte, das Laken vom Kopf zu ziehen:»Fehlt dir was? Bist du krank?«

Eva setzte sich auf.»Nein.«

«Aber Kind, hast du was? Was ist denn los?«Die Mutter war auf Eva zugekommen und hatte die Arme um sie gelegt. Einen Moment lang, einen winzigen Moment lang, ließ sich Eva in diese Arme fallen. Die Mutter roch warm und gut, noch ohne Blendamed und Haarspray.

Doch dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.»Ich habe schlecht geschlafen«, sagte sie.»Das ist alles.«

In der Schule war es wie immer, seit Franziska neu in die Klasse gekommen war, Franziska, die seltsamerweise noch immer neben Eva saß, nach vier Monaten immer noch.

Eva hatte lang allein gesessen, fast zwei Jahre lang, an dieser Bank ganz hinten am Fenster. Früher einmal war es Karola gewesen, die ihr morgens erzählt hatte, was gestern alles passiert war, und Eva, was passierte schon bei ihr, hatte es aufgesogen wie ein Schwamm, hatte Karolas Leben miterlebt, Geburtstagsfeiern, Kinobesuche, die berühmte Schauspielertante, den Reitunterricht, alles hatte Eva miterlebt, bis das Miterleben schal wurde und verblasste in der Eifersucht. Karola und Lena, Lena und Karola. Lena, die Elegante.»Lena kann auch reiten! Findest du das nicht toll? Für nächsten Sonntag haben wir uns verabredet.«

Eva hatte genickt.»Toll. «Eva hatte Karola weiter abschreiben lassen, hatte gelächelt, hatte» Ja «gesagt und» Nein «gemeint, hätte schreien wollen, brüllen, der Lena die langen, blonden Haare ausreißen, aber sie hatte gelächelt. Und bei der nächsten Gelegenheit hatte sie den Platz in der letzten Reihe am Fenster gewählt. Allein.

Karola und Lena saßen in der Bank vor ihr. Eva konnte die morgendlichen Gespräche hören: Mensch, Lena, gestern bei der Party habe ich…! Meine Mutter hat mir einen Pulli mitgebracht, Spitze, sag ich dir! Eva konnte auch sehen, wie Karola der Lena die Hand streichelte. Eva wusste, wie weich Karolas Hände waren.


Und dann war der Tag gekommen, vor vier Monaten, dass Franziska in der Tür gestanden hatte, langhaarig, schmal.»Ja, ich komme aus Frankfurt. Wir sind umgezogen, weil mein Vater hier eine Stelle an einem Krankenhaus bekommen hat.«

Und Herr Hochstein hatte gesagt:»Setz dich neben Eva.«

Franziska hatte Eva die Hand gegeben, eine kleine Hand, kleiner als Bertholds, und sich gesetzt. Herr Hochstein hatte sie gefragt, was sie denn in ihrer letzten Schule zuletzt durchgenommen hatten in Mathe. Und als er feststellte, dass sie ziemlich weit zurück war, wandte er sich an die Klasse und sagte mit einem Lächeln, das kein Lächeln war, einem Lächeln, das seinen Mund nur in die Breite zog, einem Lächeln, das Eva schon lange auf die Nerven gegangen war:»Franziska wird lange brauchen, bis sie unseren bayerischen Standard erreicht haben wird.«

Eva sah, dass Franziska rot wurde. Sie sah sehr jung aus, verlegen wie Berthold unter Vaters Bemerkungen. Und Eva stand auf und sagte ganz laut:»Herr Hochstein, wollen Sie damit sagen, dass wir in Bayern klüger sind als die in Hessen?«

Karola drehte sich um.»Gut«, flüsterte sie.

«Aber nein«, stotterte Herr Hochstein, dem schadenfrohen Grinsen der Mädchen ausgeliefert,»so war das nicht gemeint. Es ist nur der Lehrplan, weißt du…!«


Eva war über sich selbst erschrocken.

«Danke«, flüsterte das Mädchen neben ihr.

Als die Stunde vorbei war, wandte sich Herr Hochstein noch einmal an Franziska.»Du hast Glück, dass du neben unserem Mathe-As sitzt. Eva könnte dir viel helfen.«

Diesmal war Eva nicht ganz sicher, ob es wirklich spöttisch gemeint war. Es klang fast wie ein gut gemeinter Rat.

Franziska saß immer noch neben Eva. Und sie war immer noch ziemlich schlecht in Mathe, obwohl Eva ihre alten Hefte herausgekramt und sie ihr gleich am nächsten Tag gegeben hatte. Und immer noch sprach sie Eva an, redete mit ihr über Lehrer und gab ihr morgens zur Begrüßung die Hand.

«Ist etwas passiert?«

«Nein. Wieso?«

«Weil du so aussiehst.«

«Ich habe Kopfschmerzen.«

«Und warum bist du dann nicht zu Hause geblieben?«

Eva antwortete nicht. Sie packte ihre Bücher aus. Sie hasste diesen Raum. Sie hasste dieses Haus. Jeden Tag, immer wieder! Über vier Jahre lagen hinter ihr und über vier Jahre vor ihr. Sie konnte sich das fast nicht vorstellen. Erste Stunde Herr Hochstein, Mathe, zweite Stunde Frau Peters, Deutsch, dritte Stunde Frau Wittrock, Biologie, vierte Stunde Herr Kleiner, Englisch, fünfte Stunde Herr Hauser, Kunst, sechste Stunde Frau Wendel, Französisch. Und in allen Fächern musste sie gut sein.

Ein Test in Englisch. Gelernt hatte sie gestern noch. Aber Karola, in der Bank vor ihr, stöhnte:»Und das bei diesem Wetter. Gestern war ich bis sieben im Schwimmbad.«

Diese Gans, dachte Eva. Immer beklagt sie sich, aber nie tut sie was. Sie ist selbst schuld.

«Franziska, gibst du mir einen Spickzettel?«, bat Karola flüsternd. Franziska, die eine englische Mutter hatte und besser Englisch sprach als Herr Kleiner, nickte.

Eva begann zu schreiben. Franziska schob ihr einen Zettel zu.»Für Karola«, sagte sie leise. Eva schob den Zettel zurück.

«Sei doch nicht so. Gib weiter.«

Eva schüttelte den Kopf, sie schaute nicht auf, bewegte den Kopf kaum merklich und hätte ihn doch schütteln wollen, deutlich sichtbar, hätte am liebsten laut» Nein «geschrien und» Sie geht schwimmen, sie geht auf Partys, sie geht tanzen, sie erlebt immer etwas! Warum soll sie auch noch gute Noten haben?«

Franziska hatte das winzige Kopfschütteln gesehen, sie beugte sich vor, schräg rüber, und ließ den Zettel über Karolas Schulter fallen.

Herr Kleiner war mit ein paar Schritten da, griff nach Franziskas Blatt und legte es auf seinen Tisch. Mit seinem roten Filzschreiber zog er quer über das Geschriebene einen dicken Strich.

Niemand sagte ein Wort. Franziska saß mit unbeweglichem Gesicht da. Sie ist selbst schuld, dachte Eva. Ganz allein ist sie schuld. Niemand hat sie gezwungen, das zu tun. Und dann dachte sie noch: Karola ist auch schuld. Warum tut sie nie etwas und will hinterher, dass andere ihr helfen?

In der Pause ging Franziska nicht neben Eva her.

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