10

Eva und Michel saßen in der Milchbar. Es regnete. Eva trug die Haare wieder offen. Michel hielt ihre Hand und sie schauten sich über den Tisch hinweg an.

«Könnten wir nicht nachher in die Diskothek gehen?«

«Warum?«, fragte Michel.»Ich wäre viel lieber mit dir allein irgendwo. Können wir wirklich nicht zu dir nach Hause gehen?«

«Nein«, sagte Eva.»Du kennst meinen Vater nicht.«

«Schade.«

«Ich möchte so gern einmal in eine Diskothek gehen. Ich war noch nie.«

Michel zuckte mit den Schultern.»Meinetwegen. Aber es ist sehr laut dort. Und teuer.«

«Ich habe noch Geld.«

«Gut, dann gehen wir in die Disko am Josephsplatz.«

Eva zögerte.»Ich habe noch nie getanzt. Außer mit meinem Vater Walzer.«

An Neujahr war das gewesen. Vater hatte Sekt getrunken und war sehr lustig gewesen. Aus dem Radio klang laute Tanzmusik.

Plötzlich räumte Vater die Sessel und den Tisch zur Seite, ganz aufgekratzt war er, und stellte das Radio noch lauter.

«Komm, Mama, jetzt zeigen wir mal den Kindern, wie man Walzer tanzt.«

Die Mutter wehrte ab.»Ach nein, Fritz. Wir haben schon so lange nicht mehr getanzt.«

«Los«, sagte der Vater und zog die widerstrebende Mutter aus dem Sessel.»Los, Marianne. Keine Müdigkeit vorschützen.«

Und dann tanzten sie und der Vater sang laut mit.»Donau, so blau, so blau, so blau…!«

Sie tanzten Tango und Walzer, Cha-Cha-Cha und Foxtrott, so lange, bis die Mutter rote Backen bekam.

«Eva, jetzt bist du dran«, sagte der Vater, als die Mutter sich schwer atmend in einen Sessel fallen ließ.

«Ich kann doch nicht tanzen«, antwortete Eva.

«Dann wird es Zeit, dass du es lernst.«

Eva war plötzlich sehr aufgeregt. Sie bewunderte den Vater, der seinen schweren Körper so gewandt und sicher bewegte. Er sah anders aus als sonst. Jünger.

«Euer Vater hat früher einmal den ersten Preis bei einem großen Tanzwettbewerb gewonnen. Das war damals, als wir uns kennen gelernt haben.«

Eva sah ihren Vater überrascht an.»Wirklich?«

Sie fühlte sich tölpelhaft und ungeschickt, kam aus dem Takt und trat ihrem Vater auf die Füße.

«Nicht so, Eva. Du darfst nicht an deine Beine denken. Achte nur auf

den Takt und lass dich führen.

Hörst du? Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei.«

Und dann war es wirklich ganz leicht. Eva drehte sich und drehte sich, ließ sich in die Musik und in Vaters Arm fallen und fühlte sich leicht und glücklich.

«Das machst du prima, Eva. Wirklich! Mama, wir müssen bald mal mit unserer großen Tochter tanzen gehen.«

Mama nickte gerührt. Berthold war über seinem Mickymausheft eingeschlafen.

«Mit meinem Vater habe ich getanzt«, sagte Eva und sah Michel wieder an.»Er hat früher mal den ersten Preis bei einem Tanzwettbewerb gewonnen.«

«Wirklich?«

«Ja, das war damals, als er meine Mutter kennen lernte.«

Michel sah sie zweifelnd an.»Aber in einer Disko tanzt man keinen Walzer.«

Eva lachte.»Das weiß ich. Ich habe das schon oft im Fernsehen gesehen. «Sie dachte an die heimlichen Tanzversuche in ihrem Zimmer. So schwer konnte das doch nicht sein.

In der Diskothek war es sehr voll. Eva wäre am liebsten wieder hinausgegangen, als sie all die schlanken, schönen Mädchen sah. Na ja, nicht alle waren so schlank. Es waren auch ein paar Dicke dabei. Eine stand mit einer Colaflasche in der Hand da, mitten zwischen anderen Jungen und Mädchen, und lachte.


Eva sah sie von der Seite an. Sie lachte wirklich, so, als wäre sie wie die anderen. Und dabei war sie wirklich dick. Nicht so dick, nicht ganz so dick wie Eva, aber immerhin! Und außerdem trug sie noch eine Brille.

Michel zog Eva an der Hand hinter sich her zu einem Tisch in der Ecke. Eva stellte ihre Tasche hin und wollte sich setzen.»Nein«, sagte Michel.»Jetzt sind wir schon mal da, jetzt tanzen wir auch.«

Er musste sehr laut reden, damit sie ihn überhaupt verstand. Die Tanzfläche war voll, aber Michel drängte sich einfach dazu und fing an, sich zu bewegen, erst langsam, dann schneller.

Er kann tanzen, dachte Eva, und ihre Knie wurden weich. Ihr wurde schwindelig. Was hatte der Vater gesagt?» Nicht so, Eva. Du darfst nicht an deine Beine denken. Hör auf den Takt und lass dich führen. «Aber hier gab es niemand, der sie führte.

Sie machte es wie Michel. Erst langsam, in den Hüften bewegen, wie war bloß der Takt, dann trat sie von einem Fuß auf den anderen. Wie ein kleines Mädchen, das dringend mal muss, dachte sie und lächelte. Michel lächelte auch. Michel, dachte sie, Michel.

Er nahm ihre Hand und schwang sie unauffällig im Takt hin und her. Und dann war es plötzlich wieder da, dieses Gefühl wie an Neujahr, nur noch viel schöner. Eva lachte und schüttelte ihre Haare, die langen, offenen Haare, und sie vergaß ihren Elefantenkörper und tanzte.


Irgendwann zog Michel sie von der Tanzfläche und führte sie zu ihrem Stuhl.»Gib mir Geld«, sagte er.»Ich hole eine Cola.«

«Ich möchte lieber ein Selterswasser.«

Michel nickte. Er kam zurück und stellte ein Glas Überkinger vor sie auf den Tisch. Dann setzte er sich ganz dicht neben sie und legte den Arm um ihre Hüfte. Ich bin verschwitzt, dachte Eva. Ganz nass geschwitzt bin ich. Hoffentlich stinke ich nicht. Sie schob ihn weg.

«Mensch, Eva«, sagte Michel hingerissen.»Du tanzt wirklich ganz toll. Hätte ich nicht gedacht. Kommst du am Samstag mit mir ins Freizeitheim? Wir haben ein Sommerfest.«

Eva nickte. Papa, dachte sie. Ach, Papa.

Die Bluse klebte an ihrem Körper. Und weil es schon ganz egal war, stand sie auf und zog Michel zur Tanzfläche.

«Ich will noch«, sagte sie. Er nickte. Es war schon acht, als sie auf die Uhr sah.

Sie schloss leise die Tür auf. Aus dem Wohnzimmer drang das Geräusch des Fernsehers. Halb zehn vorbei. Da ging die Wohnzimmertür auf. Der Vater betrachtete sie von oben bis unten, machte zwei Schritte auf sie zu und holte aus. Eva starrte ihn an. Die Ohrfeige brannte auf ihrer Haut.

«Aber Fritz«, sagte die Mutter hilflos, böse.»Warum soll sie nicht mal länger wegbleiben? Sie ist doch schon fünfzehn.«

«Ich will nicht, dass meine Tochter sich mmtreibt.«

«Aber das heißt doch nicht rumtreiben, wenn sie mal bis halb zehn wegbleibt. Wann soll sie denn ihre Jugend genießen, wenn nicht jetzt?«Eva hörte die Ver-bitterung in der Stimme der Mutter.

«So fängt es an«, schrie der Vater.»Schau sie dir doch an, wie sie aussieht! Schicken wir sie deshalb auf die Schule, dass sie mit einem Bankert daherkommt?«

Eva ging wortlos in ihr Zimmer und schloss mit ei-nem lauten Knall die Tür hinter sich. Sie ließ sich auf das Bett fallen, auf das weiche, sichere Bett, das Ver-sprechen von Wärme und Zuflucht, und weinte.»Du Schwein«, sagte sie laut.»Du gemeines Schwein. Nichts weißt du. Nur an so etwas kannst du denken.«

Die Mutter kam herein und setzte sich zu ihr auf den Bettrand. Hilflos streichelte sie Evas Rücken.

«Kind, er meint das nicht so, wirklich nicht. Er hat sich solche Sorgen gemacht um dich. Sogar bei der Po-lizei hat er schon angerufen, ob irgendwo ein Unfall gemeldet worden ist.«

Eva schluchzte. Sie weinte laut, hemmungslos, V wollte nichts mehr verbergen, der Vater sollte es ruhig hören, dieses Schwein!

Bankert: abwertende Bezeichnung für» uneheliches Kind»


«Kind«, sagte die Mutter,»Kind, Kind. «Was anderes fiel ihr auch nicht ein! Eva weinte noch lauter.

«Du musst versuchen, ihn zu verstehen«, sagte die Mutter.»Er ist halt so.«

«Immer soll ich ihn verstehen! Immer ich! Geh doch zu deinem geliebten Fritz! Geh nur. Du verstehst ihn ja so gut.«

Die Mutter sagte nichts mehr. Dann verließ sie das Zimmer. Eva hörte die Tür klappen. Ihr lautes Weinen ging in ein rhythmisches Schluchzen über, langsamer, beruhigender. Sie vergrub sich in das Kopfkissen. Ihr Gesicht brannte und fühlte sich verquollen an. Weinen, weinen, nur noch weinen. Michel. Nichts verstand der Vater, gar nichts. Nie hatte er irgendetwas verstanden.

«Scheiße! Scheiße!«

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