8

Eva stand im Badezimmer vor dem Spiegel. Zum Glück gab es in der ganzen Wohnung keinen großen Spiegel außer dem auf der Innenseite einer Tür des Schlafzimmerschrankes. Eva ging ganz nah an den Spiegel, so nah, dass sie mit ihrer Nase das Glas berührte. Sie starrte sich in die Augen, graugrün waren ihre Augen, dunkelgrau gesäumte Iris, grünliche, sternförmige Maserung. Ihr wurde schwindelig. Sie trat einen Schritt zurück und sah wieder ihr Gesicht, umrahmt von Odolflaschen und Zahnbürsten, rot, blau, grün und gelb. Mutters Lippenstift lag da. Eva nahm ihn und malte ein großes Herz um dieses Gesicht im Spiegel. Sie lachte und beugte sich vor zu diesem Gesicht, das so fremd war und so vertraut.»Du bist gar nicht so übel«, sagte sie. Das Gesicht im Spiegel lächelte.»Du bist Eva«, sagte sie. Das Gesicht im Spiegel formte einen Kussmund. Die Nase war ein bisschen zu lang.»Das ist Evas Nase«, sagte Eva. Sie öffnete ihren Pferdeschwanz, ließ die Haare auf die Schultern fallen, lange Haare, lockig, fast kraus. Sie zog sich mit dem Kamm einen Scheitel in der Mitte, kämmte die Haare mehr nach vorn. So war es richtig. Würde es Michel gefallen? Sie schob ihre Lippen etwas vor, warf sie auf, nur ein bisschen, und senkte die Lider. Schön verrucht sah sie jetzt aus, fast wie eine Schauspielerin in einer Illustrierten. Sie schminkte sich die Lippen. Sie machte es langsam, ganz vorsichtig, und biss dann auf ein Tempotaschentuch, drückte die Lippen auf dem Papier zusammen, wie sie es bei der Mutter gesehen hatte.

Es klopfte an die Tür.»Wer ist denn drin?«Das war Berthold.

«Ich.«

«Mach schnell, ich muss dringend.«

Eva griff nach der Klopapierrolle, riss einige Blätter ab und wischte das Herz weg. Dann erst öffnete sie die Tür.

«Wie siehst du denn aus?«, fragte Berthold.

Eva fiel zum ersten Mal auf, dass er wie ihr Vater sprach.

«Gefallt es dir nicht?«

«Nein. Du siehst aus wie ein Zirkuspferd.«

Eva lachte.»Mir gefällt es. Mir gefällt es sogar sehr gut.«

«Warte nur, bis Papa dich so sieht.«

Aber der Vater sah sie nicht. Er schlief noch, hielt sein Samstagnachmittag-Schläfchen, machte sein Nickerchen, das meistens bis zur Sportschau dauerte.

«Gefällt es dir, Mama?«

Die Mutter zögerte.»Ganz anders siehst du aus«, sagte sie.»Ein bisschen wild.«

Eva nahm ihren blauen Regenmantel. Sie war froh über das schlechte Wetter, mit dem Mantel sah sie

nicht so dick aus.»Tschüss, Mama.«

«Viel Spaß, Kind. Und vergiss nicht, um zehn Uhr.«»Ja, ja«, sagte Eva und zog leise die Tür hinter sich

zu. Der Vater schlief.

Michel hatte sie erstaunt angesehen.»Siehst gut aus.«

Dann saßen sie in einem Cafe und tranken Cola. Eva mochte Cola eigentlich gar nicht so besonders. Michel hatte bestellt, ohne sie zu fragen.

«Normalerweise bin ich samstags immer im Freizeitheim«, sagte er. Er trug ein weißes Hemd, fast bis zum Nabel offen, und eine dunkelblaue Kordjacke. Richtig ordentlich sah er aus.

«Was macht ihr da, im Freizeitheim?«

«Alles Mögliche. Samstags tanzen wir meistens. Ein paar von den Jungen machen eine irre Musik. «Michel sah ganz stolz aus.»Einer von ihnen ist mein Freund. Er spielt E-Gitarre.«

«Grüß dich, Eva«, sagte jemand. Eva sah auf. Vor ihr stand Tine.

«Grüß dich«, sagte Eva.

Tine sah Michel neugierig an. Sie blieb einfach stehen und schaute Michel an. Der Junge neben ihr, ein schlaksiger, dünner mit langen, blonden Haaren, legte den Arm um sie und wollte sie weiterziehen.»Komm endlich. Ich habe Durst.«

Tine fragte:»Ist das dein Freund?«Aber sie schaute Eva nicht an dabei.

«Wenn du nichts dagegen hast«, antwortete Michel.

«Tschüss«, rief Tine und verschwand, von dem Langhaarigen gezogen, im hinteren Teil des Cafes.

«Wie die dich angesehen hat.«

«Wer war das?«

«Ein Mädchen aus meiner Klasse.«

«Genierst du dich nicht mit mir?«

Eva war verblüfft.»Wieso denn?«

«Na ja, weil ich ja nur in die Hauptschule geh, ich bin ja nichts Besonderes.«

Nichts Besonderes, dachte Eva. Die Hauptschule sieht man nicht, aber meinen dicken Hintern sieht jeder.

Laut sagte sie:»Du solltest das nicht so wichtig nehmen. Es ist doch eigentlich egal, in welche Schule jemand geht. Es sagt noch nicht einmal was darüber aus, wie intelligent man ist.«

«Das sagst du so«, antwortete Michel.»Ich bin noch nie mit einem Mädchen gegangen, das im Gymnasium ist. Ein bisschen komisch ist das schon.«

«Ist denn an mir was anders?«

«Viel.«

«Was denn?…

«Ich weiß nicht. Viel halt.«

Eva hätte gern gefragt:»Bin ich besser?«Sie hätte gern gewusst, genau gewusst, was Michel mit den anderen gemacht hatte. War er auch mit ihnen» am Fluss «gewesen? Aber die Fragen blieben in ihrem Bauch, die Angst davor, was er antworten könnte, schob die gedachten und vorgeformten Worte in ihren Bauch zurück, bevor sie noch den Mund aufmachen konnte.

Wieder war es still zwischen ihnen. Und wieder dachte Eva: Ist es das, was ich mir vorgestellt hatte, das, woran ich schon so oft gedacht habe? Und sie dachte: So ist das also zwischen Jungen und Mädchen, dass man nicht weiß, was man sagen soll, wenn man eigentlich so viel sagen möchte.

Sie bestellten sich noch eine Cola.

Später, im Kino, nahm Michel Evas Hand. Seine Hand war ein bisschen rauh und ein bisschen mager, ganz anders als Karolas.

Der Cowboy ritt durch die Prärie, ritt mitten hinein in einen roten Cinemascope-Technicolor-Sonnenunter-gang und Michel streichelte ihre Hand. Eva hielt ganz still. Sie hielt so still, dass sie fast nicht atmen konnte.

Michel hatte sie nach Hause gebracht, genau um zehn Uhr hatte sie die Wohnungstür aufgeschlossen.»Bist du das, Eva?«, hatte die Mutter aus dem Wohnzimmer gerufen.

«Ja, ich.«

Im Wohnzimmer sagte der Nachrichtensprecher:»Beim heutigen Nebeleinbruch haben auf Bayerns Straßen mindestens acht Menschen den Tod gefunden. «Stimmt, heute Morgen war es neblig gewesen.

Eva ging ins Badezimmer und riegelte hinter sich ab. Sie stützte sich mit den Händen auf das kalte Porzellan des Waschbeckens und schaute in den Spiegel. Sie betrachtete ihren Mund. Von der Schminke war nicht viel übrig, ein kleiner, verwischter Rest im Mundwinkel. Sie sah aus wie sonst. Sie wunderte sich darüber, dass er keine Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Er. Michel.

Sie nahm die Zahnbürste in die Hand, drückte Zahnpasta darauf, zögerte und spülte die Zahnpasta wieder ab. Heute nicht. Sie wollte die Erinnerung nicht wegwaschen.

Dann band sie sich die Haare wieder zusammen und ging ins Bett. Die Mutter, neugierig, verschwörensch, öffnete die Tür und fragte:»Na?«

«Schön war's«, antwortete Eva.»Aber ich bin jetzt müde. Ich will schlafen.«

Eva stieg die Treppe hinauf, unendlich viele Stufen hatte die Treppe. Oben stand Michel und schaute zu ihr herunter. Oder war es Karola? Karolas Körper mit Michels Gesicht? Als sie näher kam, die Beine schleppten schon, zerfiel Karola-Michel, zerfiel in kaleidoskopartige Stückchen. Eva schloss die Augen. Auf Händen und Füßen kroch sie weiter die Treppe hinauf. Endlich wagte sie, die Augen wieder zu öffnen. Dort oben stand Michel, viel weiter oben jetzt. Er hatte ihr den Rücken zugedreht.»Michel«, rief sie.»Michel!«Er drehte sich um.»Komm nicht«, sagte er mit einer ganz fremden Stimme.»Geh zurück oder ich werde dich erstechen. «Jetzt erst sah Eva, dass er in der Hand einen Säbel trug. Die Klinge blitzte, als er ihn langsam hochhob. Eva schrie, drehte sich um und wollte die Treppe hinunterlaufen. Aber vor ihr war nur ein Loch, ein gähnendes, graues, endloses Loch. Das gibt es doch nicht, dachte Eva. Eine Treppe kann doch nicht plötzlich weg sein. Da fiel sie in das Loch, ein endloses Fallen war das. Die Angst drückte ihr die Luft ab und erstickte ihren Schrei. Das Blut hämmerte in ihrem Kopf, und in dem Moment, als sie dachte, jetzt, jetzt schlage ich auf, jetzt werde ich sterben, jetzt, jetzt, in diesem Moment wachte sie auf, merkte, dass sie in ihrem Bett lag, und fing vor Erleichterung an zu weinen. Im Kühlschrank war noch eine Schüssel Pudding. Schokoladenpudding.

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