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Eva klingelte unten am Hauseingang, zweimal kurz. Das tat sie immer. Ihre Mutter drehte dann die Platte des Elektroherdes an, auf dem das Mittagessen zum Aufwärmen stand. Wenn Eva nach Hause kam, hatten ihre Mutter und ihr Bruder bereits gegessen. Berthold war erst zehn und ging noch in die Grundschule um die Ecke.

Diesmal war das Essen noch nicht fertig. Es gab Pfannkuchen mit Apfelmus und Pfannkuchen machte ihre Mutter immer frisch.»Schön knusprig müssen sie sein. Aufgewärmt sind sie wie Waschlappen.«

«Wo ist Berthold?«, fragte Eva, als sie sich an den Tisch setzte. Irgendetwas musste man ja sagen.

«Schon lang im Schwimmbad. Er hat hitzefrei.«

«Das müsste uns auch mal passieren«, sagte Eva.»Aber bei uns ist es ja angeblich kühl genug in den Räumen.«

Die Mutter hatte die Pfanne auf die Herdplatte gestellt. Es zischte laut, als sie einen Schöpflöffel Teig in das heiße, brutzelnde Fett goss.»Was hast du heute vor?«, fragte sie und wendete den Pfannkuchen. Eva löffelte sich Apfelmus in eine Glasschüssel und begann zu essen. Von dem Geruch des heißen Fettes wurde


ihr übel.»Ich mag keine Pfannkuchen, Mama«, sagte sie.

Die Mutter hielt einen Moment inne, stand da, den Bratenwender mit dem darüber hängenden Pfannkuchen in der Hand, und sah ihre Tochter erstaunt an.»Wieso? Bist du krank?«

«Nein. Ich mag heute nur keine Pfannkuchen.«

«Aber sonst isst du Pfannkuchen doch so gern.«

«Ich habe nicht gesagt, dass ich Pfannkuchen nicht gern esse. Ich habe gesagt, ich mag heute keinen.«

«Das versteh ich nicht. Wenn du sie doch sonst immer gern gegessen hast…!«

«Heute nicht.«

Die Mutter wurde böse.»Ich stell mich doch nicht bei dieser Hitze hin und koche und dann willst du nichts essen. «Klatsch! Der Pfannkuchen lag auf Evas Teller.»Dabei habe ich extra auf dich gewartet. «Die Mutter ließ wieder Teig in die Pfanne laufen.»Eigentlich wollte ich schon um zwei bei Tante Renate sein.«

«Warum bist du nicht gegangen? Ich bin doch kein kleines Kind mehr.«

Die Mutter wendete den nächsten Pfannkuchen.»Das sagst du so. Und wenn ich nicht aufpasse, kriegst du nichts Gescheites in den Magen.«

Mechanisch bedeckte Eva den Pfannkuchen mit Apfelmus. Da war auch schon der Zweite.»Aber jetzt langt es, Mama«, bat Eva.

Die Mutter hatte die Pfanne vom Herd genommen und zog sich eine frische Bluse an.»Ich habe im Kaufhof einen schönen karierten Stoff gefunden, ganz billig, sechs Mark achtzig der Meter. Renate hat mir versprochen, dass sie mir ein Sommerkleid macht.«

«Du kannst doch selbst schon so gut nähen«, sagte Eva.»Wozu musst du immer noch zur Schmidhuber?«

«Sag nicht immer >die Schmidhuber<. Sag >Tante Renaten«

«Sie ist nicht meine Tante.«

«Aber sie ist meine Freundin. Und sie mag dich. Sie hat schon viele schöne Sachen für dich gemacht.«

Das stimmte. Sie nähte immer wieder Kleider und Röcke für Eva, und sie konnte ja nichts dafür, dass Eva in diesen Kleidern unmöglich aussah. Eva sah in allen Kleidern unmöglich aus.

«Was machst du heute Nachmittag?«, fragte die Mutter.

«Ich weiß noch nicht. Hausaufgaben.«

«Du kannst doch nicht immer nur lernen, Kind. Du musst doch auch mal deinen Spaß haben. In deinem Alter war ich schon längst mit Jungen verabredet.«

«Mama, bitte, verschon mich.«

«Ich meine es doch nur gut mit dir. Fünfzehn Jahre alt und sitzt zu Hause rum wie ein Trauerkloß.«

Eva stöhnte laut.

«Gut, gut. Ich weiß ja, dass du dir von mir nichts sagen lässt. Möchtest du vielleicht einmal ins Kino gehen? Soll ich dir Geld geben?«Die Mutter öffnete das Portemonnaie und legte zwei Fünfmarkstücke auf den Tisch.»Das brauchst du mir nicht zurückzugeben.«

«Danke, Mama.«

«Ich gehe jetzt. Vor sechs komme ich nicht zurück.«

Eva nickte, aber die Mutter sah es schon nicht mehr, die Wohnungstür war hinter ihr zugefallen.

Eva atmete auf. Die Mutter und ihre Schmidhuber! Eva konnte die Schmidhuber nicht ausstehen. >Tante RenateTante Re-nate< sagte und sich über den Kopf streicheln ließ.»Sie mag Kinder so gern. Es ist ihr größter Kummer, dass sie selbst keine bekommen kann«, hatte die Mutter gesagt. Von dem Kummer merkt man aber nicht viel, hatte Eva gedacht.

«Na, Eva, was macht die Schule? Hast du schon einen Freund?«Hihi-Gekicher in dem runden Gesicht, volle, rot gemalte Lippen über weißen Zähnen und runde Arme, die sich um Eva legen wollten. Und ein tiefer Ausschnitt, der den Schatten zwischen den hochgeschnürten Brüsten sehen ließ.»Man kann ruhig zeigen, was man hat, nicht wahr, Marianne?«Und Evas Mutter hatte beifällig genickt. Sie nickte immer beifällig, wenn die Schmidhuber etwas sagte. Eva fand, dass die Hälfte der Menschheit mit einem Busen herumlief und dass es keinen Grund gab, sich darauf was einzubilden und ihn besonders zur Schau zu stellen.

Eva ging in ihr Zimmer. Sie legte eine Kassette von Leonard Cohen ein und drehte den Lautsprecher auf volle Stärke. Das konnte sie nur machen, wenn ihre Mutter nicht da war. Sie legte sich auf ihr Bett. Die tiefe, heisere Stimme erfüllte mit ihren trägen Liedern das Zimmer und vibrierte auf Evas Haut.

Sie öffnete die Nachttischschublade. Es stimmte, da war wirklich noch eine Tafel Schokolade. Sie ließ sich wieder auf das Bett fallen und wickelte mit behutsamen Bewegungen die Schokolade aus dem Silberpapier. Es war ein Glück, dass ihr Zimmer nach Osten lag. Die Schokolade war weich, aber nicht geschmolzen. Sie brach einen Riegel ab, teilte ihn noch einmal und schob sich die beiden Stückchen m den Mund. Zartbitter! Zart-zärtlich, bitter-bitterlich. Zärtlich streicheln, bitterlich weinen. Eva steckte schnell noch ein Stück in den Mund und streckte sich aus. Die Arme unter dem Nacken verschränkt, das rechte Knie angezogen und den linken Unterschenkel quer darüber gelegt, lag sie da und betrachtete ihren nackten linken Fuß. Wie zierlich er doch war im Vergleich zu ihren unförmigen Waden und Oberschenkeln. Sie ließ den Fuß leicht auf- und abwippen und bewunderte die Form der Zehennägel. Halbmondförmig, dachte sie.

Ihre Mutter hatte dicke Ballen an den Füßen, breite Plattfüße hatte sie, richtig hässliche Füße, mit nach der Mitte eingebogenen Zehen. Eva ekelte sich vor den Füßen ihrer Mutter, vor allem im Sommer, wenn die Mutter Riemensandalen trug und die rötlich verfärbten Beulen seitlich zwischen den schmalen Lederriemchen herausquollen.

Eva griff wieder nach der Schokolade. Leonard Cohen sang:»She was takmg her body so brave und so free, if I am to remember, it's a fine memory. «Automatisch übersetzte sie in Gedanken: Sie trug ihren Körper so tapfer und frei, wenn ich mich erinnern soll: Es ist eine schöne Erinnerung.

Der Geschmack der Schokolade wurde bitter in ihrem Mund. Nicht zartbitter, sondern unangenehm bitter. Herb. Brennend. Schnell schluckte sie sie hinuner. Ich dürfte keine Schokolade essen. Ich bin sowieso viel zu fett. Sie nahm sich vor, zum Abendessen nichts zu essen, außer vielleicht einem kleinen Joghurt. Aber der bittere Geschmack in ihrem Mund blieb.»She was ta-king her body so brave and so free!«Sie, die Frau, von der Leonard Cohen sang, hatte sicher einen schönen Körper, so wie Babsi, einen mit kleinen Brüsten und schmalen Schenkeln. Aber wieso nannte er sie dann tapfer? Als ob es tapfer wäre, sich zu zeigen, wenn man schön war!

«Du bist wirklich zu dick«, hatte die Mutter neulich wieder gesagt.»Wenn du so weitermachst, passt du bald nicht mehr in normale Größen.«

Der Vater hatte gegrinst.»Lass nur«, hatte er gesagt,»es gibt Männer, die haben ganz gern was in der Hand. «Dazu hatte er eine anzügliche Handbewegung gemacht.

Eva war rot geworden und aufgestanden.

«Aber Fritz«, hatte die Mutter gesagt,»mach doch nicht immer solche Bemerkungen vor dem Kind.«

Das» Kind «hatte wütend die Tür hinter sich zugeknallt.

Die Mutter war ihr in das Zimmer nachgekommen.»Sei doch nicht immer so empfindlich, Eva. Der Vater meint das doch nicht so.«

Aber Eva hatte ihr nicht geantwortet. Sie hatte wortlos und demonstrativ ihre Schulsachen auf dem Schreibtisch ausgebreitet. Die Mutter hatte noch eine Weile unschlüssig an der Tür herumgestanden und war dann gegangen.

Männer haben ganz gern was in der Hand, dachte Eva böse. Als ob ich dazu da wäre, damit irgendein Mann was in der Hand hat.

Sie machte den Kassettenrecorder aus. Leonard Co-hens Stimme verstummte.

Eva war unruhig. Sie stand unschlüssig in ihrem Zimmer und blickte sich um. Lesen? Nein. Aufgaben machen? Nein. Klavier spielen? Nein. Was blieb eigentlich noch? Spazieren gehen. Bei der Hitze! Vielleicht doch noch schwimmen? Das war bei diesem Wetter keine schlechte Idee. Trotzdem war sie noch unentschlossen. Einerseits war das Wasser schon verlockend, aber andrerseits genierte sie sich immer im Badeanzug. Einen Bikini trug sie nie.

Im Mai hatte sie sich einen Badeanzug gekauft, einen ganz teuren. Vater hatte eine Gehaltserhöhung bekommen. Vergnügt hatte er seine Brieftasche herausgezogen, schweinsledern, naturfarben, ein Weihnachtsgeschenk von der Oma, und Eva einen Hunderter in die Hand gedrückt.»Da, kauf dir was Schönes.«

«Einen Badeanzug«, hatte die Mutter gesagt.»Du brauchtest einen Badeanzug.«

Eva stand am nächsten Tag in der Kabine, ganz dicht vor dem Spiegel, und hätte am liebsten vor Verzweiflung geheult. She was taking her body so brave and so free. Eva hatte Angst gehabt, die Verkäuferin könnte den Vorhang zur Seite schieben und sie so sehen.

«Passt Ihnen der Anzug oder soll ich ihn eine Nummer größer bringen?«

Es war eine peinliche Erinnerung. Auch jetzt noch, in der Erinnerung, fühlte Eva die Scham und ihre eigene Unbeholfenheit.

«Scheiße«, sagte sie laut in ihr Zimmer.

Sie packte ihr Badezeug und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Türenschmeißen, das tat sie gern, das war eigentlich das Einzige, das sie tat, wenn sie sauer war. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Schreien? Wenn man schon wie ein Trampel aussah, sollte man nichts tun, um aufzufallen. Im Gegenteil.

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