Eva starrte aus dem Klassenfenster. Ihre Augen brannten. Sie fühlte die Tränen hinter ihren Augen, in den Höhlen fühlte sie den Druck der Tränen. Sie erhob sich und ging zum Lehrertisch.»Kann ich bitte an die frische Luft gehen, mir ist schlecht.«
Frau Wittrock nickte.»Natürlich, Eva.«
Eva ging wie auf Watte, aus dem Klassenzimmer hinaus, die Treppe hinunter zum Klo. Sie beugte sich tief über die Kloschüssel, stützte sich mit den Händen auf der Brille ab und erbrach den Käse und die Sardinen in Dillsoße, den Rest Grießauflauf und die beiden Früchte Joghurts, die sie in der Nacht gegessen hatte, als sie verschwitzt und dreckig aufgewacht war, noch in Rock und Bluse, die ihr am feuchten Körper klebten. Sie erbrach, bis nur noch gelbliche, bittere Flüssigkeit kam. Sie lehnte sich an die Wand und wischte sich die Schweißtropfen aus dem Gesicht und die Tränen.
Franzlska führte sie zum Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf.»Frau Wittrock hat gesagt, dass ich mit dir gehen könnte.«
Eva hielt ihr Gesicht unter das kalte Wasser, ließ es über die heißen Augen laufen und spülte sich den Mund aus. Es ging ihr viel besser.»Ich muss etwas Falsches gegessen haben«, sagte sie.»letzt ist es vorbei.«
Franziska nahm ein Papierhandtuch, machte es nass und bückte sich.»Du hast ein paar Flecken am Rock.«
Dann saßen sie unter einem Baum und tranken Tee aus Pappbechern, den Franziska aus dem Automaten geholt hatte.
«Wie lange darfst du abends wegbleiben?«, fragte Eva.
«Kommt drauf an. Eigentlich solange ich will.«
«Mein Vater hat mir gestern eine Ohrfeige gegeben, weil ich um halb zehn nach Hause gekommen bin.«
«Halb zehn ist doch nicht so spät.«
«Ich hatte nicht gesagt, dass ich später komme.«
«Na ja«, sagte Franziska,»wenn ich später komme, muss ich auch anrufen. «Und dann fragte sie:»Schlägt dich dein Vater oft?«
«Nein«, antwortete Eva.»Das letzte Mal hat er mir eine runtergehauen, als ich gesagt habe, die Oma sei eine alte Hexe.«
«Ist sie das?«
Eva schüttelte den Kopf.»Das nicht. Aber dumm ist sie.«
«Meine Eltern haben mich noch nie geschlagen«, sagte Franziska.»Auch nicht, als ich klein war.«
«Früher, als Kind, habe ich öfter eine Ohrfeige bekommen. Aber nur von meinem Vater. Und mein Bruder kriegt auch heute noch oft etwas ab.«
«Und deine Mutter? Was sagt die dazu?«
Eva lachte.
«Sie leidet mit uns. Für jede Ohrfeige gibt es mindestens eine heimliche Tafel Schokolade.«
«Gehst du oft weg abends?«
«Nein, ich war gestern das erste Mal tanzen. Und du?«
«Ich auch nicht. Ich kenne immer noch kaum Leute hier.«
Eva verzog das Gesicht.»Ich bin hier geboren und kenne trotzdem kaum jemanden. «Dann stand sie auf und klopfte sich den Staub aus dem Rock.»Sehe ich wieder ordentlich aus?«
«Ja«, antwortete Franziska.»Deine Haare sind viel schöner, wenn sie offen sind. Du hast wirklich tolle Haare.«
Eva schaute schnell zur Seite.»Komm, gehen wir wieder rauf.«
Eva lernte gerade: affligere, affligo, afflixi, afflictum, als Berthold ihre Tür öffnete.»Der Papa ist am Telefon«, sagte er.»Für dich.«
Eva ging ins Wohnzimmer und nahm den Hörer.
«Eva?«, fragte der Vater.
«Ja.«
«Ich bin zu der Telefonzelle an der Ecke gegangen, weil ich mit dir sprechen wollte.«
«Ja«, sagte Eva.
«Ich hatte gestern wirklich Angst, dass dir etwas passiert ist.«
Eva schwieg. Aus der Küche drang das Klappern von Geschirr.
«Eva«, sagte der Vater.»Die Ohrfeige gestern, die hätte ich dir nicht geben sollen.«
Eva presste den Hörer fest an ihr Ohr.»Ich hätte ja auch anrufen können«, sagte sie.
«Ja, hättest du.«
«Aber das ging nicht. Ich war in einer Diskothek tanzen. Das erste Mal.«
«War es schön?«
«Ja. Sehr.«
«Ich muss zurück ins Büro«, sagte der Vater.»Also, das nächste Mal rufst du an, ja? Bis später.«
«Bis später, Papa.«
Eva ging in die Küche.»Mama, soll ich für dich einkaufen gehen?«
Sie musste über das erstaunte Gesicht der Mutter lachen. Und sie lachte auch noch, als sie den schweren Einkaufskorb nach Hause trug. Sie fühlte sich so leicht, so schwebend, sie wurde nur durch das Gewicht der Kartoffeln, der Äpfel und des Mehls auf der Erde gehalten.»So schlimm ist er nicht, mein Vater. Das soll ihm erst mal einer nachmachen, extra zur Telefonzelle gehen und anrufen!«
Sie beschloss, abends von dem Sommerfest im Freizeitheim zu erzählen. Sie wollte unbedingt hingehen.
Vielleicht würde er es erlauben, heute, wo er so sanft war.
Eva hatte zum Abendessen fast nichts gegessen vor Aufregung. Der Vater war zwar sehr freundlich gewesen, als er von der Arbeit gekommen war, hatte seinen Rundgang, den Kontrollgang, schnell und ohne v Meckern hinter sich gebracht, aber man konnte nie wissen!
«Bis zehn geht es am Samstag im Freizeitheim«, sagte Eva.»Und dann muss ich noch heimfahren. Vor elf kann ich nicht zurück sein.«
«Kommt nicht in Frage, dass du so spät allein durch die Gegend fährst.«
«Aber Fritz, bald sechzehn ist sie schon.«
«Ich bin kein kleines Kind mehr«, sagte Eva.
«Das weiß ich. Das habe ich in der letzten Zeit schon öfter hören müssen. Aber ich lasse meine Tochter nicht abends allein durch die Stadt fahren. Ich hole dich ab.«
«Um Gottes willen, Papa! Wie sieht denn das aus? Was sagen denn da die anderen, wenn du mich abholst wie ein kleines Mädchen vom Kindergeburtstag!«
«Kein Wort mehr. Entweder ich hole dich ab oder du bleibst zu Hause. Was anderes kommt nicht in Frage. Lest ihr denn überhaupt keine Zeitung? Jeden Tag Mord und Totschlag. Und Vergewaltigungen.«
Eva heulte fast vor Wut.
«Fritz«, sagte die Mutter.»Man muss seinen Kindern auch Freiheit geben. Das steht in jeder Zeitung drin. In allen Illustrierten kannst du das lesen. Und die Leute, die das schreiben, verstehen was davon.«
«Du glaubst auch alles«, sagte der Vater böse.»Wie ich meine Kinder erziehe, lasse ich mir von niemand vorschreiben. Ich weiß selbst am besten, was gut ist für sie.«
«Aber Eva ist ein vernünftiges, anständiges Mädchen. Sie hat noch nie eine Dummheit gemacht.«
«Und das soll auch so bleiben. «Der Vater ging in das Wohnzimmer und gleich darauf hörte man die Stimme des Nachrichtensprechers.
«Gute Nacht«, sagte Berthold, der die ganze Zeit schweigend dabeigesessen hatte.
Die Mutter wandte sich dem Abwasch zu.»Dass es immer Krach geben muss.«
Eva verließ die Küche und knallte die Tür hinter sich zu.
Sie saß in ihrem Zimmer und malte wütend große, schwarze Striche auf ein Blatt Papier. Die Mutter kam mit einem Tablett herein.»Ich habe dir was zu essen gemacht. Du kannst doch nicht ohne Essen schlafen gehen.«
Auf dem Tablett stand neben Brot und Butter eine geöffnete Blechdose mit Lachs, zartrosa, ölglänzend.
«Echter«, sagte die Mutter.»Ich hatte ihn eigentlich für Papas Geburtstag gekauft. Aber jetzt bekommst du ihn. «Die Mutter griff in ihre Schürzentasche.»Hier ist auch noch eine Tafel Schokolade.«
Sie stellte das Tablett auf Evas Nachttisch.»Lass dich halt von ihm abholen«, sagte sie.»So schlimm ist das doch nicht.«
Eva schüttelte den Kopf.»Nein.«
«Ach Gott«, sagte die Mutter,»den Dickkopf hast du von ihm. «Sie legte die Hand auf die Klinke.»Ich muss jetzt rüber, sonst wird er böse.«
Eva legte eine Kassette ein, Simon und Garfunkel, Bridge over troubled water, rollte ihre Zudecke als Rückenstütze zusammen und stellte das Tablett neben sich auf das Bett. Dann fing sie an, sich ein Brot zu schmieren.
Echter Lachs ist zu schade für Brot, dachte sie. Viel zu schade. Ich werde ihn nachher so essen.
Sie schmierte die Butter sehr dick. Butter, ganz kalt aus dem Kühlschrank, auf weichem Brot, das war etwas Gutes. Sie aß zuerst rundherum die Rinde ab, dann machte sie sich an das weiche Innenstück. Sorgfältig schob sie vor dem Abbeißen die Butter mit den Zähnen nach hinten, bis sie nur noch ein kleines rundes Stück übrig hatte, mit einem zahnspurigen Butterwall drum herum. Sie betrachtete es lange, bevor sie es in den Mund steckte. When evening falls so hard, I will comfort you. Vll take your pari. Die Männerstimme klang sanft, weich, einschmeichelnd. Eva kaute. Wenn ich achtzehn bin, dachte sie, dann ziehe ich aus. Noch zwei Jahre und drei Monate. Und wenn ich von Was-ser und Brot leben muss! Sie strich Butter auf die zweite Scheibe. Ein Zimmer würde sie haben, nur ein ganz kleines natürlich. Und sie würde Nachhilfestun- den geben, um die Miete bezahlen zu können. Zwanzig Mark würde sie sicher für die Stunde bekommen. Mathe und Englisch konnte sie gut genug und auch in Französisch würde es für die Unterklassen reichen. Viel Geld würde sie nicht haben, natürlich nicht. Aber niemand würde ihr Vorschriften machen. Freiheit. Sie schob sich eine Scheibe Lachs in den Mund. Freiheit. Ein Wort, das wild und schön in ihren Ohren klang, wie Abenteuer und große, weite Welt. Wie zart der Lachs doch war. Er zerging einem ja richtig auf der Zunge. Echter Lachs! Geschieht dir ganz recht, dachte sie, als sie die zweite Scheibe langsam im Mund hin-und herschob. Geschieht dir ganz recht, dass ich ihn jetzt esse. Franziska darf abends so lange wegbleiben, wie sie will.
Vor der letzten Scheibe Lachs drehte sie die Kassette um. Es war zehn Uhr. Die Eltern gingen ins Bett. Sie hörte die Wasserspülung im Badezimmer. Automatisch drehte sie den Recorder leiser.»Gute Nacht«, rief die Mutter durch die Tür.»Gute Nacht, Eva.«
Eva antwortete nicht. Freiheit! Noch zwei Jahre, drei Monate und fünf Tage!
Sie nahm ein leeres Heft, ein Rechenheft, und schrieb auf die erste Seite ganz oben: Dienstag, L Juli, und darunter: Mittwoch, 2. Juli, dann Donnerstag, 3. Juli, dann den vierten und immer weiter. Nach fünf Seiten hörte sie auf. Sie war erst beim achten September. Morgen würde sie weitermachen oder übermorgen. Und jeden Tag würde sie einen Tag durchstreichen, wie bei einem langen Adventskalender. Der Gedanke gefiel ihr. Sie fing an, neben die Zahlen kleine Bildchen zu machen. Einen Stier neben den ersten Juli, einen schwarzen Stier mit erhobenem Schwanz und Dampfwölkchen aus den Nüstern. Einen runterhängenden großen Penis malte sie ihm noch hin. Das hatte sie mal gesehen, als sie bei Tante Irmgard zu Besuch war. Doch dann radierte sie ihn schnell wieder weg.
Morgen musste sie zur Schmidhuber, die würde ihr noch ein neues Kleid nähen für Samstag.»Ein Sommerkleid ist ja schnell gemacht«, hatte die Mutter gesagt.»Wir gehen gleich nach dem Essen zum Kaufhof wegen Stoff. «Eva malte ein Sommerkleid neben den zweiten Juli. Übermorgen würde sie Michel treffen, um drei am Brunnen. Sie zeichnete ein Herz, suchte ihre Filzstifte und malte es rot an. Außen herum schrieb sie ganz klein: Amo te, ama nie! Ich liebe dich, liebe mich! Das stand auf einem Ring, den man bei einer Ausgrabung gefunden hatte, hatte der Lateinlehrer erzählt. Und neben den Samstag setzte sie auch ein rotes Herz. Sie würde hingehen, und wenn sie ausreißen müsste. Entschlossen klappte sie das Heft zu und steckte es in ihren Ranzen.
Im Bett dachte sie noch einmal: Zwei Jahre, drei Monate und fünf Tage. Sie sagte das Wort:»Freiheit«, und ließ es mit einem Stück Schokolade auf ihrer Zunge zergehen.
Freiheit. Freiheit!