Eva öffnete die Wohnungstür.
«Eva?«, rief die Mutter aus der Küche.
«Ja.«
Die Mutter kam heraus und trocknete sich die Hände an der Schürze ab.»Da bist du ja endlich. Wo hast du nur so lange gesteckt? Wir haben schon gegessen. Der Papa ist böse. Du weißt doch, dass wir alle um halb sieben da sein sollen.«
«Damit er was zum Kommandieren hat.«
«Sei nicht frech.«
Eva zuckte mit den Schultern, zuckte die Mutter weg, das Nörgeln, hätte Watte in den Ohren haben mögen, nichts mehr hören, Mutter in der hellblauen Schürze, mit den Wasserflecken darauf, Mutter, die sie mit großen Augen ansah, porzellanblauen, waschblauen, verwaschenen Augen. Michels Schwester hatte mit sechzehn geheiratet.»Ich bin kein kleines Kind mehr«, sagte Eva.
Das sagte sie auch zu ihrem Vater, der schon vor dem Fernsehapparat saß, tief in den Sessel gerutscht, die Füße auf einem Stuhl, neben sich auf dem Couchtisch Zigaretten und Aschenbecher.
«Ich bin kein kleines Kind mehr«, sagte sie.
Der Vater schaute sie misstrauisch an.»Wo warst du denn?«
«Spazieren am Fluss.«
«Allein?«
Eva zögerte.»Mit einer Freundin«, sagte sie.
«Das nächste Mal bist du um sieben zurück, verstanden?«
Eva biss in einen Apfel.»Ja«, antwortete sie mürrisch.»Andere aus meiner Klasse dürfen heimkommen, wann sie wollen.«
«Das kann schon sein. Aber bei uns ist das anders. Ich will nicht, dass du dich abends irgendwo rumtreibst. Solange du zu Hause bist und ich die Verantwortung habe, richtest du dich nach dem, was ich sage.«
Eva biss wieder in den Apfel und ließ sich auf den freien Sessel fallen.»Was gibt's im Fernsehen?«
Wetten, dass…
Eva ging in ihr Zimmer. Sie konnte lange nicht einschlafen an diesem Abend. Es war sehr schwül.
Am nächsten Morgen in der Pause sagte Eva zu Fran-ziska:»Das tut mir Leid, das mit dem Englisch-Test gestern.«
«Nicht so schlimm, meine Note kann es nicht versauen.«
«Ich habe es nicht wegen dir nicht weitergegeben.«
«Ich weiß.«
«Was weißt du?«
«Karola hat gesagt, du wärst immer noch eifersüchtig, weil Lena ihre Freundin ist.«
Eva taten die Finger weh, so fest presste sie das Buch.»So toll ist sie ja nun auch wieder nicht, dass ich ihr so lange nachweinen würde.«
Sie schlug ihr Buch auf und fing an zu lesen. Fran-ziska blieb neben ihr auf dem Sockel des Zaunes sitzen.»Warst du sehr sauer damals?«
War sie sauer gewesen? Nein, nicht sauer. Sauer war nicht das richtige Wort. Enttäuscht war sie gewesen, verletzt, traurig. Eine Art trauriges Staunen hatte sie empfunden, dass es so etwas gab, dass es ihr passieren musste, dass sie plötzlich dastand mit ihren Gefühlen für Karola und dass Karola diese Gefühle nicht mehr brauchte. Nein, sauer war sie nicht gewesen. Traurig war sie gewesen und es hatte sehr wehgetan.
Aber das ging niemand etwas an, am wenigsten Franziska. Eva merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie senkte den Kopf. Doch Franziska hatte es schon gesehen. Sie legte ihr den Arm um die Schulter. Am liebsten hätte Eva den Arm abgeschüttelt, aber sie traute sich nicht. So saßen sie, bis das Klingelzeichen ertönte.
An diesem Mittag aß Eva Krabbensalat im Park.
Abends, im Bett, dachte Eva wieder daran, an Franzis-kas Arm auf ihrer Schulter, an die Hand, die ihr über den Oberarm gestreichelt hatte, sie dachte an Michel, der seine Hand auf ihre Brust gelegt hatte. Sie dachte an Erika und Karola, vor allem an Karola. Und da musste sie wieder weinen. Sie vergrub ihren Kopf in das Kissen und biss sich auf die Lippen, um nicht laut zu schreien.
Ihr Gesicht im Kissen war heiß, sie legte sich auf die Seite, drehte das Kissen, um eine kühle Stelle für ihre heiße Backe zu finden.
Ich leide, dachte sie. So ist leiden und eigentlich sollte ich froh sein. Ich habe Michel kennen gelernt und Franziska sitzt neben mir. Warum leide ich? Das andere ist schon so lange her, warum kann ich es nicht vergessen?
Langsam wurden ihre Schluchzer leiser, sanfter, der Druck auf ihrem Bauch ließ nach, fast tröstlich war das Weinen jetzt.
Eva schlief ein.
Als sie aufwachte, war es lange nach Mitternacht. Sie knipste die Nachttischlampe an. Sie fühlte sich verschwitzt und pappig und sehr traurig. Es war immer noch ziemlich heiß in ihrem Zimmer. Natürlich, sie hatte vergessen, das Fenster aufzumachen. Deshalb war es auch so stickig hier. Sie öffnete vorsichtig das Fenster. Es klemmte immer ein bisschen. Sie erschrak bei dem knarzenden Geräusch, das sehr laut klang in der Stille der Nacht.
Sie atmete tief durch. Die Luft war lau und die Sterne standen sehr hoch am Himmel. Hinter den Dächern kroch schon der hellgraue Schimmer der Morgendämmerung.
Was für ein Sommer, dachte Eva.
Im Haus gegenüber war noch Licht, im ersten Stock, in der Wohnung der alten Grabers. Sie lebten mit ihrer auch schon ältlichen Tochter zusammen, die man fast nie sah. Morgens huschte sie zur Arbeit und kam gegen fünf zurück, mit Einkaufstüten in beiden Händen. Die alten Grabers saßen immer, wenn es das Wetter erlaubte, auf dem Balkon und schauten hinunter auf die Straße. Eva war schon oft aufgefallen, dass sie kaum miteinander redeten. Fast unbeweglich saßen sie da und starrten hinunter. Im letzten Sommer hatte der alte Graber einen Schlaganfall gehabt. Er war vom Notarzt mit Blaulicht und Sirene in die Klinik gefahren worden. Viele Wochen lang saß die alte Frau allein auf dem Balkon. Beim Einkaufen, als Eva darauf wartete, dass die Metzgersfrau ihr das Gulasch schnitt, hatte sie eine Frau sagen hören:»Die Grabers können froh sein, dass sie eine so gute Tochter haben. Wo gibt es denn so etwas noch, heutzutage!«
Michels Schwester hatte mit sechzehn Jahren heiraten müssen!
Eva überlegte, wer von den Grabers wohl noch wach war um diese Zeit. Die» gute Tochter«? Oder ging es dem alten Graber wieder schlecht? In diesem Moment ging das Licht aus. Wahrscheinlich war nur einer auf dem Klo gewesen oder hatte sich eine Kleinigkeit zu essen gemacht.
Eva war sehr hungrig. Sie schlich sich in die Küche. Gerade als sie sich bequem hingesetzt hatte und einen Joghurt löffelte, ging hinter ihr die Küchentür auf. Erschrocken fuhr sie herum. Es war ihre Mutter. Sie sah etwas verquollen aus, blinzelte im hellen Licht und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.
«Ich habe dich gehört, und weil ich nicht schlafen konnte, dachte ich, wir könnten vielleicht eine Tasse Tee miteinander trinken.«
Eva nickte. Die Mutter ließ den Wasserkessel voll laufen und stellte ihn auf die Herdplatte.»Hast du Hunger? Soll ich dir ein Spiegelei machen?«
«Ja, bitte.«
Die Mutter hantierte schnell und geschickt am Herd. Wie anders sie nachts aussah. So gefällt sie mir eigentlich viel besser, überlegte Eva.
Dann stand der Teller mit dem Spiegelei vor ihr, weiß, mit gelbem Dotter, fast orangefarben war der Dotter, die Mutter streute immer noch etwas roten Paprika drauf,»für's Auge, das Auge isst mit«, und um den knusprigen Rand herum floss die braune Butter.
«Hier, Eva, nimm noch ein Stück Weißbrot.«
Eva fing an zu essen. Die Mutter stellte noch die Teekanne und zwei Tassen auf den Tisch. Über die Gabel mit Ei hinweg, die sie gerade zum Mund führte, lächelte Eva sie an. Die Mutter lächelte unsicher zurück.
Sie saßen da und schauten sich an. In diesem Moment ging die Tür auf. Eva drehte sich um. Ihr Vater stand da, mit wirren Haaren, die Schlafanzugjacke war nicht ganz zugeknöpft und ließ einen Teil seiner haarigen Brust frei. Eva drehte ihm schnell wieder den Rücken zu.
«Was macht ihr denn da?«
«Wir konnten nicht schlafen. «Die Mutter schaute zum Vater hin. Ihr Gesicht war ausdruckslos.
«Ist gut«, murmelte der Vater.»Aber komm bald wieder ins Bett. «Die Tür klappte zu.
Eva wartete eine Weile. Dann sagte sie:»Ich war mit einem Jungen am Fluss.«
«Das habe ich mir gedacht, weil du noch nie so lange weg warst. Ist es ein netter Junge?«
«Ja, er ist sehr nett.«
«Der Papa meint, ich sollte mal mit dir reden, dich vor den Männern warnen.«
«Aufzuklären brauchst du mich nicht mehr. Ich weiß das alles.«
Die Mutter wurde rot.»So habe ich das nicht gemeint. Aber die Jungen sind manchmal aufdringlich, und ein Mädchen, das was auf sich hält…«
«Mama, ich weiß, was ich zu tun habe.«
«Na ja«, die Mutter seufzte.»Ich habe ja auch dem Papa gesagt, jeder muss seine Erfahrungen selbst machen. Ich habe auch nicht auf meine Mutter gehört, damals, habe ich gesagt.«
Eva lachte.»Ich glaube, du bist müde. Du fängst schon an zu reden wie die Oma.«
«Da ist aber was dran, glaub mir das. Ich habe mir auch alles anders vorgestellt. «Die Mutter sah traurig aus.
«Du solltest dir eine Stelle suchen oder sonst irgendwas, damit du mal hier aus dem Haus herauskommst und nicht nur zur Schmidhuber.«
«Und der Haushalt? Du weißt doch, wie dein Vater ist.«
«Papa ist nur so, weil du dir alles gefallen lässt.«
Die Mutter antwortete nicht. Als die Tassen leer waren, räumte sie den Tisch ab. Eva stand auf. Die Mutter legte den Arm um sie.»Gute Nacht, mein Mädchen, schlaf gut!«
Eva drückte sich an sie. Die Mutter streichelte ihr über den Rücken und die Haare.
«Gute Nacht, Mama.«