Verzierungen

Am Sonntagmittag entdeckte das kleine Gespenst auf dem Weg durch die unterirdischen Gänge einen neuen Ausstieg. Wie alle Ausgänge aus dem Höhlengewirr war er mit einem starken, fest in die Felswände eingemauerten Gitter versperrt. Nur daß sich hier wenige Schritte hinter dem ersten Gitter ein zweites und hinter dem zweiten ein drittes befand. Dann kam eine Stahltür mit einem Sicherheitsschloß.

„Was bedeutet das?" dachte das kleine Gespenst.

Das Sicherheitsschloß zu öffnen, war eine Kleinigkeit. Ein Wink mit dem Schlüsselbund, und der Weg war frei. Er führte durch einen Kohlenkeller geradenwegs in das Rathaus des Städtchens Eulenberg!

Das kleine Gespenst machte große Augen, als es die Kellertreppe hinaufhuschte und sich plötzlich im Rathaus befand - im Rathaus mit seinen Gängen und Amtsstuben, mit der schönen alten Steintreppe und den bunten Glasfenstern im Stiegenhaus, die in der Mittagssonne leuchteten.

Wochentags herrschte im Rathaus von Eulenberg immer reges Leben. Beamte und Angestellte eilten von Tür zu Tür, der Ratsdiener schleppte Stöße von Akten umher, auf den Gängen warteten alle möglichen Leute in allen möglichen Angelegenheiten. Doch heute, am Sonntagmittag, war kein Mensch hier. Das kleine Gespenst konnte sich ungestört im ganzen Rathaus umsehen. Es öffnete alle Türen und blickte in alle Räume.

Dabei fiel ihm auf, daß in jedem Zimmer das gleiche Bild an der Wand klebte. Die Bilder zeigten in leuchtenden Farben - den schwedischen General Torsten Torstenson! Groß und breitspurig saß er auf seinem Apfelschimmel und schwenkte den Feldherrnstab in der rechten Hand. Sein grüner Reitermantel bauschte sich im Wind, die Federn an seinem Hut leuchteten mit dem roten Knebelbart um die Wette.

Unter das Bildnis des Generals war in großen Buchstaben etwas hingedruckt, was das kleine Gespenst nicht entziffern konnte. Es hatte ja niemals lesen und schreiben gelernt und konnte nicht ahnen, daß es sich bei den „Bildern" um Werbeplakate handelte, auf denen zu lesen stand:

„Was haben die bloß mit dem Torstenson, daß sie ihn überall hinkleben?" dachte das kleine Gespenst. „Hie und da mal ein Bild von ihm - meinetwegen. Aber in jedem Zimmer, auf jedem Gang und in jeder Nische im Treppenhaus? Das ist einfach zuviel!"

In den Räumen der Stadtkämmerei entdeckte das kleine Gespenst auf einem der Schreibtische einen schwarzen Filzstift. Im nächsten Augenblick wußte es, was es zu tun hatte.

Es lieh sich den Filzstift aus und malte dem General Torstenson auf dem Plakat in der Stadtkämmerei einen schwarzen Vollbart. Dann huschte es in das nächste Zimmer. Dort versah es das Bildnis des Generals mit einer mächtigen Gurkennase, auf der eine Warze prangte.

„Das bringt etwas Abwechslung in das ewige Einerlei!" kicherte es.

So schnell es sich machen ließ, eilte das kleine Gespenst von Plakat zu Plakat. Mit flinken Strichen malte es Torstenson hier ein Paar Eselsohren an den Kopf, dort eine schwarze Augenklappe, wie sie die Seeräuber tragen.

Die Sache machte ihm großen Spaß.

Immer neue Verzierungen ließ es sich einfallen: Bockshörner, riesige Glotzaugen, einen Spitzbauch, ein Hirschgeweih, eine qualmende Tabakspfeife, langes struppiges Borstenhaar, einen Ring durch die Nase und manches andere. Kein Wunder, daß es vor lauter Eifer vergaß, auf die Zeit zu achten.

Plötzlich, das kleine Gespenst befand sich gerade im Amtszimmer des Herrn Bürgermeisters, schlug es vom Rathausturm ein Uhr Mittag! Höchste Zeit für das kleine Gespenst, sich ein Plätzchen zu suchen, wo es die nächsten dreiundzwanzig Stunden verschlafen konnte, ohne gestört zu werden.

„Bis in den Geheimgang schaffe ich's ganz bestimmt nicht mehr", dachte es, „das ist viel zu weit. Ich merke schon, wie mir wieder schwindlig wird ..."

In einer Ecke der holzgetäfelten Amtsstube stand eine alte, mit kunstvollen Eisenbeschlägen versehene Ratstruhe. Darin hatte man früher wichtige Briefe und Rechnungen aufbewahrt. Aber jetzt war die Truhe leer, sie stand nur zum Schmuck des Raumes da.

„Das ist die Rettung!" dachte das kleine Gespenst.

Es schlüpfte mit letzter Kraft in die Truhe. Der Deckel schloß sich über ihm, und gleich darauf schlief es ein.

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