Wohin führt der Geheimgang?

Bisher hatte das kleine Gespenst gemeint, daß es ihm nur in der Eichentruhe möglich sei, richtig und fest zu schlafen. Aber nun stellte es sich heraus, daß das gar nicht stimmte. Auch auf dem feuchten Steinboden des Geheimganges ließ es sich prächtig schlummern - so prächtig, daß sich das kleine Gespenst beim Erwachen nur mühsam darauf besinnen konnte, wie es hierher geraten war.

Zwar hatte es diesmal das Läuten der Mitternachtsglocke nicht hören können, bis hier unten drang ja kein Laut aus der Oberwelt; dennoch war es davon überzeugt,

daß es zwölf Uhr nachts sei. Es fühlte sich herrlich ausgeschlafen wie immer, wenn es beim zwölften Mitternachtsglockenschlag in der Truhe erwacht war.

Das einzige, was es hier unten vermißte, waren die Spinnweben und der Staub.

„Zu dumm, daß mich nichts in der Nase kitzelt!" dachte es. „Wenn ich nach dem Erwachen nicht niesen kann, fehlt mir ganz einfach etwas."

Wie gestern beschlossen, wollte das kleine Gespenst durch den Brunnenschacht in die Burg zurückkehren. Aber als es daranging, die eiserne Tür zu öffnen, kam ihm ein neuer Gedanke:

„Wie wäre es, wenn ich dem Gang nach der anderen Seite folgte? Ich möchte herausbekommen, wohin er führt."

Das kleine Gespenst war begeistert von seinem neuen Plan. Es klemmte sich den Schlüsselbund unter den Arm und begann dem Geheimgang zu folgen. Da es im Dunkeln sehen konnte wie eine Katze, war das nicht weiter schwierig. Tiefer und immer tiefer schwebte es in den unterirdischen Gang hinein - bis es an eine Stelle kam, wo er sich gabelte.

Einen Augenblick lang stutzte das kleine Gespenst.

„Soll ich mich rechts halten oder links?" überlegte es. „Schwer zu sagen! Am besten, ich zähle es an den Schlüsseln ab: rechts . . . links . . , rechts . . . links . . . rechts . . . links ... "

Die Schlüssel entschieden für rechts. Also gut! Ohne Zögern schwebte das kleine Gespenst in den rechten Gang hinein. Feucht war es hier. Feucht und kalt. Von Zeit zu Zeit huschte ihm eine Ratte über den Weg. Oder waren es Mäuse? Blitzschnell tauchten sie aus der Finsternis auf, blitzschnell verschwanden sie wieder. Sie ließen dem kleinen Gespenst keine Zeit, sie zu fragen, wohin der Geheimgang führte.

„Irgendwo wird er schon enden", dachte das kleine Gespenst.

Bald kam es wieder an eine Gabelung. Der Einfachheit halber hielt es sich diesmal nach links. Dann teilte sich der Gang immer öfter und öfter. Dem kleinen Gespenst wurde klar, daß es in ein weitverzweigtes Netz von unterirdischen Gängen geraten war. Der ganze Eulenstein und seine Umgebung waren davon unterhöhlt.

„Wieviel Mühe mag es gekostet haben, die Gänge anzulegen!" dachte das kleine Gespenst. „Ich beneide die Leute nicht, die sie in den Felsen gehauen haben. Das muß eine elende Schufterei gewesen sein!"

An manchen Stellen waren die Gänge baufällig, dann mußte das kleine Gespenst über Berge von Schutt und Geröll hinweghuschen. Einmal kam es sogar an ein starkes Eisengitter, das rechts und links in den Felsen eingemauert war und den Gang versperrte, öffnen ließ sich das Gitter nicht. Aber wozu auch? Gespenster können sich ja ganz dünn machen, wenn es nottut. Es war für das kleine Gespenst ein Kinderspiel, zwischen den Gitterstäben hindurchzuschlüpfen.

Nach einigen weiteren Metern stellte es sich heraus, daß der Gang zu Ende war. Er mündete in ein schmales, senkrechtes Felsenloch, das oben mit einer eisernen Falltür verschlossen war.

„Wohin sie wohl führen mag?" überlegte das kleine Gespenst.

Ohne sich viel dabei zu denken, schwenkte es den Schlüsselbund mit den dreizehn Schlüsseln.

Da öffnete sich die Falltür und klappte nach oben. Herein schien - das grelle Tageslicht!

„Hoppla!" dachte das kleine Gespenst. „Ist draußen nicht Mitternacht?"

Es steckte den Kopf durch die Öffnung ins Freie und schaute sich um.

Das erste, was es erblickte, waren zwei blankgewichste schwarze Stiefel dicht vor seiner Nase. In den Stiefeln steckte ein Mann, der einen blauen Rock mit blanken Messingknöpfen trug. Er hatte lange weiße Handschuhe an. Auch die Mütze auf seinem Kopf war weiß.

Das kleine Gespenst hatte keine Ahnung, daß der Mann mit der weißen Mütze ein Verkehrsschutzmann war - und der Verkehrsschutzmann konnte nicht wissen, daß die schwarze Gestalt mit den weißen Augen, die mitten auf der verkehrsreichsten Kreuzung des Städtchens plötzlich den Kopf aus dem Boden steckte, ein kleines Gespenst war. Er hielt es für einen Kanalräumer.

„Sagen Sie mal, sind Sie wahnsinnig?" rief er und stemmte die Hände in die Hüften. „Was fällt Ihnen ein, hier einfach den Deckel aufzuklappen und den Verkehr zu behindern?! Machen Sie gefälligst, daß Sie wieder in Ihrem Loch verschwinden - aber ein bißchen dalli!"

Die Autofahrer, die an der Kreuzung hielten, konnten sich nicht erklären, weshalb sie der Schutzmann warten ließ. Einige wurden ungeduldig und begannen zu hupen. Das kleine Gespenst aber ärgerte sich darüber, daß der Schutzmann mit ihm geschimpft hatte.

Es begann sich aufzublasen, bis sein Kopf so groß und so dick war wie eine Regentonne.

Dann spitzte es die Lippen und ließ die Luft aus dem Kopf entweichen. Sie zischte heraus wie aus einem Ballon.

„Pfüüüüü-itt", blies das kleine Gespenst dem Schutzmann die weiße Mütze vom Kopf.

Der Ärmste war nahe daran, in Ohnmacht zu fallen. Er stand mit weit aufgerissenen Augen da und war käsebleich im Gesicht.

„Siehst du wohl!" sagte das kleine Gespenst und kicherte.

Zufrieden zog es sich in den unterirdischen Gang zurück. Klapp! schloß der Deckel sich über ihm.

Der Verkehrspolizist brauchte eine ganze Weile, um sich von seinem Schreck zu erholen. Es dauerte mindestens fünf Minuten, bis er es fertigbrachte, den Arm zu heben und die Autos, die an der Kreuzung standen und hupten, weiterfahren zu lassen.

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