Ein ruhiges Plätzchen

Am nächsten Mittag erwachte das kleine Gespenst recht unsanft, weil ihm die Rathausglocke aus nächster Nähe in die Ohren dröhnte. Hätte ihm jemand zwölfmal mit einem Schmiedehammer auf den Kopf geschlagen, es hätte nicht schlimmer sein können.

„Rasch in den Keller!" dachte das kleine Gespenst. „Und dann auf dem gleichen Weg zum Rathaus hinaus, auf dem ich es vor zwei Tagen betreten habe!"

Das war aber gar nicht so einfach, wie sich das kleine Gespenst das vorstellte.

Immer dann, wenn es dachte, nun sei das Treppenhaus endlich frei und es könne sich unbemerkt in den Keller schleichen - immer gerade dann mußte irgend jemand dazwischenkommen: und wenn es die Putzfrau war, die in der Mittagsstunde die Treppen fegte und das Stiegengeländer wischte.

„Ich sehe schon", dachte das kleine Gespenst, „hier komme ich nicht hinunter, ohne daß es wieder ein großes Theater gibt - und ich muß sagen, das wird mir allmählich lästig. Unsereins ist die ständige Aufregung nicht gewöhnt. Am besten, ich warte hier oben in aller Ruhe den nächsten Sonntag ab. Dann stört mich kein Bürgermeister und keine Putzfrau, kein Ratsdiener und kein Polizist. Die sitzen am Sonntagmittag alle daheim in der guten Stube beim Sonntagsbraten, und ich habe das ganze Rathaus für mich allein. Jawohl, das ist sehr vernünftig, das mache ich. Und zwar krieche ich diesmal nicht in das Uhrengehäuse (schon wegen der Glocke nicht!), sondern ich suche mir ein Versteck auf dem Dachboden."

Die nächsten Tage und Nächte verbrachte das kleine Gespenst also auf dem Dachboden des Eulenberger Rathauses. Dort gefiel es ihm gar nicht schlecht. Auch hier gab es Staub, auch hier gab es Spinnweben. Zwar hingen sie längst nicht so dicht und tief von der Decke herab wie auf dem Eulenstein, aber trotzdem fühlte sich das kleine Gespenst hier fast wie zu Hause.

Vor allem tat ihm die Ruhe gut! Nach den Abenteuern der letzten Zeit war es dankbar dafür, daß es hier oben von

80 niemand gestört wurde. Niemand erschrak vor ihm, niemand jagte es, niemand wollte es festnehmen.

Dabei brauchte das kleine Gespenst über Langeweile nicht zu klagen.

Sobald es erwachte, huschte es einfach an eines der Bodenfenster und schaute hinaus. Es blickte entweder hinab auf den Grünen Markt, wo die Gemüsefrauen mit ihren Körben voll Grünzeug saßen und Zwiebeln und Mohren, Radieschen und Sellerie, Knoblauch und Kopfsalat feilboten - oder es sah nach der anderen Seite hinaus, auf den Rathausplatz, wo der Stadtbrunnen plätscherte und ein Schutzmann mit einer weißen Mütze stand, der alle paar Augenblicke die Arme in eine andere Richtung streckte: dann kamen von beiden Seiten die Autos über den Platz gerollt, Lastzüge, Lieferwagen, Personenautos, manchmal ein Omnibus, hin und wieder auch einige Radfahrer, junge Burschen auf ihren Motorrädern, einmal die Feuerwehr, drei- oder viermal das gelbe Postauto.

„Lustig, wie es da unten zugeht!" dachte das kleine Gespenst. „Ob der Mann mit der weißen Mütze ein Zauberer ist? Er streckt bloß die Arme aus, und schon kommen von beiden Seiten die Kutschen herbei - diese seltsamen Kutschen aus Blech und Glas, die ganz ohne Pferde fahren. Wie das nur möglich ist, daß eine Kutsche ganz ohne Pferde fährt?

Der Uhu Schuhu wird meinen, ich binde ihm einen Bären auf, wenn ich ihm das erzähle ..."

Der Uhu Schuhu!

Wie lang hatte das kleine Gespenst nicht mehr an ihn gedacht! Und jetzt plötzlich fiel er ihm wieder ein.

„Ach du liebe Güte, der Uhu Schuhu! Ich hätte ihn fast vergessen. Ob ich ihn jemals wiedersehe? Wenn ich daran zurückdenke, wie es war, wenn der Herr Schuhu und ich in den Zweigen der alten Eiche saßen und uns beim Mondschein Geschichten erzählten, wird mir das Herz schwer. Ich glaube fast, ich bekomme schon wieder Heimweh. Heimweh nach früher, nach meinen Zeiten als Nachtgespenst..."

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