Reden wir nicht vom Tageslicht

Die Geschichte vom kleinen Gespenst und dem großen schwedischen General Torsten Torstenson war zu Ende. Eine Zeitlang hockten die beiden Freunde schweigend auf ihrem Ast und blickten ins Tal hinab: auf den Fluß, der im Mondlicht schimmerte, und auf die Türme und Dächer des Städtchens Eulenberg mit ihren Wetterfahnen und Schornsteinen, ihren Treppengiebeln und Erkern. Man konnte die wenigen späten Lichter zählen und zusehen, wie sie eins um das andere ausgingen: hier eines - dort das nächste.

Das kleine Gespenst auf Burg Eulenstein stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Schade", sagte es, „daß ich den Fluß und das Städtchen immer nur nachts sehe, wenn der Mond scheint, und niemals bei Tageslicht!"

Der Uhu ließ ein verächtliches Knurren hören.

„Reden wir nicht vom Tageslicht", bat er, „mir tun bei dem bloßen Wort schon die Augen weh! Ich finde, der Mondschein ist hell genug, heller mag ich es gar nicht."

„Und trotzdem!" meinte das kleine Gespenst. Trotzdem möchte ich einmal die Welt bei Tag erleben, ein einziges Mal nur! Bloß um den Unterschied kennenzulernen. Ich könnte mir denken, daß das sehr lehrreich wäre für mich ... Und sehr aufregend ... "

„Pfuh!" entrüstete sich der Uhu. „Wie kommen Sie bloß als vernünftiges kleines Gespenst auf solch ausgefallene Wünsche?! Glauben Sie mir, lieber Freund - ich bin einmal bei Tageslicht unterwegs gewesen und habe für alle Zeiten genug davon!"

Das kleine Gespenst horchte auf.

„Davon weiß ich ja gar nichts, das müssen Sie mir erzählen, Herr Schuhu! Am besten jetzt gleich!"

Der Uhu plusterte sein Gefieder auf, spitzte die Ohren und schüttelte sich. Es schien ihm nicht leicht zu fallen, mit dieser Geschichte herauszurücken.

„Es war", begann er, „in meinen jungen Jahren. Damals unternahm ich von Zeit zu Zeit ausgedehntere Flüge in die Umgebung des Eulensteins, teils um zu jagen und teils aus Neugier. Dabei geschah es mir einmal, daß ich mich in der Zeit irrte - und was meinen Sie: Plötzlich merke ich, daß der Morgen graut! Na, ich kann Ihnen sagen! Zum Eulenstein waren es mindestens sieben Meilen. Ob ich ihn noch erreichte, ehe die Sonne aufging? Ich flog, was die Flügel hergaben, aber die Sonne war schneller. Etwa auf halbem Weg überraschte sie mich. Ich mußte sogleich die Augen schließen, weil ihre grellen Strahlen mich blendeten . . . Wissen Sie, wie es einem zumute ist, wenn man fliegen muß, ohne etwas dabei zu sehen?"

„Ich kann es mir ungefähr denken", sagte das kleine Gespenst.

„O nein!" rief der Uhu Schuhu. „Niemand vermag sich das vorzustellen, der es nicht selbst erlebt hat. Sie dürfen mir glauben, es war entsetzlich. Aber das Allerentsetzlichste kam erst noch!"

An dieser Stelle hielt es der Uhu Schuhu für angezeigt, eine Pause zu machen, erstens um sich zu räuspern und zweitens der größeren Spannung wegen. Das kleine Gespenst rutschte unruhig auf dem Eichenast hin und her.

„Und was war das Entsetzlichste?" fragte es. „Das waren die Krähen", sagte der Uhu Schuhu. „Auf einmal hörte ich ihr Gekrächze. Es mußte ein ganzer Schwärm sein, dreißig bis vierzig von diesen heiseren Schreihälsen. Das Gesindel entdeckt mich und merkt, daß ich blind und hilflos bin.

Da kommt es herbeigeflattert, umschwärmt mich und krächzt mir aus nächster Nähe die Ohren voll mit den scheußlichsten Schimpfworten, die ich je gehört habe. Aber noch nicht genug damit! Eine der Krähen wird übermütig und hackt im Vorbeifliegen mit dem Schnabel nach mir. Ich kann mich nicht wehren, die anderen sehen das - und schon fallen auch sie mit den Schnäbeln und Krallen über mich her, daß ich glaube, im nächsten Augenblick ist es aus mit mir. Es war fürchterlich, lieber Freund, es war höllenmäßig! Wie ich es fertiggebracht habe, trotzdem nach Hause zu finden, das weiß ich selbst nicht. Mehr tot als lebendig bin ich in meiner Höhle angekommen. Hier war ich in Sicherheit vor dem Krähenschwarm, aber fragen Sie nicht, wie ich zugerichtet war! Übel, übel, mein Lieber!"


Der Uhu schlug mit den Flügeln, als gelte es, die Erinnerung an jenen unglückseligen Morgen abzuschütteln.

„Und darum", beschloß er seine Geschichte, „habe ich mir geschworen, in Zukunft immer darauf zu achten, daß ich bei Tagesanbruch zu Hause bin. Wir Nachtgeschöpfe sind für das Tageslicht eben nicht geschaffen. Auch Sie nicht, verehrter Freund, Sie ganz besonders nicht!"

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