Im Brunnenschacht

Auf dem Grunde des Brunnenschachts, der gut und gern seine vierzig Meter tief war, stand Wasser. Das Wasser war schwarz und kalt. Das kleine Gespenst hatte nicht die geringste Lust, damit in Berührung zu kommen. Es fand in der Brunnenwand einen Vorsprung, der breit genug war, um sich darauf zu setzen. Hier ließ es sich nieder und sah auf den dunklen Wasserspiegel hinab.

Von unten blickte ihm eine schwarze Gestalt entgegen. Die schwarze Gestalt hatte weiße Augen und trug einen

Schlüsselbund in der Hand - einen Schlüsselbund, an dem dreizehn Schlüssel hingen. Daran erkannte das kleine Gespenst, daß die schwarze Gestalt in der Tiefe sein eigenes Spiegelbild war.

„Huch, wie ich aussehe!" rief es entsetzt. „Ich bin ja ganz schwarz geworden! Von oben bis unten schwarz! Das einzige Weiße an mir sind die Augen. Sie leuchten so grell, daß es richtig zum Fürchten ist. Ich bekomme gleich vor mir selber Angst! Huch!"

Noch immer brummte dem kleinen Gespenst der Kopf. Es fühlte sich schrecklich elend und mitgenommen.

„Ich möchte bloß wissen, warum ich schwarz geworden bin", fragte es sich. „Und der furchtbare Schlag auf den Schädel vorhin! Wenn ich nur daran denke, wird mir ganz schwindlig .. . Sicher war es das Sonnenlicht, das mir den Schlag versetzt hat. Das Sonnenlicht hat mich wahrscheinlich auch schwarz gemacht... Das hätte ich vorher wissen sollen! Dann wäre ich hübsch in meiner Truhe geblieben und hätte mich keinen Zentimeter hinaus gerührt..."

Das kleine Gespenst warf seinem Spiegelbild einen giftigen Blick zu.

„Schrecklich, mir vorzustellen, daß ich mein ganzes weiteres Leben als schwarzes Scheusal verbringen soll! -Ob es vielleicht ein Mittel dagegen gibt: ein Mittel, das einen wieder weiß macht. . .? Hoffentlich, hoffentlich!"

Während das kleine Gespenst im Brunnen hockte und nachdachte, war der Burgverwalter in sein Büro gelaufen und hatte die Feuerwehr alarmiert. Kurz darauf kam mit Tatü-Tata ein Feuerwehrauto zum Burgtor hereingebraust, darin saßen ein Feuerwehrhauptmann und sieben Feuerwehrleute.

Der Feuerwehrhauptmann ließ sich vom Burgverwalter und vom Herrn Oberlehrer Thalmeyer berichten, was vorgefallen war, und nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, legte er zwei Finger an seinen goldenen Feuerwehrhauptmannshelm und sagte:

„Ganz klar, meine Herren! Einer von meinen Männern muß in den Brunnen steigen und den Verunglückten bergen."

Er wandte sich an die sieben Feuerwehrleute und fragte:

„Wer meldet sich freiwillig?"

Jeder der sieben Feuerwehrleute legte die rechte Hand an den Helm und rief:

„ Ich, Herr Hauptmann!"

Da wählte der Feuerwehrhauptmann den kleinsten und schmächtigsten seiner Männer aus. Dem hakten sie ein langes Seil an den Feuerwehrgürtel, und der Hauptmann hängte ihm eigenhändig eine Laterne um den Hals und sagte:


„Machen Sie's gut, mein Lieber!" Langsam und vorsichtig stieg der Feuerwehrmann an einer Strickleiter in den Brunnenschacht, während ihn seine Kameraden an dem langen Seil, das sie ihm an den Gürtel gehakt hatten, festhielten. Das kleine Gespenst sah den Feuerwehrmann mit der Laterne im Brunnen heruntersteigen. Es fühlte sich ziemlich unbehaglich, denn es konnte sich ausrechnen, wann er unten ankommen und es entdecken würde.

„Und was dann?" überlegte das kleine Gespenst.

Es blickte sich in dem dunklen Brunnenschacht um. Schräg gegenüber von seinem Sitzplatz entdeckte es eine niedrige Eisentür in der Brunnenwand. Ein mächtiges altes Schloß hing davor.

Wohin diese Tür wohl führte?

Rasch schwenkte das kleine Gespenst den Schlüsselbund. Die Eisentür tat sich auf, und es zeigte sich, daß dahinter ein schmaler unterirdischer Gang begann.

„Ah, ein Geheimgang!" dachte das kleine Gespenst.

Es schlüpfte hinein, und hinter ihm schloß sich die Eisentür, wie wenn nichts gewesen wäre. „Gut so", sagte das kleine Gespenst, „ausgezeichnet! Nun können sie draußen mit ihrer Laterne suchen, so lang sie wollen. Hier bin ich in Sicherheit. Und hier bleibe ich, bis es Mitternacht schlägt. Dann kehre ich durch den Brunnen zurück auf den Dachboden, und die Sache hat sich."

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