Alarm im Rathaus

Herr Holzinger war der erste, dem es gelang, einen klaren Gedanken zu fassen. Wenige Augenblicke nachdem das kleine Gespenst aus dem Zimmer des Bürgermeisters verschwunden war, riß er die Tür auf und stürzte ihm nach, auf den Gang hinaus. Dort sah er die schwarze Gestalt mit dem Schlüsselbund gerade noch um die nächste Ecke biegen. „Halt!" rief er. „Stehenbleiben! Sie sind verhaftet!" Aber das kleine Gespenst hatte nicht die geringste Lust, sich verhaften zu lassen. Es huschte davon und kicherte. Da begann der Herr Holzinger so laut zu schreien, daß es durch alle Gänge und Flure hallte:

„Aufpassen! Alles aufpassen! Der Schwarze Unbekannte ist im Rathaus! Wir dürfen ihn nicht entkommen lassen! Festhalten, festhalten! Haltet den Schwarzen Unbekannten! Haltet ihn! Haltet ihn!"

Während der Mittagszeit waren die meisten Beamten und Angestellten nach Hause gegangen. Die wenigen, die im Rathaus geblieben waren, kamen aus ihren Zimmern gerannt. Jeder von ihnen war fest entschlossen, den Schwarzen Unbekannten zu fangen.

„Haben Sie das gehört, Herr Müller? Jetzt macht er sogar das Rathaus unsicher!"

„Geben Sie mal die Papierschere her, Fräulein Krause! Es ist vielleicht nicht verkehrt, wenn man eine Waffe hat. . ."

„Ich finde, man sollte die Polizei verständigen!"

„Gute Idee, Frau Schneider! Wie war doch gleich wieder die Telefonnummer? Zwanzig-null-eins oder eins-null-zwanzig? - - Hallo, ist dort die Polizeiwache? Hier spricht Lehmann, Stadtbaurat Lehmann. Kommen Sie bitte sofort mit allen verfügbaren Leuten zum Rathaus! Der Schwarze Unbekannte, verstehen Sie? Ja, er ist plötzlich hier aufgetaucht. Kommen Sie bitte so schnell wie möglich! Haben Sie mich verstanden? So schnell wie möglich!"

Unter der Leitung des Herrn Kriminaloberwachtmeisters Holzinger wurde das ganze Rathaus von Eulenberg nach dem Schwarzen Unbekannten durchsucht: jedes Zimmer und jeder Schrank, jeder Treppenwinkel und jede Nische. Selbst die Besenkammer, die Waschräume und die Klos wurden nicht vergessen.

Aber der Schwarze Unbekannte war nirgends zu finden, auch auf dem Dachboden und im Keller nicht.

Nicht einmal Ajax, der Polizeihund, fand eine Spur von ihm.

„Ich stehe vor einem Rätsel", sagte Herr Holzinger. „So etwas ist mir in meiner ganzen Dienstzeit noch nicht passiert, und das sind immerhin neunzehn Jahre!"

Aber wo steckte das kleine Gespenst?

Irgendwo mußte es wohl geblieben sein, denn selbst kleine Gespenster können sich nicht in Luft auflösen.

Das können sie freilich nicht - aber sie können dafür manches andere.

Ursprünglich hatte das kleine Gespenst in den unterirdischen Gang zurückkehren wollen; aber dann hatten ihm die von Herrn Holzinger aufgescheuchten Beamten und Angestellten den Weg versperrt - und so war es zunächst auf den Dachboden ausgewichen und dann in den Turm. Als die Verfolger schließlich auch dorthin kamen (es hörte sie schon die Wendeltreppe heraufpoltern), schlüpfte es kurz entschlossen in das Gehäuse der Rathausuhr.

„Im Uhrkasten", dachte es, „wird mich kein Mensch vermuten und folglich auch keiner suchen."


Auf diesen Gedanken kam wirklich niemand, sogar der Herr Kriminaloberwachtmeister Holzinger nicht. Im Gehäuse der Rathausuhr lag es sich allerdings etwas unbequem, und das ständige Schnarren und Knacken im Räderwerk störte das kleine Gespenst beim Einschlafen.

„Als Nachtgespenst lebt man entschieden angenehmer", brummte es vor sich hin. „Was gäbe ich drum, wenn ich je wieder eines werden könnte ..."

Und dabei hätten ein paar Handgriffe an der Rathausuhr ausgereicht, um dem kleinen Gespenst zu helfen! Aber das kleine Gespenst hatte keine Ahnung von dem Zusammenhang, der zwischen ihm und der Uhr bestand. Woher auch? Der Uhu Schuhu hatte ja niemals mit ihm darüber gesprochen.

„Ganz schön ungemütlich und laut ist es hier im Uhrkasten!" dachte das kleine Gespenst.

Es hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, und bald fiel es wie immer in seinen tiefen Gespensterschlaf.

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