KAPITEL ZEHN




Delia Marcole war in den Lasterhöhlen gewesen und stets unbeschadet wieder herausgekommen. Ihr Glaube, ihr unerschütterlicher Glaube an die Macht Gottes, hatte sie rein bleiben lassen. Sie ging jetzt auf Mitte Dreißig zu und arbeitete seit ihrem zweiunddreißigsten Lebensjahr in den von Drogen überschwemmten Innenstädten, wo sie eine charismatische Religion als Heroinersatz anbot. Sie gab den Süchtigen etwas, womit sie ihr Vertrauen in den weißen Stoff ersetzen konnten, von dem sie so abhängig waren. Es war eine schmutzige, gefährliche Arbeit, aber Delia folgte einem Ruf, und sie folgte ihm, ohne zu zagen.

Delia fürchtete sich nicht sonderlich davor, verletzt oder getötet zu werden. Menschen vor ihren eigenen Fehlern zu retten war für sie wichtiger als ihr Leben. Einige nannten sie eine Heilige, aber sie war bescheiden genug, das von sich zu weisen; es war ihr peinlich. Sie war bedroht worden, verprügelt, mit Messern verletzt, man hatte ihr Säure ins Gesicht gespritzt, aber sie gab immer noch nicht auf und machte mit dem weiter, von dem sie fühlte, daß Gott es von ihr wollte – den Hilflosen zu helfen. Sie gehörte zu jenen, die sich vollkommen ihren Mitmenschen geweiht haben, und sie widmete sich ihnen mit einem strahlenden Geist, voller Liebe und Licht.

Es war Mitternacht. Delia war gerade aus einem Haus in einer zwielichtigen, halbdunklen Straße südlich des Flusses gekommen. Mehrere Straßenlaternen waren hier zerstört worden. Sie wußte, daß sie verfolgt wurde.

Das Geräusch ihrer Schritte half ihr, sich zu beruhigen. Es war ein tröstliches Geräusch. Sie betete, während sie weiterging; sprach mit dem Einen, der, da war sie sicher, stets zuhörte. Am Ende der Straße – als sie ihre Nerven gestählt hatte – wandte sie sich um, um ihrem Verfolger ins Gesicht zu schauen. Es war ein junger, gutaussehender Mann, der stehenblieb und sie in dem bleichen, gelbsüchtigen Licht der letzten Straßenlaterne anstarrte. Er lächelte sie an, doch sein Lächeln beruhigte sie nicht. Delia war schon zu lange darin geübt, gute von bösen Menschen zu unterscheiden, um nicht zu spüren, daß sie es hier mit einem bösartigen Menschen zu tun hatte.

Sie hütete sich davor, ihrem Verfolger Fragen zu stellen, da er die Fragen benutzen würde, um sie einzuschüchtern. Statt dessen sagte sie nur: »Geh fort.«

»Wohin?« fragte der junge Mann mit einem schmierigen Grinsen. »Mit dir?«

»Ich habe kein Geld«, sagte Delia vorsichtig. »Nimm das.«

Sie warf ihre Handtasche nach ihm. Er fing sie geschickt auf und warf sie spielerisch zurück.

»Das brauche ich nicht.«

Sie begann zu ahnen, was er wollte. Sie stärkte sich innerlich, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und funkelte ihn an.

Er grinste. »Genau«, sagte er. »Aber ich werde dich nicht mit Gewalt nehmen; ich werde dich nicht vergewaltigen.«

Sie zitterte. »Was dann?«

Er zog ein Päckchen Geldscheine aus der Manteltasche.

»Hier sind fünftausend Pfund. Sie gehören dir, wenn du dich von mir zwischen dem Müll in diesem Garten ficken läßt. Fünftausend. Mit fünftausend Pfund könntest du eine Menge anfangen – einen Haufen Junkies davor retten, sich zu Tode zu fixen.«

Sie starrte verwirrt auf das Geld. Weshalb wollte er gerade sie? Sie war nicht besonders attraktiv. Ihre Kritiker bezeichneten sie als schlampig. Sie war leicht übergewichtig und hatte keine besonders gute Figur, und ihr Gesicht war schon vor dem Säureangriff, bei dem es Schrunden und Narben davongetragen hatte, nicht hübsch gewesen. Und weshalb wollte er sie zwischen dem Abfall nehmen, der aus einer umgekippten Mülltonne stammte? Sie hatte schon von vielen Perversionen gehört, aber es war das erste Mal, daß sie mit einer derart seltsamen konfrontiert wurde.

»Ich verstehe nicht«, sagte sie.

Er lehnte sich an den Laternenpfahl und schaute sie an. »Du hast keine Angst, nicht wahr? Das ist gut. Nun, mach dir keine Gedanken darum, weshalb ich es so will.«

Es gab etwas, das sie wissen wollte. Sie reckte das Kinn und stellte die Frage, die – wie sie ahnte – der Schlüssel zu seinen Motiven war. »Was ist, wenn ich einverstanden bin, aber kein Geld haben will?«

Er runzelte die Stirn. »Nein, ich muß dich bezahlen.«

Sie entspannte sich ein wenig. Jetzt verstand sie, was hier vor sich ging. Jemand versuchte, sie in der Falle der Prostitution zu fangen. Irgendein Dealer der Gegend, der sie loswerden wollte, weil sie dabei war, seinen Drogenhandel zu ruinieren. Jemand, der sie vernichten wollte, indem er von einem Reporter der Regenbogenpresse ein Bild schießen ließ, das zeigte, wie sie sich in der Öffentlichkeit mitten im Müll für Geld bumsen ließ. Nun, da hatte er sich in den Finger geschnitten.

»Nein«, sagte sie und ging weiter.

Der junge Mann packte sie am Arm. »Geh nicht. Hör zu – ich gebe dir zehntausend, zwanzigtausend Pfund; was immer du verlangst.«

»Laß mich los.«

»Sieh dich um«, sagte der Mann. »Schau dir die Häuser an – siehst du das Gebäude dort drüben? Du kannst es haben. Ich kann es dir schenken. Du brauchst nur zu tun, um was ich dich gebeten habe. Laß mich dich ficken, dort drüben, im Dunkeln. Keiner wird es sehen…«

»Nur dein Fotograf.«

Er schüttelte den Kopf, sein blondes Haar fiel ihm in die Stirn.

»Kein Fotograf. Nur wir beide. Ich weiß, was du denkst. Ja, ich versuche, dich zu bestechen, aber es ist für mich. Niemand sonst wird davon erfahren. Es bleibt mein Geheimnis.«

Sie versuchte, seine starken Finger von ihrem Arm zu lösen, und fragte sich, ob sie schreien sollte. Aber sie wußte instinktiv, daß er sie töten würde, falls sie versuchte, andere auf sich aufmerksam zu machen. Sie spürte es tief in ihrem Inneren, sie sah es in seinen Augen. Er würde sie ohne Gewissensbisse töten, so wie man eine Fliege mit der Fliegenklatsche erschlägt. Hinter diesen Augen gab es kein Mitleid, keine Gnade.

»Versuch nicht, wegzulaufen«, sagte er. »Das wäre nicht gut für dich.«

»Ich weiß. Du willst mir weh tun. Dann töte mich«, sagte sie trotzig. »Ich bin bereit zu sterben.«

Er starrte sie an, ließ ihren Arm los und lachte. »Du hast recht, du bist bereit. Nun, ich pflege den Leuten nicht das zu geben, wonach sie verlangen. Ich nehme ihnen das, was sie wollen und gebe ihnen das, was sie nicht wollen – und ich werde dir nicht dabei helfen, eine Märtyrerin zu werden. Hau ab, verschwinde. Und nimm deine Tugend und dein Licht mit dir – sie machen mich krank; sie drehen mir den Magen um.«

Obwohl sie immer noch ein wenig Angst vor ihm hatte, war sie entschlossen, herauszufinden, weshalb er gerade sie ausgesucht hatte. »Was wirst du jetzt tun?« fragte sie. »Soll ich für dich beten?«

»Für mich beten?« fragte der junge Mann angewidert. »Ich werde mir jetzt jemand anderen wie dich suchen und sie, oder ihn, dazu überreden, mir meinen Wunsch zu erfüllen. Ich muß meine Batterien aufladen.« Er lachte. »Du verstehst mich nicht, oder, du dumme Gans? Du hältst mich für pervers.«

Er ging die Straße hinab, und Delia wußte, daß sie ihm auf wunderbare Weise entkommen war. Sie war um Haaresbreite dem Tod entronnen. Er hatte sie aus einer Laune heraus am Leben gelassen. Die Kraft in seinen Fingern sagte ihr, daß er ihren Schädel wie einen faulen Apfel hätte zerquetschen können, wenn er gewollt hätte. Es war ein Wunder, für das sie Gott dankte. Sie ging schnell weiter.

Sie verstand ihn, selbst wenn sie eine › dumme Gans‹ war – sie wußte, wonach der junge Mann suchte. Er gehörte zu den gottlosen Geschöpfen der Nacht; zu Satans Brut. Ihm war es nicht darum gegangen, seinen sexuellen Appetit an ihr zu stillen, es ging um Macht. Nicht um die Macht, die er über sie hatte, sondern um die Macht des Bösen, die durch das Verderben der Guten erzeugt wird. Sie war nur ein Symbol für ihn, eine der Ikonen der Tugend, die er entweihen wollte, um seine Potenz, seine nekromantische Macht zu vermehren.

Sie wußte, daß er sie getötet hätte, sobald es ihm gelungen wäre, sie zu verderben; ihre Tugend und Güte zu besudeln.

Sie eilte weiter, sich des Klangs ihrer Schritte auf dem Pflaster bewußt.

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