KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG




Die Fahrt durch die einst berühmte ›Square Mile‹, das Finanzviertel Londons, war gespenstisch und seltsam zugleich.

Die Straßen waren so ruhig wie ein bis auf die Baumstümpfe heruntergebrannter Fichtenwald. Verschwunden waren die grauen Sandsteingebäude, die Kaffee- und Teehäuser an der Lombard Street; verschwunden waren die Bank of England, die Versicherungspaläste, die modernen Bankhäuser, die großen Bürogebäude. Fort waren die Kapellen und Kirchen, die St. Paul’s Cathedral, die mittelalterlichen Kirchen St. Bartholomew the Great und All-Hallows, Barking; verschwunden die Royal Exchange und das Mansion House. Es war, als wäre das alte London gezielt zerbombt und in Brand gesetzt worden. Überall waren die Ruinen einstmals wunderschöner Gebäude zu sehen. Auf der Fahrbahn lag Schutt, der die Fahrt behinderte und die Gullys verstopfte. Der Fahrer konnte sich nur mit großen Schwierigkeiten einen Weg durch die Trümmer bahnen. Abflüsse liefen über, Gasrohre lagen offen, elektrische Leitungen wanden sich wie schwarze Schlangen durch zerfallene Mauern. Es war Beirut, Sarajevo, Mogadischu und Kabul zugleich.

»Schauen Sie sich das an«, sagte Lloyd verzweifelt. »Es wird ein Vermögen kosten, alles wieder aufzubauen.«

»Es ist nur Geld«, erwiderte Rajeb.

»Es ist nicht nur Geld«, erwiderte Lloyd, »sondern auch Geschichte. Allein der Verlust der wunderbaren Architektur…«

»Ich nehme an, das hat man nach dem Großen Brand auch gesagt«, sagte Rajeb, »obwohl wir ihm die St. Paul’s Cathedral verdanken, eines der schönsten Londoner Bauwerke.«

»Das jetzt nur noch Asche ist«, stöhnte Lloyd.

»Es hat bereits vor dem Großen Brand eine St. Paul’s Cathedral gegeben. Danach bauten sie eine noch schönere. Und jetzt haben wir die Möglichkeit, Wrens Meisterwerk noch zu übertreffen. Vielleicht muß St. Paul’s alle paar hundert Jahre wieder aufgebaut werden.«

Dave begutachtete die Ruinen. »Wenigstens konnten wir Manovitch davon abhalten, uns mit der letzten Plage heimzusuchen, dem Tod der Erstgeborenen. Ich frage mich, wie das funktionieren sollte? Die Erstgeborenen von wem?«

»Von allen Londonern, nehme ich an«, sagte Lloyd. »Ich bin sehr froh, daß es uns gelungen ist, ihn aufzuhalten. Ich bin ein Einzelkind.«

»Und ich bin das älteste Kind«, sagte Rajeb. »Aber nach Daphnes Tod weiß ich nicht mehr, ob ich bleiben will…«

»Genug davon«, sagte Lloyd zu dem jungen Polizisten.

»Daphne hätte bestimmt nicht gewollt, daß Sie so reden. Sie betrachtete Sie beide als starke, unabhängige Menschen, oder?«

»Ja.« Rajeb seufzte. »Ich glaube, ja.«

Das Gespräch begann Dave zu frustrieren, der auf der Suche nach seinem Partner und Freund war. Er sondierte die Gegend, hoffte auf ein Zeichen, auf den flüchtigen Anblick eines Mannes, der aus den Ruinen kam. Plötzlich sah er jemanden unter einem Betonbogen hindurchgehen. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.

»Da! Schauen Sie – dort drüben!« schrie er.

Die anderen drehten sich um und starrten in die angegebene Richtung.

»Das wollen wir uns einmal genauer anschauen«, sagte Lloyd.

Der Fahrer steuerte einen Schutthaufen an, auf dem drei Menschen saßen: ein armselig gekleideter Mann, eine Frau, zu deren Füßen zwei mit Kleidern vollgestopfte Plastiktüten lagen, und ein schmuddelig aussehender Jugendlicher. Die drei starrten sie verzückt und mit leuchtenden Augen an.

»Was machen Sie hier?« fragte Lloyd.

»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten«, schnappte die Frau, deren Gelassenheit für einen Moment verschwand.

Lloyd gab nicht auf. »Wie sind Sie durch die Barrieren gekommen?«

»Wir sind durch keine Barrieren gekommen«, antwortete der Jugendliche. »Wir waren schon da, bevor er kam. Wir waren da, als er landete, genau hier, an dieser Stelle. Die Leute, die durch die Barrieren kamen, sind zum Kai zurückgegangen.«

»Wen meinst du mit ›er‹? Den Erzengel?«

Der Jugendliche nickte. »Ja, wir drei haben in dem Ladeneingang geschlafen. Er sagte, wir könnten bleiben, wenn wir wollten. Er hätte nichts dagegen. Er sagte, wir sollten unsere Augen bedecken, um nicht blind zu werden.«

»Und ihr drei wart die ganze Zeit hier?« fragte Lloyd ungläubig. »Was habt ihr denn gegessen und getrunken?«

»Die ganze Zeit?« fragte der Jugendliche. »Es war doch nur eine Nacht, oder?«

»Ich will euch mal eins sagen«, meldete sich der Mann, »so gut habe ich schon lange nicht mehr geschlafen.« Er räusperte sich und spuckte aus, um seiner Behauptung Nachdruck zu verleihen.

»Fahren Sie«, sagte Lloyd zum Fahrer, einem Corporal, doch Dave unterbrach ihn: »Einen Augenblick noch.«

Dann fragte er die drei: »Haben Sie noch jemanden in der Gegend gesehen?«

»Nein.« Der Jugendliche schüttelte den Kopf. »Nur uns.«

Sie fuhren weiter. Dave lotste sie zu der Stelle, wo er Danny mit Petras Hilfe abgesetzt hatte. Doch die Treppenstufen waren leer.

»Nun, das war’s«, sagte Lloyd. »Ich schlage vor, wir fahren ins Hotel zurück.«

Dave hoffte, daß Danny dort auf sie warten würde, aber Bruder Tuck war nirgends zu entdecken.


Um zwölf Uhr mittags am selben Tag kamen die Glaubensführer dieser Welt aus ihrem Bunker. Sie lächelten und wanderten gemeinsam auf ihren bisher voneinander getrennten Wegen.

Загрузка...