PROLOG




Neun Uhr vormittags am Quinquagesima-Sonntag des Jahres 2002 n. Chr. in New York.

Bischof Gates litt unter einer menschlichen Schwäche: Er hatte Angst vor dem Sterben. Es war nicht der Tod, der ihm Sorgen bereitete – er war überzeugt davon, daß er am richtigen Ort landen würde –, aber das Sterben war gewöhnlich mit Schmerzen und Streß verbunden, und von beidem hatte er in seinem Leben genug gehabt. In den sechziger Jahren hatte er als Kaplan in Vietnam Unmassen von Schmerz gesehen und genug Streß, genug Anspannung und Druck erlebt, um eine Nation vollkommen zu entstellen.

Der Bischof war nervös. Auf dem Weg zum Kennedy Airport starrte er unverwandt durch das Rückfenster, um zu sehen, ob jemand dem Taxi folgte. Das machte wiederum den Fahrer nervös, der sich fragte, ob er ein Mitglied der Cosa Nostra in seinem Taxi hatte; vielleicht den Kerl, der John Gotti an die Feds ausgeliefert hatte? Der Taxifahrer hatte einst einer jamaikanischen Straßengang angehört und seine Heimatinsel auf der Suche nach einem weniger gefährlichen, dafür aber lukrativeren Leben verlassen – nur um sich schließlich in einem der gefährlichsten Jobs in einer der gefährlichsten Städte der Welt wiederzufinden.

»Hey, Mann, was liegt an?« sagte der Fahrer, während er an den Straßenrand fuhr und anhielt. »Haben Sie einem Typ die Socken gestohlen, oder was?«

Der Akzent verwirrte den Bischof kurz, aber er verstand ein paar Worte und reimte sich zusammen, daß der Fahrer besorgt war, sein Wagen könnte von Gangstern ins Visier genommen werden.

»Nein – ich – eh, ich gehöre der Kirche an, mein Sohn…«

»Ich bin nicht Ihr Sohn, Sie komischer weißer Vogel.«

»Nein, natürlich nicht, es ist nur eine Redensart.« Der Bischof lachte nervös. »Es stimmt: jemand könnte mir folgen, möglicherweise um mich zu töten, aber keine Gangster, sondern Terroristen…«

Der Jamaikaner riß die Augen auf. »So was wie diese Terroristen aus dem Mittleren Osten, Mann? Hey, hieven Sie Ihr Gepäck aus meinem Taxi, Mann – ich habe keinen Bock auf Ihre Probleme.«

»Nun, es sind nicht eigentlich Muslime. Wahrscheinlich kommen sie aus dem Süden unseres Landes – christliche Fundamentalisten. Ich bin auf dem Weg nach London, zu einer wichtigen Konferenz. Es gibt Menschen, die verhindern wollen, daß ich dorthin fliege. Die Konferenz ist sehr wichtig – für weltliche Angelegenheiten.«

Ein Polizeiwagen hielt neben ihnen, und ein Polizist brüllte: »Hey, fahr weiter, Cabbie. Du stehst im Halteverbot. Los, Mann, Bewegung.«

Der Taxifahrer wollte keinen Ärger mit der Polizei. Ärger mit Terroristen zu haben, war schlimm genug, aber Ärger mit der Polizei bedeutete Abschiebung. Sein Visum war abgelaufen, und er besaß keine Arbeitserlaubnis. Er grinste breit, winkte und fädelte sich wieder in den Verkehr ein, wobei er ebensooft in den Rückspiegel schaute wie der Bischof. Als er den Flughafen erreicht hatte, stürzte er zum Kofferraum, lud das Gepäck aus, schnappte sich das angebotene Geld, sprang wieder hinters Steuer und gab Gas.

Der Bischof seufzte. Er rollte seinen Koffer durch die automatischen Türen und fand sich plötzlich von einem Kollegen begrüßt, der gerade gelandet war.

»Wo wollen Sie denn hin, Bischof?«

»Oh, Kardinal Jefferson.« Der Bischof ließ ein nervöses Lachen hören. »Hallo. Ich… ich bin auf dem Weg nach London. Der Erzbischof von York – der alte – hat mich zu einem Seminar über die, eh, katholisch-anglikanischen Auffassungen zur sexuellen Promiskuität der Jugend eingeladen. Muß mich beeilen…«

Er stürzte davon und ließ einen verwirrt dreinblickenden Kardinal zurück. Tatsache war, daß Bischof Gates niemandem, wirklich niemandem, von der Konferenz erzählen durfte. Er hatte es dem Taxifahrer gesagt, weil er sich so rasch nichts hatte ausdenken können; aber ein New Yorker Taxifahrer würde nicht über die Bedeutung seiner Bemerkung nachgrübeln. Also, ein Bischof fliegt nach London, zu einer Konferenz? Na, und? Aber bei dem Kardinal lag die Sache anders; er würde gern Näheres über diese Konferenz wissen wollen und weiterbohren.

In den Londoner Pynchon-Konferenzräumen würden Repräsentanten aller wichtigen Weltreligionen und Sekten versammelt sein, und der Bischof war stolz darauf, zu ihnen zu gehören.

Aber er hatte immer noch Angst. Es gab viele, die zu töten bereit waren, um eine solche Konferenz zu stoppen, um zu verhindern, daß eine Vereinbarung wie diejenige getroffen wurde, die beantragt worden war – der einzige Punkt der Tagesordnung. Der Bischof hatte keine Lust, ein Märtyrer zu werden. Er war froh, nur ein einfacher Bischof zu sein. Ihn verlangte es nicht nach Heiligkeit, nicht, wenn man sie nur mittels einer Kugel im Kopf erlangen konnte.

Er fand den Flugschalter, gab sein Gepäck auf und begab sich geradewegs zur Abflughalle, wo es ihm gelang, sich ein wenig zu entspannen. Bis zum Abflug der Maschine plauderte er leutselig mit einer Familie, die in Europa Urlaub machen wollte.

Erst als das Flugzeug sich seinem Ziel näherte und das auf der anderen Seite des Atlantiks gelegene Heathrow ansteuerte, bekam er es erneut mit der Angst zu tun. Doch diesmal bereitete ihm nicht die körperliche Bedrohung Sorgen. Ein Gefühl geistigen Unbehagens überkam ihn wie eine Hautallergie, bis er schwitzte, als hätte er Fieber; wie damals, als er das verdorbene Curry gegessen hatte. Doch hier handelte es sich nicht um eine Fleischvergiftung.

Der Bischof war ein Mann mit Phantasie, dessen imaginäre Schreckensbilder des Bösen genauso lebhaft waren wie die Gemälde von Hieronymus Bosch. Er konnte sich die Qualen, die Vergewaltigung seiner Seele vorstellen, die Agonie eines gepfählten und gegeißelten Geistes. Derartiges Leid war für ihn sehr real; und er nahm eine potentielle Gefahr dieser Art in der Stadt unter ihm wahr; eine Gefahr für ihn persönlich und für die Menschheit im allgemeinen. Er hatte solche Angst, daß er glaubte, sich übergeben zu müssen.

»Alles in Ordnung, Sir?« fragte die Stewardeß, die neben seinem Sitz stehengeblieben war und ihm in die Augen schaute. »Die Papiertüten befinden sich vor Ihnen.«

»Mir geht es gut«, log er und sank tiefer in seinen Sitz.

Aber ihm ging es ganz und gar nicht gut. Er spürte, daß etwas von der Stadt unter ihm ausging, eine starke, feindselige Präsenz, die ihn veranlaßte zurückzuschrecken, wie vor dem Gestank des Bösen.

Etwas war faul in der Stadt London.

Загрузка...