KAPITEL ACHTUNDZWANZIG




Nach der versuchten Vergewaltigung war ein schmaler Riß in der Beziehung zwischen Daphne und Rajeb aufgetaucht. Es war kein ernsthaftes Beziehungsproblem, aber etwas, mit dem sie sich früher oder später würden auseinandersetzen müssen. Daphne hatte sich nach dem Vorfall klugerweise dafür entschieden, eine Therapie zu machen. Rajeb war aufgebracht und verwirrt. Er verstand nicht, weshalb sie zu einem fremden Menschen gehen wollte, um mit ihm über den Vorfall zu sprechen, wo er doch da war, um sie zu trösten. Sie saßen am frühen Abend im Wohnzimmer, tranken Tee und diskutierten die Angelegenheit.

»Du verstehst nicht…«, sagte Daphne.

»Ganz richtig. Ich verstehe nicht«, erwiderte Rajeb. »Deshalb frage ich dich ja, weshalb du damit zu einem fremden Menschen gehen willst.«

»Schau mal. Ich gehe zu dieser Frau, gerade weil sie eine Fremde ist. Eine Fremde, die Übung darin hat, Menschen bei der Bewältigung einer traumatischen Erfahrung zu helfen. Wenn ich dich bitten würde, mir zu helfen, gäbe es nur ein heilloses Durcheinander. Du bist emotional zu sehr darin verwickelt.«

»Ich habe nicht versucht, dich zu vergewaltigen.«

Daphne seufzte. »Nein, natürlich nicht – ich will damit nicht sagen, daß alle Männer gleich sind. Aber wir beide lieben uns – ich hoffe, wir lieben uns –, und in einem Fall wie diesem könnten wir füreinander die falsche Medizin sein. Ich muß mit jemandem reden, Rajeb. Mach, es mir doch nicht so schwer.«

Er wiegte sich auf seinem Sessel vor und zurück. Sie sah, daß er sehr unglücklich war. Im Kulturkreis seiner Familie hielt man Privates privat, und man schüttete keinem Fremden sein Herz aus. »Wir werden allein damit fertig«, sagte er gern. Falls in Rajebs Familie einmal etwas geschah, das ihr Schande bereitete, blieb es ein streng gehütetes Geheimnis, und nur die engsten Familienmitglieder wurden darüber informiert.

Obwohl Rajeb normalerweise ein vernünftiger, sensibler Mann war, mußte Daphne jedesmal gegen diese tief verwurzelte Familientradition kämpfen, wenn es um die Lösung von Problemen ging.

»Ich begreife es einfach nicht.« Er seufzte.

»Dann müssen wir es dabei belassen. Ich hab’ es dir erklärt so gut ich konnte. Diese Menschen sind wie Ärzte, Rajeb. Sie besitzen einen Moralkodex, sie wahren die Schweigepflicht, und es besteht eine Chance von eins zu fünfzig Millionen, daß du sie auf einer Party, auf der Straße oder im Supermarkt triffst. Also brauchst du mir nicht damit zu kommen. Meine geistige Gesundheit ist auf jeden Fall mehr wert als deine Verlegenheit. Es wird ein Geheimnis zwischen vier, statt zwischen drei Menschen bleiben, mehr nicht.«

»Vier?«

»Ich kann mir vorstellen, daß Stan Gates es nicht vergessen hat. Und ich sage vier, weil ich nicht annehme, daß er in seinem Pub davon tönt.«

Rajebs Augen wurden groß. Die Vorstellung, Gates könne sich vor anderen über seine Tat auslassen, kam ihm ungeheuerlich vor. Wahrscheinlich war ihm die Möglichkeit deshalb bis jetzt nicht in den Sinn gekommen. »Sobald er auch nur ein einziges Wort darüber fallenläßt, werde ich den verfluchten Bastard töten, das schwör’ ich dir.«

»Wirst du nicht, Raj. Hast du mir nicht erklärt, Gates hätte Lieutenant Peters gegenüber bereits Andeutungen gemacht? Wir sollten uns beruhigen. Genau das meine ich mit ›emotional darin verwickelt‹ sein. Ich kann mit dir nicht vernünftig darüber sprechen. Ich muß mit jemand anderem reden, am besten mit einem ausgebildeten Therapeuten. So, und jetzt wollen wir es uns gemütlich machen und nicht mehr darüber sprechen.«

Raj nickte. Er ließ das Thema nur widerwillig fallen, war aber vernünftig genug, einzusehen, daß sie so nicht weiterkommen würden.

»Im Fernsehen läuft ein Western«, sagte er. »Möchtest du ihn sehen?«

Daphne wollte sich keinen Western anschauen. »Eigentlich muß ich noch zur Bücherei«, sagte sie. »Sie ist noch bis zwanzig Uhr geöffnet.«

»Soll ich mitkommen?«

»Nein, ich schaff’ es schon allein. Du würdest dich bei der Suche nach den Büchern, die ich brauche, doch nur langweilen. Bleib hier und schau dir den Film an. Ich verspreche dir, nicht zu lange fortzubleiben.«

»Okay. Wie wär’s, wenn du uns was vom Chinesen mitbringen würdest?«

»Was hättest du denn gern? Abgesehen von spare ribs, die du immer nimmst.«

»Ich nehme nicht immer spare ribs – aber heute abend hätte ich gern welche und gebratenen Garnelen-Reis auf malaiische Art. Er ist würziger als der andere.«

»In Ordnung.«

Daphne zog ihre leichte Jacke an. Beim Hinausgehen hörte sie, wie Rajeb den Fernseher anstellte. Sie wußte, daß ihre mangelnde Begeisterung für Western ihn kränkte, aber es gab einen Punkt, wo für sie die Gemeinsamkeit aufhörte. Sie hatte nichts gegen Filme, die auf einer wahren Begebenheit beruhten und sie sensibel verarbeiteten, aber heute abend gab es nur den üblichen Unsinn über zwei Männer in einem tödlichen Entscheidungskampf. Einer würde den anderen töten, ob es nötig war oder nicht, und Rajeb würde förmlich am Bildschirm kleben, wenn die Kugeln durch die Gegend flogen.

Daphne fuhr mit dem Wagen zur Bücherei. Sie fand erst im siebten Stock des mehrstöckigen Parkhauses einen Platz, da viele Käufer ihren Wagen hier abstellten und den Vorteil des nahe gelegenen Straßenmarktes nutzten. Der Aufzug funktionierte nicht. Daphne nahm die Treppe, um ins Erdgeschoß zu gelangen. Die Bücherei lag nur knapp hundert Meter vom Parkhaus entfernt.

In der nächsten Stunde war Daphne in ihre Studie über die Bildungsprobleme von Zigeunerkindern vertieft; eine Untersuchung, die eines Tages, wie sie hoffte, in eine Doktorarbeit einmünden würde. Sie stellte Stück für Stück eine Titelliste zusammen, die sie später einmal in eine Bibliographie verwandeln und einer Dissertation einverleiben würde. Rajeb hatte ihr dabei geholfen, um das East End herum wohnende Zigeunerfamilien auszumachen. Die Gespräche mit ihnen war faszinierend gewesen. Sie hatten ihre eigene, ganz besondere Sicht des Lebens. Ein alter Mann, ein ›seßhafter‹ Zigeuner, hatte, als sie ihn fragte, weshalb er gegen Ende seines Lebens schließlich eine Gemeindewohnung akzeptiert habe, geantwortet: »Mir wurde schwindelig«, ein Hinweis auf sein bisheriges Wanderleben.

Als sie das Gefühl hatte, lange genug fortgeblieben zu sein, sammelte Daphne ihre Bücher, die sie mitnehmen wollte, ein, und ging damit zum Schalter.

Draußen bauten die Markthändler bereits ihre Buden ab, schraubten die Rahmen auseinander, die das Segeltuchzelt an seinem Platz gehalten hatten. Daphne kaufte ein wenig Obst bei einer Frau, die schon dabei war, ihren Lieferwagen zu beladen. Sie bekam es ein wenig billiger, da die Frau in Eile und es schon spät war. Die untergehende Sonne schien zwischen zwei Hochhäusern hindurch. Daphne ging mit zwei schweren Tüten beladen zum Parkhaus zurück.

Der Aufzug funktionierte immer noch nicht. Müde begann sie die Treppen hochzusteigen. Einmal glaubte sie, hinter sich Schritte gehört zu haben, doch als sie stehenblieb und lauschte, blieb es still. Als sie im siebten Stock angelangt war, drückte sie die schwere Metalltür auf und betrat die deprimierende Leere aus Beton, der mit schäbigen Graffitis bedeckt war. Auf dem Boden lagen leere Getränkedosen und anderer Müll. Sie haßte die schmutzige Dunkelheit von Orten wie diesem. Außer ihrem standen nur noch zwei andere Wagen auf der Etage: ein alter, zerbeulter Ford und ein purpurroter Mini, selbstgestrichen.

Das sterbende Sonnenlicht bahnte sich einen Weg über die Mauerbrüstung und beleuchtete ihr Auto. Aus der anderen Richtung, aus Osten, drang das Licht der Erzengel-Kuppel. In der Mitte befand sich eine trostlose Öde. Sie durchquerte den verlassenen Bereich, schloß die Wagentür auf und stellte das Obst und die Bücher auf den Rücksitz statt in den Kofferraum.

Während sie sich reckte, um den Vordersitz wieder in die alte Position zu bringen, packte sie jemand von hinten.

»Was…?«

Als sich die Arme um ihren Brustkorb schlangen und ihre Brüste quetschten, dachte Daphne kurz, es sei Rajeb, der sich einen Scherz erlaubte. Aber die Vorstellung wurde umgehend von der Dicke des Armes und den Kleidern zunichte gemacht, die nicht Rajeb gehörten.

»Hör auf«, schrie sie. »Du tust mir weh.«

Ihr Angreifer erwiderte nichts, sondern trug sie zur Mauerbrüstung und hob sie hoch.

Daphne verlor ihre Schuhe, als sie um sich trat und versuchte, sich aus der Lücke zu stoßen, hinter der es zwischen zwei Gebäuden sieben Stockwerke abwärts ging. Es gelang ihr, dem Angreifer den Kopf unters Kinn zu rammen, aber das hatte nur ein Grunzen zur Folge. Der Mann – sie konnte seinen abgestandenen Achselschweiß riechen – hob sie abermals mühelos bis zum Rand der Mauer.

Sie trat um sich und schrie. Ihre Oberschenkel glitten über den rauhen Beton. Sie schürfte sich die Waden auf, ohne etwas davon zu spüren. Das Entsetzen betäubte ihre Schmerzen. Sie hielt sich am Mauerrand fest und drehte sich zur Seite. Ihr Portemonnaie fiel aus der Tasche, wirbelte durch die Lücke zwischen den Gebäuden hinab, um schließlich in der schmalen Passage aufzuschlagen und seinen Inhalt in alle Richtungen zu verstreuen.

»Laß mich in Ruhe!« schrie sie. »Laß mich in Ruhe!«

Er riß ihre Hände von der Brüstung.

»Hey«, schrie jemand. »Was machen Sie mit der Lady?«

Daphne konnte eine große, dunkelhäutige Frau bei dem Mini stehen sehen.

Der Mann brach zum ersten Mal sein Schweigen. »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten«, herrschte er die Fremde an.

Sie kannte die Stimme. Es war Gates.

»Helfen Sie mir!« schrie Daphne. »Bitte helfen Sie mir! Dieser Mann versucht, mich zu töten!«

Die Frau stieg rasch in ihren Wagen und startete den Motor. Das Geräusch hallte laut im fast leeren Parkhaus wider. Sie drehte das Seitenfenster herunter und schrie: »Ich werde die Polizei rufen – Sie lassen die Lady besser in Ruhe, Mann.«

»Bitte«, flehte Daphne Gates an. »Du kannst haben, was du willst. Gleich hier, auf dem Rücksitz.«

»Zu spät«, sagte Gates mit rauher Stimme, hob sie mit Kraft höher und warf sie über die Mauer ins Leere. »Probier lieber mal, wie rauher Beton schmeckt.«

Sie fiel sieben Stockwerke tief.

Daphne schlug und trat um sich, bis sie mit dem Gesicht zuerst auf den Betonplatten aufschlug.

Dann richtete Manovitch seine Aufmerksamkeit auf die Frau im Mini, die ihn mit weitaufgerissenen Augen anstarrte. Sie versuchte gleichzeitig, den Wagen zu starten und den Gang einzulegen, was zur Folge hatte, daß der Motor seinen Geist aufgab. Manovitch stürzte sich auf den Mini und drehte ihn wie eine Schildkröte auf den Rücken. Die Frau rutschte nach unten und fand sich zwischen Armaturenbrett und Fußpedalen eingeklemmt. Manovitch griff durchs Fenster, packte sie bei der Kehle und würgte sie mit einer Hand. Als sie aufgehört hatte, nach Luft zu schnappen und um sich zu schlagen, richtete er den Mini wieder auf, zerrte die Leiche heraus und zog den Schlüssel aus dem Zündschloß. Dann schloß er die Wagentür auf, steckte den Schlüsselbund in die Handtasche, trug die Frau samt ihrer Tasche zur Brüstung und warf sie über die Mauer. Sie schlug neben Daphnes Leiche auf.

»Da haben sie ein Rätsel zu lösen.« Manovitch lachte. »Zwei Frauen, die gemeinsam von einem mehrstöckigen Parkhaus springen.«

Manovitch verließ den Schauplatz und kehrte in Stan Gates Viertel zurück. Dort ließ er Stan Gates heraus, der ein Restaurant aufsuchte und etwas aß. Danach ging er geradewegs nach Hause und legte sich ins Bett.


Lloyd Smith schien in einer seltsamen Stimmung zu sein. »Hallo, was ist los?« fragte Stan Gates gutgelaunt.

»Die Freundin von Constable Patel ist gestern gestorben«, antwortete Lloyd Smith.

Stan, der seines Wissens nach Patels Freundin nie kennengelernt hatte, war entsetzt.

»Gott. Was ist passiert?«

»Sie sprang von einem mehrstöckigen Parkhaus – oder wurde hinabgestoßen. Durch den Fall zersplitterte ihr Schädel«, Lloyd seufzte. »Nun, er wurde eher zu Brei zermust. Wie Sie sich wahrscheinlich vorstellen können, ist Patel am Boden zerstört. Im Augenblick ist er bei seinen Eltern. Schreckliche Sache…«

»Warum sagen Sie, sie sei ›gesprungen oder hinabgestoßen worden‹?«

»Nun, sie war laut Patel recht deprimiert, obwohl er nicht sagen will, weshalb. Aber da gibt es ein paar Dinge, die keinen Reim ergeben. Ich weiß nicht. Es wird zweifellos untersucht werden. Seltsam ist, daß neben ihr noch eine Frau lag, die das gleiche Schicksal ereilt hat. Die Wagen beider Frauen standen auf der gleichen Etage, der siebten. Aber die andere Frau scheint vor ihrem Sturz Verletzungen an der Kehle erlitten zu haben.«

Stan nickte nachdenklich. »Sie meinen, sie wurde wahrscheinlich erwürgt. Klingt, als wäre entweder Rajebs Mädchen oder diese andere Frau angegriffen worden, als die zweite Partei den Tatort betrat, und der oder die Mörder töteten beide, um keine Zeugen zu haben.«

»Sie sind der Polizist«, sagte Lloyd.

»Wurde etwas gestohlen?«

»Kein Pfennig.«

»Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Das klingt nach Manovitch. Und wie geht es jetzt weiter?«

Lloyd schob ein paar Papiere in die Aktentasche.

»Nun, wie es aussieht, fällt Patel als Fahrer des Lieutenants erst einmal aus. Er wird eine Weile nicht arbeiten können. Lieutenant Peters ist begierig darauf, den Schritten nachzuspüren, die Sergeant Spitz machte, nachdem Sie ihn am Flughafen verließen.«

»Gut«, sagte Stan. »Und wo ist der Lieutenant jetzt?«

»In seinem Zimmer.«

»Ich werde zu ihm gehen.«

»Nein, ich gehe«, sagte Lloyd. »Sie bleiben hier.«

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