KAPITEL SECHSUNDDREISSIG




Während die Gruppe beieinander stand und man sich gegenseitig gratulierte, kletterte eine Gestalt ungesehen über die Kaimauer und stolperte auf sie zu, schlüpfrig vor Öl, Wasser und Asche. Eine häßliche Erscheinung: ein schwärzlicher Körper, bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. Sie hatte Höhlen, wo ihre Augen gewesen waren, ein Loch anstelle der Nase, verbrannte Lippen, eine scheußliche Grimasse als Mund. Sie wirkte wie eine Bestie aus Vulkangestein, einem dunklen Lavagrab entstiegen. Die Umrisse eine groteske Kopie einer menschlichen Form.

Die Gestalt bewegte sich instinktiv auf ihre Opfer zu. Reine Rachegelüste mußten sie motivieren, mit Energie versorgen: ein glühender, intensiver Haß, der seine eigene Kraft besaß. In dieser Kreatur gab es kein atmendes Leben mehr – nichts dergleichen hätte das Inferno auf der Themse überleben können –, aber einen Haß, so heiß, daß der Körper nicht fallen, nicht zu Boden gehen wollte, zur Erde, wo er hingehörte.

Seine Beute war Dave Peters. Die schwarzen Finger, verkrusteten Klauen ähnlich, waren bereits vor Erwartung gekrümmt, die Hände dem Polizisten aus San Francisco entgegengestreckt, bereit, seinen Hals zu umklammern.

»Vorsicht!« schrie Rajeb Patel, der die Kreatur als erster erblickte.

Alle drehten sich um und starrten erschreckt auf die Gestalt.

Lloyd wich zurück. Er sah aus, als müßte er sich gleich übergeben.

Ein in der Nähe stehender Polizist eröffnete geistesgegenwärtig das Feuer, wenn auch mit einem normalen Revolver. Aber die Kugel durchschlug den Körper der Kreatur nur und zeigte keinerlei Wirkung.

Ein dünner Triumphschrei drang aus Manovitchs Mund, als er bei Dave angelangt war, denn er wußte, daß jetzt nichts mehr seinen Feind retten konnte, daß er ihn zur Hölle mitnehmen würde.

Plötzlich kam eine andere Gestalt aus dem Schatten auf sie zugerannt. Als sie Manovitch erreicht hatte, schlang sie ihre Arme um ihn. Manovitch schrie, versuchte sich aus der innigen Umarmung zu befreien, aber das Wesen war zu stark für ihn. Es hielt ihn so dicht an seinen Körper gepreßt wie Fleisch an Knochen.

»Petra!« schrie Dave.

Petra umarmte die tote Seele wie einen Geliebten, von dem man sich vor einer langen Reise verabschiedet. Ihre Wange schmiegte sich an die verkohlte Wange, die Hände waren hinter dem Rücken des Teufels verschränkt, die Beine um seine Unterschenkel geschlungen.

»Verschwinde, Dave!« schrie sie. »Verschwinde!«

Dave wußte nicht, was er tun sollte. Er konnte doch nicht einfach fortgehen und zulassen, daß Manovitch Petra tötete? Die tote Seele mit ihrer enormen Kraft würde sie bestimmt in Stücke reißen. Aber was sollte er tun? Er war nur ein Sterblicher. Petra schien eine gewisse Stärke zu besitzen: es gelang ihr, den Teufel zurückzuhalten.

»Verschwinde!« schrie sie ein drittes Mal.

Dave sah etwas in Petras Augen, etwas, das ihn wünschen ließ, hundert Kilometer weit fort zu sein. Er trat zurück, einen Schritt, zwei Schritte, dann drehte er sich um und lief. Auch die übrigen liefen fort – Lloyd, Rajeb – und versuchten, so viele Meter wie möglich zwischen sich und die beiden zu legen. Zwei tote Seelen waren in einen furchtbaren Kampf verwickelt, und es sah so aus, als würde keine den Schauplatz ohne Verletzungen verlassen.

Als Dave etwa hundert Meter die Straße hinabgelaufen war, hörte er hinter sich eine gedämpfte Explosion und spürte die Hitze am Rücken.

Er drehte sich um und sah eine Flammensäule dort, wo die beiden Gestalten einander umschlangen. Sie reichte bis an die Wolken, ein atemberaubender Pylon aus hellen Flammen und von gleißendem Glanz. Die Flammen wanden sich umeinander, kräuselten sich, bildeten dicke Taue und verbanden sich, um eine weiße Säule aus geschmolzenem Eisen zu formen. Die Hitze versengte eine nicht weit vom Flammenherd entfernt stehende Telefonzelle. Die Farbe blätterte ab, die Scheiben zersprangen, das Metall schmolz und tropfte in den Rinnstein. Es gab noch weitere, kleinere Brände innerhalb der heiligen weißen Waffe der Engel des Herrn.

Auch Daves Kleider waren versengt. Er konnte es riechen. Sie hatten nur nicht Feuer gefangen, weil sie naß waren. Die Menschen um ihn herum hatten in Gassen und Gebäuden Schutz gefunden. Er war der einzige, der dem wütenden, flammenden Inferno, das einst Petra und Manovitch gewesen war, schutzlos gegenüberstand.

»Petra!« schrie er.

Vergebens. Petra konnte ihn nicht mehr hören. Sie konnte niemanden mehr hören. Sie hatte sich geopfert, um Himmel und Erde von einem schrecklichen Widersacher zu befreien. Sie war freiwillig in die Leere gegangen, war in ihrem eigenen weißen Feuer umgekommen, damit Menschen und Engel triumphierten. Ihr Name war nicht länger Petra: ihr Name war Vergessen.

Zurück blieb nur grobe, schwarze, mit feinem weißen Pulver vermischte Asche. Und der Wind kam und wehte sie davon, bis nichts mehr übrig war.

Nachdem Staub und Asche verweht waren, erlebte London eine Himmelfahrt. Der Erzengel erhob sich, schwebte über der Themse und sandte seine Strahlen weiter aus als je zuvor. Straßen und Gebäude sonnten sich in gleißendem Licht, das nur ein Abklatsch des Glanzes der war, der Gott umgab. Dennoch konnte kein Sterblicher den Glanz schauen, der die Sonne übertraf – wenigstens mit bloßen Augen nicht.

Dann schien sich der Erzengel immer schneller zu entfernen, bis er nur noch ein flammender Bogen am Himmel war. Jene, die ihn sahen, sagten, es sei wie ein Stern gewesen, der zum Himmel zurückkehrt. Staunen hielt in ihre Herzen Einzug.

Der heilige Mick war zu den Schlachtfeldern Armageddons zurückgekehrt, seine Mission war beendet.

Den Londonern, die sich an den Lichtdom gewöhnt hatten, schien etwas zu fehlen. Da war eine Lücke im Stadtbild und eine Leere in ihren Herzen. Sie hatten für kurze Zeit einen Erzengel beherbergt. Jetzt war er fort, und nur die verheerenden Folgen seiner Ankunft waren zurückgeblieben.

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