KAPITEL FÜNFZEHN




Danny vermißte seine Heimatstadt. Ihm fehlten Marios Restaurant, Fisherman’s Wharf, Russian Hill, Chinatown und Hunters Point, all die vertrauten Plätze. Danny betrachtete sich als Einheimischen. Er war zwar in Davis geboren, aber in San Francisco aufgewachsen, nachdem sein Vater einen Job im Presidio bekommen hatte. Lake Tahoe, LA und der Yosemite Park stellten die Grenzen seiner Welt dar; und jenseits dieser Grenzen begann die Leere des Weltraums.

Danny kniete in einer Kirche. Eigentlich hatte er beichten wollen, war aber im letzten Augenblick davor zurückgescheut. Der Priester war ein Fremder, ein Engländer, vielleicht sogar ein Ire, Schotte oder Waliser, aber auf keinen Fall Amerikaner. Und er kam vor allem nicht aus San Francisco. Danny wollte niemanden, der nicht aus San Francisco kam, bitten, ihm seine Sünden zu vergeben. Das kam ihm nicht richtig vor. Seine Sünden waren die Sünden eines Cops aus San Francisco, und nur ein Priester aus San Francisco – jemand, der wußte, wie Cops aus San Francisco waren, was sie durchmachen mußten und in welchem Klima sie arbeiteten – war der geeignete Vermittler zwischen ihm und Gott.

Also betete er und blieb dann mit Petra, die, wie er mit Freuden festgestellt hatte, ebenfalls katholisch war, sitzen, um am Gottesdienst teilzunehmen. Petra war auf eine Klosterschule gegangen, in Birmingham – England, nicht Alabama –, und obwohl sie, wie sie sagte, bei den Nonnen einiges durchgemacht hatte, war sie nicht vom Glauben abgefallen.

Nach einer Weile stand Danny auf und ging nach draußen. Petra folgte ihm.

»Und was ist mit der Messe?« fragte sie ihn.

Er blieb ihr die Antwort schuldig, und sagte statt dessen: »Können wir hier irgendwo eine Tasse Kaffee trinken?«

»Es gibt einen Imbiß die Straße herunter. Aber der Kaffee ist nicht der beste; nicht das, was du gewöhnt bist.«

»Wird schon gehen.«

Sie spazierten zur Burger-Bude, die vor einer U-Bahn-Station in der Nähe des Flusses stand. Danny bestellte einen Kaffee.

»Augenblick«, sagte er dem Verkäufer, »ich möchte nur das Wasser untersuchen.«

Der Verkäufer zog ein Gesicht. »Ich nehme nur Wasser aus der Flasche. In meinem Kaffee ist kein Blut.«

»Okay«, sagte Danny. »Man kann nicht vorsichtig genug sein.«

Immer noch erkrankten Menschen an verseuchtem Wasser. Die Friedhöfe waren voll von ihnen. Nach der Sache mit dem blutigen Fluß hatten Polizisten und Soldaten jedes einzelne Haus in Richmond durchsucht, wobei ihnen einige verdächtige ins Netz gingen, aber es gab kein Anzeichen dafür, daß einer von ihnen Manovitch war. Dave erklärte, Manovitch würde sich nicht verhaften lassen – eher würde es einen Holocaust geben.

Petra wollte weder etwas trinken noch essen. Sie beobachtete, wie Danny das überschüssige Kaffeepulver vom Rand ableckte.

»Eine alte Angewohnheit«, murmelte er, als er ihren Blick bemerkte. »Tut mir leid. Es macht Dave verrückt.«

Petra nickte. »Ihr steht euch sehr nahe, nicht wahr?«

Sie wanderten zum Fluß und starrten ins schmutzige Wasser.

»Nun, wir standen uns sehr nahe. Ich denke, im Augenblick hält er nicht sehr viel von mir. Ich mache meine Arbeit nicht so gut, wie ich sollte.«

»Wegen mir, oder?«

Er schaute sie an und lächelte sein ›Pfannkuchen‹-Lächeln. »Unter anderem. Ich glaube, er ist eifersüchtig.«

»Nein«, sagte Petra ernst. »Er ist nicht eifersüchtig. Er ist noch nicht einmal neidisch. Er ist glücklich mit der Frau, mit der er in San Francisco zusammenlebt – Vanessa, nicht wahr?«

Danny zerdrückte den halbvollen Plastikbecher. Der Kaffee spritzte ihm über die Hand und auf den Anzug. Er wußte, daß er sich kindisch benahm, aber das schien vor Petra keine Rolle zu spielen. Es kam ihm so vor, als würde sie sein innerstes Selbst kennen. Er hatte das Gefühl, daß sein Geist, sein Wesen, selbst seine Gedanken wie ein offenes Buch vor dieser starken und wunderschönen Frau lagen. Sie hatte Einblicke, für die ein Medium sein drittes Auge geben würde.

»Dann weißt du auch, daß Dave mir Vanessa gestohlen hat, oder?«

»Man kann nicht jemanden von jemand anderem stehlen«, sagte sie. »Menschen sind keine Dinge. Habt ihr miteinander geschlafen?«

Danny fühlte sich bei dieser Frage unbehaglich. »Nein, wir haben niemals miteinander geschlafen…«

»Wolltest du sie heiraten und hast nur bis zur Hochzeit gewartet?«

»Nein, wir… wir waren nur Freunde. Gute Freunde.«

»Gute Freunde sind gute Freunde. Du solltest großen Wert auf Freundschaft legen. Sie besitzen oft einen höheren Wert als eine Affäre. Emily Bronte war der gleichen Meinung. Und ist Vanessa immer noch eine gute Freundin?«

»Ja.«

»Wie hat er sie dir dann weggenommen?«

Danny starrte ins Wasser. »Bei dir hört es sich so einfach an«, sagte er. »Aber so einfach ist es nicht. Ich habe Vanessa zuerst kennengelernt. Wir wurden gute Freunde, dann kam Dave aus Washington zurück und schwupps, lagen sie beieinander in der Falle.«

Petra legte ihm die Hand auf die Schulter. »Hört sich so an, als hätte sie sich in ihn verliebt und nicht in dich. Das ist okay, oder? Du kannst die Menschen nicht dazu zwingen, sich in dich zu verlieben, Danny. Ich bin in dich verliebt – genügt das nicht?«

»Wirklich?«

»Darauf kannst du wetten.«

Danny strahlte, aber etwas verwirrte ihn.

»Weißt du, du benutzt manchmal Wörter… oft hörst du dich wie eine Amerikanerin an. Bist du sicher, daß du noch nie in den Staaten warst?«

»Ach, komm schon, Danny, wir werden mit euren Fernsehserien, euren Filmen, euren CDs gefüttert – die amerikanische Kultur wirft ihre Netze weit aus. Deshalb überrascht es dich auch nicht, wenn dir gewisse Aspekte des Lebens hier vertraut vorkommen, oder? Ihr Amerikaner seid eine seltsame Mischung. Ihr exportiert eure Kultur, als wäre ihr Besitz das einzig Wertvolle. Ihr schlachtet sie sogar aus: eure Lieder handeln von amerikanischen Klein- und Großstädten, und in den meisten eurer Filme und Bücher geht es um den American way of life. Ihr seid so provinzlerisch, und trotzdem regiert ihr die Welt. Findest du das nicht seltsam?«

»Da steckt einiges an Kritik dahinter, und ich weiß genau, daß ich darüber wütend werden sollte.«

»Dazu kommt noch, daß ihr keine Kritik vertragen könnt«, fuhr Petra fort.

»Wer zum Teufel kann das schon? Die Briten können es nicht, die Franzosen oder die Italiener können es auch nicht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Aber ihr Amerikaner seid in der Beziehung so empfindlich.«

»Sind wir nicht. Wir sind bereit, jedem dreckigen, gemeinen Hundesohn zuzuhören, der uns runterputzt – wenigstens zehn Sekunden lang.«

»Zehn Sekunden sind okay.«

»Aber du darfst nichts über Texas sagen«, herrschte er sie mit gespielter Wut an.

Petra lachte. Sie war wirklich eine bemerkenswerte Frau. Und obwohl Danny sich über das, was er als einen Angriff auf sein Land betrachtete, ärgerte, sagte er nichts, sondern legte besitzergreifend den Arm um sie.

Danny verstand nicht, weshalb Dave nicht eifersüchtig sein konnte, obwohl er eine Frau hatte, die er liebte. Nur weil man einen Diamantring besaß, hieß das doch noch lange nicht, daß man den Besitzer des Star of India nicht beneiden würde.

»Ich verstehe noch immer nicht, weshalb du mich attraktiv findest«, sagte er.

Petra schlug die Augen gen Himmel. »Beschäftigt dich das Äußere der Menschen immer noch? Was macht es, wie du aussiehst? Was wirklich zählt, das bist du. Das habe ich dir immer wieder gesagt.«

»Ja, das hast du, aber es fällt mir schwer, es zu glauben. Die körperliche Anziehungskraft kommt noch dazu, stimmt’s? Sie spielt irgendwie auch eine Rolle.«

»Nur für seichte Menschen, nicht für Menschen wie uns, Danny. Ich bin sicher, du würdest mich auch lieben, wenn ich, sagen wir mal, klein und rundlich wäre und eine schlechte Dauerwelle hätte…«

Danny hatte einmal eine Frau geliebt, auf die diese Beschreibung zutraf; sie war von einem gefallenen Engel getötet worden.

»Ja, ich denke, das würde ich.« Er grinste, froh darüber, daß er nicht hatte lügen müssen.

»Da wir schon einmal hier sind«, sagte er und schaute Petra an, »würde ich gern einige Dinge besichtigen; ein paar Sehenswürdigkeiten. Zum Beispiel den Buckingham Palace, die Tate Gallery, Big Ben und den Tower…«

»Tut mir leid, mit dem Tower kann ich dir nicht dienen«, sagte sie. »Er ist bereits seit über einem Jahr wegen Reparaturarbeiten geschlossen.«


Sergeant Stan Gates war ein Einzelgänger, ein Single. Es zog ihn weder zu Frauen noch zu Männern, und so erzählte er jedem, der Näheres über seine Beziehungen – oder den Mangel daran – wissen wollte, daß er mit der Polizei verheiratet sei. Und das stimmte. Die Polizei war sein Leben, und er widmete ihr jede wache Minute, ob er im Dienst war oder nicht. Er trank gern ein Bier in seinem Stamm-Pub – dem Princess Louise in High Holborn –, und es gefiel ihm, sich mit den Gästen zu unterhalten, aber im Geiste entfernte er sich nie weit von seinem Job. Stan Gates hatte in York das Licht der Welt erblickt, aber seine Familie zog kurz nach seiner Geburt nach London, und er betrachtete sich, wie Rajeb Patel, als Londoner. Er war in Hornsey aufgewachsen – genauer gesagt, in Green Lanes –, einer multikulturellen Gegend. Die meisten seiner Mitschüler waren griechische Zyprioten gewesen. Er hatte seine Kindheit genossen, hatte in Kebab-Imbißbuden herumgehangen und war mit Kindern aller Hautfarben durch die Straßen gezogen. Es war eine verdammt schöne Zeit gewesen: sie hatten Autos gestohlen, Obst von den Ständen geklaut und die Gassen mit ihrem Gebrüll erfüllt.

Mit vierzehn war er dreimal wegen verschiedener Vergehen verhaftet worden. Dann traf er einen Cop, der ihm sagte, er sei ein Idiot, weil er sein Leben verschwende. Boysie, Sergeant der Ausbildungsabteilung, hatte ihm erklärt: »Du hältst dich für schlau, oder? Vielleicht bist du es, aber nicht so schlau wie ich, Freundchen. Ich werde es dir beweisen. Glaubst du, du kannst mich beim Karate Kid schlagen?«

Damals war Stan der Champion in den Videotheken gewesen und Karate Kid gehörte zu seinen Lieblingsspielen.

»Klar.« Er grinste.

»Gut«, sagte Boysie, »wenn du verlierst, mußt du nächsten Sommer das Camp mitmachen; sechs Wochen mit den Polizeikadetten.«

»In Ordnung«, antwortete Stan.

Stan verlor alle sieben Spiele. Er konnte es nicht fassen. Es war unmöglich, daß alte Menschen junge beim Videospiel schlugen. Diese Ansicht teilte er Boysie in etwas anderen Worten mit.

»Ich bin ständig in einer Spitzenkondition«, erklärte Boysie dem Jugendlichen. »Ich reagiere schneller als du.«

Aber Stan wurde das Gefühl nicht los, hinters Licht geführt worden zu sein, und er schwor sich, daß er auf kleinen Fall bei diesem Polizeikadetten-Camp mitmachen würde. Doch im nächsten Sommer tauchte Boysie vor ihrem Haus auf, nannte ihn einen Betrüger, und nahm den sich sträubenden Stan mit nach Southport. Dort fand er sich wieder, wie er nicht nur alle Spiele, sondern auch das Training und alle anderen Aktivitäten mitmachte, und erstaunlicherweise seinen Spaß daran hatte. Seit dieser Zeit schaute er nicht mehr zurück. Und es war unvermeidlich, daß er – sehr zum Leidwesen seiner Eltern – zur Polizei ging, sobald er alt genug dafür war.

»Wir hatten noch nie einen Polizisten in der Familie«, brummte sein Vater. »Und ich glaube auch nicht, daß wir einen wollen. Du wirst mit deiner Uniform nach Hause kommen, oder? Was sollen die Nachbarn denken? Die werden bestimmt alle fortziehen.«

Aber Stan hatte sich bei seinen Entscheidungen noch nie von familiären Erwägungen beeinflussen lassen. Er wollte Polizist werden und damit basta. Sein Vater ließ sich erweichen, als Stan plötzlich saubere Sachen trug. Damals hatte sich seine Mutter bereits an die Uniform gewöhnt und war enttäuscht, daß ihr Sohn seine Ankunft nicht länger mit der Polizeisirene ankündigte. Aber wegen seiner Sondereinsätze war er meistens inkognito.

In Zivil kehrte Stan zu seinem London-Boy-Look zurück: kurze, gepflegte Haare, links gescheitelt, ein präziser Haaransatz, der starr über einem ausrasierten Nacken stand, keine Koteletten, kein Schnäuzer; ein frischrasiertes Gesicht, glatt wie ein Babypopo. Elegante Anzüge, die Jacken mit Schulterpolster, schlichte Hemden mit Button-Down-Kragen und Krawatten mit Windsorknoten. Tagsüber silberne Manschettenknöpfe, abends goldene. Eine teure Uhr mit Gliederarmband, einen goldenen Siegelring am Ringfinger der rechten Hand. Gute italienische Schuhe mit Lochmuster, nichts Auffälliges, schlichtes Braun, Socken in gedeckten Farben. Und ein scharfer, harter Blick. Erschreckend für einen Typen aus einer der heruntergekommenen Siedlungen, wie derjenigen, in der Stan aufgewachsen war. Stan hatte, wie die meisten seiner Art, über Nacht die verkehrt herum aufgesetzte Baseballkappe, die überlangen Jeans und die Wolljacken gegen die Sachen eingetauscht, die er jetzt trug und noch über seinen fünfzigsten Geburtstag hinaus tragen würde.

Einen Tag, nachdem die Themse ihr Blut verloren hatte, stand er im Princess Louise, trank sein Bier und dachte über seine gegenwärtigen Pflichten nach. Anfangs war er enttäuscht gewesen, daß er den kleinen, halbkahlen Cop herumkutschieren mußte. Der andere, der schlanke, hatte bissig und effizient ausgesehen – genau die Sorte Mensch, mit der Stan gern arbeitete. Aber Dannys Reaktion auf den Dämon in der Oxford Street hatte Stan beeindruckt. Danny hatte schnell, geschickt und ohne eine Spur von Angst oder Zögern reagiert. Seit diesem Nachmittag dachte Stan anders über ihn. Er bewunderte den anderen Cop immer noch, aber ihm war jetzt klar, weshalb Dave Danny als Partner gewählt hatte.

»Noch eins bitte, Jim«, sagte Stan und stellte das leere Glas auf die Theke.

»Sofort, Stan«, erwiderte der Wirt.

Der Mann neben Stan fragte: »Arbeitest du im Augenblick an einem großen Fall, Stan?«

Er drehte sich um und sah Willy Prebble, einen Schlosser aus der Gegend.

»Im Augenblick? Ich bin immer im Dienst, das weißt du doch, Willy. Im Augenblick fahre ich einen Yank durch die Stadt – einen Polizisten aus San Francisco. Sieht zwar nicht großartig aus, aber er hat es hier.« Stan tippte sich an die Schläfe.

»Und was machst du? Verfolgst du jemanden?«

»Hängt mit dem Heiligen Mick zusammen«, sagte Stan, und deutete mit dem Kopf in Richtung Lichtkuppel, die die meisten Einwohner für den Erzengel Michael hielten. »Es gibt da jemanden, der mit ihm verbunden ist und dem eine kleine Lektion in Gerechtigkeit erteilt werden muß, und ich brauche dir nicht zu sagen, Willy, daß ich derjenige sein werde, der sie ihm verabreicht.«

Stan klopft auf sein Schulterholster und notierte zufrieden, wie sich Willys Augen weiteten.

»Wirst du jemanden umlegen?«

»Etwas«, berichtigte ihn Stan.

»Ein Tier?«

»Könnte man sagen«, erwiderte Stan. Nun, er hatte genug gesagt. Willys Mund war so groß wie Avonmouth, und morgen früh würde es ganz Holborn wissen. Aber wem schadete das? Es war kein Geheimnis, daß sie eine Kreatur der Hölle namens Manovitch jagten.

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