9.

Der Morgen dämmerte, als sie zurück nach Went kamen. Skar fühlte sich nach der durchwachten Nacht müde und fiebrig. Sein Rücken schmerzte, und seine Muskeln waren vom langen Reiten steif und verspannt. Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, legte die Hand in den Nacken und versuchte, seine schmerzenden Muskeln zu massieren. Es half nichts. Die Spannung blieb und schien im Gegenteil noch stärker zu werden. Thoranda hatte wohl recht - es würde noch Wochen dauern, bis er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte war. Sie ritten durch das gleiche Tor wie beim ersten Mal nach Went hinein. Die Cearner begannen sich zu verteilen, um nach der anstrengenden Nacht zurück in ihre Quartiere zu gehen und noch ein paar Stunden zu schlafen.

»Was tust du jetzt?« fragte Coar, als Skar müde vom Pferd stieg und dem Tier einen freundschaftlichen Klaps auf das Hinterteil gab. Er hatte beobachtet, daß längst nicht alle Cearner ihre Tiere in einen der Ställe oder die große Koppel am westlichen Ende der Stadt zurückbrachten - die meisten ließen sie einfach laufen, als wüßten sie, daß die Tiere ihren Weg auch allein finden würden, und auch Coar schien an seinem Verhalten nichts Außergewöhnliches zu finden.

»Ich bin müde«, sagte er achselzuckend. »Ich denke, ich werde nach Del sehen und mich dann noch ein paar Stunden hinlegen und ausruhen. So viel wie hier habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht geschlafen.«

»Wäre ich boshaft«, sagte Coar, »dann würde ich das jetzt so auffassen, daß du Went zum Einschlafen langweilig findest. Oder auch mich.« .

Skar grinste und unterdrückte ein Gähnen. »Im Gegenteil, Coar. Aber der Ritt war anstrengend, und ich bin noch nicht wieder bei Kräften. Auch ein Held«, versuchte er Thorandas Tonfall nachzumachen, »braucht von Zeit zu Zeit Erholung.« Er lächelte, half Coar aus dem Sattel und wurde übergangslos wieder ernst.

»Bestattet ihr eure Toten alle so?«

»Dort draußen?« Coar nickte. »Ja. Normalerweise beerdigen wir ihre Körper, doch wenn dies nicht möglich ist, so reicht es auch, ihre Seelenknospen beizusetzen.«

»Seelen ... was?« machte Skar.

»Eyhaka«, sagte Coar in ihrer Heimatsprache. »Der richtige Ausdruck dafür ist Eyhaka. Doch ich fürchte, das Wort läßt sich nicht übersetzen. Vielleicht wäre Same das passende Wort.«

»Trägt... jeder von euch einen solchen Samen in sich?« fragte Skar zögernd. Coar nickte und griff mit der Rechten unter ihre Brust. »Ja. Wir sind Geschöpfe des Waldes, Skar. Cearn ist unsere Mutter, und jeder, der hier geboren wird, trägt ein Stück von ihr in sich. Nicht immer ist es möglich, einem Toten die Ehre zuteil werden zu lassen, die ihm zukommt. Aber niemand von uns ist allein. Der Geist von Cearn ist bei ihm, ganz egal, wohin er geht. Es ist nur ein winziger Schnitt, von dem ein Neugeborenes kaum etwas merkt, und doch sichert es seiner Seele den Frieden mit Cearn, ganz egal, welches Schicksal ihm einst zuteil werden wird.« Der Gedanke erschien Skar im ersten Moment befremdlich. Und doch hatte er etwas ungemein Tröstliches, auch wenn ihm sonst fast jegliches Gefühl für Religionen und Glauben abging. Skar war niemals religiös gewesen, und ein guter Grund für seine Entscheidung, Satai zu werden, hatte darin bestanden, daß dies die einzige Kaste auf Enwor war, in der kein Mann nach seinem Glauben gefragt wurde. Und trotzdem glaubte er für einen Moment zu spüren, was dieser winzige Same, den jeder Cearner vom Tag seiner Geburt an unter dem Herzen trug, für diese Menschen bedeuten mochte. Für einen Menschen, dessen Religion der Wald war, mußte es eine ungeheure Sicherheit sein, zu wissen - nicht zu glauben, sondern zu wissen, das seine Seele eins mit dem Geist Cearns werden würde, ganz egal, was ihm zustieß. Es war ein schöner Brauch, fand er.

»Wenn du ... willst«, sagte Coar zögernd, »trinken wir noch einen Becher Wein miteinander. Bei mir.«

Skar konnte ihr Gesicht in der grauen Dämmerung nicht erkennen, aber er war sicher, so etwas wie ein schüchternes Lächeln auf ihren Zügen wahrzunehmen. Für einen Moment fühlte er sich verwirrt. Aber er mußte sich wohl allmählich an den Gedanken gewöhnen, daß Coar nicht mit den Frauen zu vergleichen war, die er bisher getroffen hatte. Er nickte, mehr vor Überraschung als aus wirklicher Zustimmung, zupfte verlegen an seinen Kleidern und folgte Coar in geringem Abstand. Sie bewegten sich ein Stück weit parallel zur inneren Dornenhecke und betraten dann eine kleine, ebenerdig liegende Hütte, die wie fast alle Gebäude Wents zum Großteil aus Holz und lebenden grünen Ranken gefertigt war und eher gewachsen als gebaut wirkte.

Coar führte ihn in einen weitläufigen, niedrigen Raum und machte eine einladende Handbewegung. »Setz dich, Skar. Ich bin sofort zurück.« Sie fuhr herum und verschwand mit eiligen Schritten im Nebenzimmer, und Skar blieb unschlüssig unter der Tür stehen.

Der Raum war überraschend groß und mußte - bedachte man die relativ kleinen Abmessungen des ganzen Hauses - einen Großteil des vorhandenen Platzes beanspruchen. Wie bereits in den übrigen Gebäuden, die er gesehen hatte; war die Einrichtung sparsam und auf das Allernotwendigste beschränkt. Die Cearner schienen nicht viel Wert auf materiellen Besitz zu legen. Es gab weder Tische noch Stühle, sondern nur zwei flache Truhen, die offenbar zur Aufbewahrung von Kleidern dienten, sowie ein knapp mannshohes, aus Bast geflochtenes Regal, in dem eine Anzahl tönerner Krüge und Becher, dazu einfaches Geschirr aus Holz und Steingut standen. Von der Decke hing eine Öllampe in Form einer Taube mit weit geöffnetem Schnabel. Eine Anzahl grob gewobener Kissen aus bunten Stoffen war in loser Unordnung auf dem Boden verteilt, und in einer Ecke gab es ein einfaches Lager aus Bastmatten und Fellen - und Lederdecken.

Skar ging mit einem Achselzucken zur Bettstelle hinüber und ließ sich darauf nieder. Die unbequem anmutende Anhäufung von Kissen und Decken erwies sich als überraschend weich, und für einen Moment mußte er mit aller Macht gegen das plötzliche Verlangen ankämpfen, sich einfach zurücksinken zu lassen und die Augen zu schließen.

Er reckte sich, gähnte ungeniert und fuhr sich erneut mit der Hand über die Augen. Coar hantierte irgendwo im Nebenraum mit Töpfen und Geschirr. Er hörte ein leises Klirren, dann ein Geräusch, als würde Flüssigkeit von einem Behälter in einen anderen umgefüllt. Die Geräusche erfüllten ihn auf eine seltsame, sanfte Art mit Wohlbehagen. Es war etwas, was er noch nie kennengelernt hatte - irgendwo zu sein, einfach dazusitzen und zu lauschen, wie eine Frau im Nebenzimmer das Essen vorbereitete oder sonst eine häusliche Tätigkeit verrichtete, zu Hause zu sein. Irgend etwas schien sich in ihm zu verändern, seit er Cearn betreten und dieses seltsame Volk getroffen hatte, fast als hätte die Begegnung mit den Cearnern - und vor allem, wie er sich eingestand, mit Coar - das Tor zu einem Bereich seiner Seele aufgestoßen, von dem er bisher nicht einmal gewußt hatte, daß es ihn gab. Vielleicht lag es an der Form dieses Raumes, an der lebenden, atmenden Materie, aus dem er gefertigt war, vielleicht auch nur an seiner Müdigkeit, aber mit einem Male hatte er das Gefühl, schon eine Ewigkeit hier zu sein, jeden Quadratzentimeter seiner Umgebung genau zu kennen. Er fühlte sich sicher und geborgen.

Er schrak hoch, als Coar, beladen mit einem hölzernen Tablett, auf dem ein bauchiger Krug und ein flacher Teller mit dünn geschnittenem Fleisch standen, unter dem Eingang erschien. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt wieder ein einfaches, braunes Gewand, wie es hier in Went üblich zu sein schien, und ihr Haar fiel in offenen gelben Wellen über Nacken und Schultern. Skar wollte aufstehen und ihr helfen, aber sie schüttelte ablehnend den Kopf und kam mit raschen Schritten auf ihn zu. Sie setzte das Tablett vor ihm ab, ließ sich neben ihm auf das Lager sinken und sprang dann noch einmal auf, um zwei Becher zu holen. »Ich hoffe, der Wein schmeckt dir«, sagte sie, während sie vor ihm niederkniete und mit geübten Bewegungen eingoß. »Man sagt, unser Wein sei sehr gut, doch ich muß gestehen, daß ich nicht viel davon kenne. Für mich schmeckt der eine wie der andere. Hier - trink.«

Skar griff nach dem dargebotenen Becher und setzte ihn an die Lippen. »Ich bin nicht wählerisch«, sagte er. Er nippte vorsichtig, trank einen kleinen Schluck und rasch einen größeren. Der Wein war herb und hatte einen leicht bitteren Nachgeschmack, aber er löschte ausgezeichnet seinen Durst. Er leerte den Becher, griff nach dem Krug und füllte erneut ein. Er spürte erst jetzt, wie durstig und hungrig er war. Sie waren die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, ohne auch nur einmal zu essen oder zu trinken. Er griff nach dem Fleisch, biß hinein und kaute ausgiebig. Coar lächelte. Wie jeder Frau schien es ihr zu schmeicheln, daß ihrem Gast ihre Küche so offenkundig mundete.

»Greif ruhig zu«, sagte sie aufmunternd. »Es ist noch mehr da.«

»Ich möchte dir nicht deine ganzen Vorräte wegessen«, sagte Skar, während er nach einer weiteren Fleischscheibe griff.

»Das tust du nicht, keine Sorge. Ich freue mich, wenn es dir schmeckt. Es kommt selten genug vor, daß ich Gelegenheit habe, jemanden zu bewirten. Aber ich fürchte, ich bin nicht gerade eine Meisterköchin.«

Skar schüttelte erneut den Kopf und biß wieder in sein Fleisch. »Ich habe schon Schlimmeres gegessen«, sagte er mit vollem Mund. Dann stockte er, lächelte verlegen und kratzte sich in einer linkischen Geste hinter dem Ohr. »Verzeih«, murmelte er. »Das ... war wohl nicht sehr höflich von mir, fürchte ich.« Coar seufzte. »Nein, das war es nicht. Aber ich kann die Wahrheit ganz gut vertragen. Ich koche nur selten für mich, weißt du?«

»Du lebst allein hier?« fragte Skar, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Meistens. Manchmal wohnt eines der Mädchen hier, aber die meiste Zeit bin ich allein. Wenn ich hier bin, heißt das. Die Garde ist oft unterwegs. Manchmal wochenlang.«

»Da ist etwas, was ich dich schon lange fragen wollte«, sagte Skar. »Königliche Garde - was bedeutet das? Nur ein Titel, oder mehr?«

»Nur ein Titel, fürchte ich«, antwortete Coar. »Und nicht einmal ein besonderer. Von Zeit zu Zeit reiten wir nach Ipcearn, um den Königspalast zu besuchen oder sonst etwas Überflüssiges zu tun. Aber die meiste Zeit verschwenden wir damit, durch den Wald zu streifen und unsere Rüstungen zu polieren.«

»Den Eindruck hatte ich nicht«, widersprach Skar.

Coar machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du meinst den Kampf gegen die Hoger«, sagte sie. »Laß dich davon nicht täuschen, Skar. Hat Logar dir nichts über sie erzählt?«

»Sicher«, nickte Skar. »Doch nach allem, was ich bisher erlebt habe, kann ich seine Worte kaum glauben.«

»Ihr habt euch eine unglückliche Zeit ausgesucht, um nach Cearn zu kommen. Die Hoger brüten, und während dieser Zeit sind sie wie von Sinnen. Normalerweise würden sie es nicht wagen, einen Menschen so tief im Wald anzugreifen. Schon gar nicht eine bewaffnete Gruppe wie die unsere.«

Skar schluckte den letzten Bissen Fleisch herunter, spülte mit einem Schluck Wein nach und langte nach einem weiteren Stück. Der Teller leerte sich zusehends, aber die wenigen Happen schienen seinen Hunger erst richtig geweckt zu haben. »Wie gut, daß ihr kein abergläubisches Volk seid«, sagte er leichthin. »Sonst wärt ihr noch auf die Idee gekommen, unser Auftauchen mit dem Verhalten der Hoger in Zusammenhang zu bringen.«

Für den Bruchteil eines Lidzuckens schien ein Schatten über Coars Züge zu huschen, aber sie hatte sich sofort wieder in der Gewalt. Trotzdem war Skar sicher, daß sie seine Worte nicht nur als belanglose Konversation aufgefaßt hatte. Sie stand plötzlich auf, griff hastig nach dem leeren Teller und dem Tablett und trug beides hinaus. Als sie zurückkam, wirkte ihr Gesicht wieder gefaßt und beherrscht wie immer. »Wenn du möchtest«, sagte sie, »zeige ich dir später etwas von Went und der Umgebung.«

»Gern. Ich hätte dich sowieso darum gebeten, aber ich dachte, du müßtest mit der Garde ausreiten.«

Coar ließ sich wieder neben ihm nieder. »Sie wird auch ohne mich zurechtkommen«, meinte sie achselzuckend.

»Und Logar hat nichts dagegen?«

Diesmal war Coars Zögern nicht mehr zu übersehen. Für einen Moment erkannte Skar den inneren Kampf, den sie durchs:and. Dann straffte sie sich und sah ihm ernst ins Gesicht. »Ich dürfte es dir nicht verraten«, begann sie, »aber ich mag dich nicht belügen, Skar. Logar hat mir den ausdrücklichen Befehl gegeben, mich um dich zu kümmern.«

»Oh«, machte Skar enttäuscht. »So ist das. Du bist eine Art Kindermädchen.« Coar schüttelte traurig den Kopf. »Wenn du so willst. Aber ich habe mich nicht lange gesträubt, den Auftrag anzunehmen. Hätte ich mich geweigert, wäre ein anderer dazu ausersehen worden, vielleicht sogar Bernec. Wäre dir das lieber?«

»Natürlich nicht. Nur ...« Skar zögerte, setzte den Becher zwischen seinen Füßen auf den Boden und sah Coar nachdenklich an. »Warum das alles, Coar?«

»Warum? Ihr seid Fremde, und ...«

»Das ist es nicht«, unterbrach Skar sie sanft. »Ich gebe zu, ich bin noch nicht lange hier, und eure Sitten und Gebräuche sind mir so fremd wie am ersten Tag, aber so, wie ihr uns behandelt, das ist nicht normal. Auch nicht für ein so gastfreundliches Volk wie das eure. Warum?«

»Wäre es dir lieber, wenn wir euch in Ketten legen würden?«

Skar schürzte verärgert die Lippen. »Du weißt ganz genau, was ich meine, Coar. Als du mich hierhergebracht hast, da waren wir Gefangene, und Logar hätte mich am liebsten am höchsten Baum von Went aufgeknüpft, von Bernec ganz zu schweigen. Und jetzt, kaum drei Tage später, seid ihr alle wie ausgewechselt. Erzähl mir jetzt bitte nicht, ich hätte euch gegen die Hoger beigestanden, denn das ist es nicht, nicht allein. Ihr behandelt mich wie ... wie einen König, und ich möchte endlich wissen, warum!«

Coar hielt seinem Blick einen Moment lang stand, senkte dann den Kopf und begann mit den Fingerspitzen imaginäre Linien auf den Boden zu zeichnen. »Das bildest du dir ein«, sagte sie, doch ihre Worte klangen nicht sehr überzeugend. »Und selbst wenn es so wäre - was wäre so schlimm daran? Wir bekommen nicht oft Besuch, und wir sind ein gastfreundliches Volk ...«

»Quatsch«, sagte Skar ruhig. »Ausgemachter Blödsinn.«

Coar seufzte. Sie hob den Kopf, zog die Beine an den Körper und stützte das Kinn auf die Knie. »Logar hat seine Meinung nicht von ungefähr so rasch geändert«, sagte sie so leise, daß Skar Mühe hatte, die Worte überhaupt zu verstehen. »Die Nachricht von eurer Ankunft ist rasch bis nach Ipcearn vorgedrungen. Logar handelt auf direkten Befehl der Könige. Er - das heißt, wir alle haben Order, euch so zuvorkommend wie möglich zu behandeln und euch jeden Wunsch zu erfüllen.«

»Und warum?« fragte Skar verwirrt. »Eure Könige kennen uns nicht einmal!«

»Sie kennen dich nicht, Skar, aber sie kennen Männer wie dich. Ich dürfte es dir nicht sagen, aber es ist ein Befehl, euch mit aller Macht zum Bleiben zu überreden. Wir ... brauchen euch. Dich!« Sie senkte erneut den Blick und fuhr fort, unsichtbare Linien über den Lehmboden zu ziehen. Ihre Bewegungen wirkten fahrig und nervös. »Du wolltest es wissen«, flüsterte sie.

Skar nickte matt. Ihre Worte hatten wie eine kalte Dusche auf ihn gewirkt. Das sanfte, vertraute Gefühl der Geborgenheit, das bisher in ihm gewesen war, war erloschen wie eine Kerzenflamme, über die der Wind bläst, und zurück blieben nur Leere und Enttäuschung. Aber was hatte er erwartet? Er hä tte sich mit dem zufriedengeben sollen, was er hatte, aber er hätte weiter fragen und bohren und graben müssen, lange genug, um sich selbst alles zu zerstören.

»Hast du mich ... deshalb mitgenommen?« fragte er stockend. »Hierher?« Coars Kopf flog mit einem zornigen Ruck in den Nacken. Ihre Lippen bebten, und für einen winzigen Moment glaubte Skar einen feuchten Schimmer in ihren Augen zu entdecken. Aber ihre Stimme klang beherrscht, als sie antwortete. »Nein, Skar. Ich habe versprochen, mich um dich zu kümmern, das stimmt. Doch man kann einen Befehl auch mit Freude ausführen, und es gibt Befehle, die sich mit den eigenen Wünschen decken. Ich dachte, ich könnte die Pflicht mit ... mit ...« Sie brach ab, ballte in stummer Wut die Faust und murmelte ein Wort in ihrer Heimatsprache. Dann schüttelte sie den Kopf und raffte sich zu einem matten Lächeln auf. »Wir sitzen da und reden und reden und machen mehr kaputt, als vielleicht jemals zwischen uns existiert hat«, murmelte sie. »Ich benehme mich wie ein kleines Mädchen, und -«

Skar beugte sich zu ihr hinüber, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und verschloß ihre Lippen mit einem Kuß. Für einen Moment versteifte sich ihr Körper, dann erwiderte sie seine Umarmung, stürmisch und mit einer Kraft, die ihm mehr als alle Worte sagte, daß sie die ganze Zeit darauf gewartet hatte, daß er genau dies tat.

Es dauerte lange, bis sie sich wieder voneinander lösten, beide außer Atem und fast überrascht von ihrem eigenen Tun.

»Nimm mich so, wie du willst«, flüsterte sie. »Als Freund, als Kamerad oder als Frau, aber sag nie wieder, daß -«

Skar legte ihr sanft den Finger über die Lippen. »Nicht«, murmelte er. »Sprich es nicht aus. Ich habe schon zuviel dummes Zeug geredet.«

»Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, wenn wir aufhören würden, uns ständig gegenseitig um Vergebung für irgend etwas zu bitten«, schlug Coar vor. »Dabei geht viel zuviel Zeit verloren.« Sie ließ sich zurücksinken, zog ihn mit sanfter Gewalt zu sich herab und küßte ihn noch einmal, sanfter diesmal und voller Zärtlichkeit.

Skars Finger glitten scheu über ihren Körper. Er spürte, wie sie unter der Berührung erschauerte, zog die Hand zurück und streichelte sie dann erneut. Coar schlang die Arme um seinen Oberkörper und preßte ihn eng an sich.

Eine Bewegung unter der Tür ließ ihn zusammenzucken. Skar fuhr herum, setzte sich hastig auf und tauschte einen verwirrten Blick mit Coar.

»Was ...?« machte sie. Sie folgte seinem Blick und lächelte flüchtig, als sie die Gestalt unter der Tür erkannte. Es war der Knabe, dem Skar bereits am Tage begegnet war. Er hatte nicht gehört, wie er das Haus betreten hatte.

»Besharin!« sagte Coar streng. »Toman gesh kah twest? Besh!«

Cornec trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und sah abwechselnd Skar und Coar an. Er versuchte etwas zu sagen, aber Coar unterbrach ihn fast sofort und machte eine eindeutige Geste zur Tür. Der junge hob trotzig den Kopf, wandte sich aber dann doch um und verließ, wenn auch provozierend langsam, den Raum.

»Sei ihm nicht böse, Skar«, bat Coar, als der Junge endgültig gegangen war. »Er ist ein Kind. Und er wartet seit Tagen auf eine Gelegenheit, dich näher kennenzulernen.«

Skar lächelte gequält. »Ich habe bereits mit ihm gesprochen«, sagte er. »Gestern.«

»Ich weiß«, nickte Coar. »Er hat es mir erzählt. Er ist sehr stolz darauf, weißt du?«

»Wer ist er?« fragte Skar, durch Coars Worte neugierig gemacht.

Coar lächelte. »Mein Sohn.«

»Dein - Sohn?!« echote Skar verblüfft. »Du hast einen ... ein Kind? Du bist verheiratet?«

Coar stemmte sich auf die Ellbogen hoch und überlegte einen Moment. »Verheiratet? Was meinst du damit?«

»Aber du hast ein Kind, und ... ich meine ... wer ... wer ist der Vater?«

»Bernec«, erklärte Coar ruhig.

»Bernec!« ächzte Skar. »Bernec ist dein Mann?«

»Mein Mann?« wiederholte Coar ungläubig. »Ich verstehe dich nicht, Skar. Was meinst du damit - mein Mann? Wie kann ein Mensch einem anderen gehören? Ist das in deiner Heimat so Sitte?«

»Natürlich nicht«, versicherte Skar hastig. »Ich dachte nur ... verzeih, wenn ich verwirrt bin. Aber Bernec und du ...«

»Wir mögen uns«, erklärte Coar ruhig. »Und wenn man sich gern hat, lebt man eine Weile zusammen, so wie wir, vielleicht. Ich wollte ein Kind, und Bernec ist jung und gesund, so daß ich deine Verwunderung nicht verstehe.«

»Aber Cornec ist schon so alt«, murmelte Skar hilflos.

»Er ist neun«, sagte Coar, »und ich war sechzehn, als ich ihn bekam. Ein normales Alter.«

»Dann bist du jetzt fünfundzwanzig. Ich hielt dich für jünger.«

Coar seufzte, griff nach seinen Schultern und zog sich daran hoch. »Laß uns später darüber reden, Skar«, sagte sie leise. »Morgen ist Zeit genug, über Bernec und Cornec und alle anderen Dinge zu reden.«

Skar resignierte und gab sich ihrer Umarmung hin.

Für die nächsten zwei Stunden vergaß er fast, daß er überhaupt reden konnte.

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