3.

Sar löste mit spitzen Fingern den Verband von Dels linker Schulter und betrachtete kopfschüttelnd die Wunde. Sie sah nicht gut aus. Der Axthieb hatte das Schulterblatt zwar nicht gespalten, aber die Klinge hatte den Knochen gebrochen, war daran abgeglitten und eine Handbreit tief ins Fleisch gedrungen, so daß ein fast handtellergroßer Fleischlappen gelöst worden und die Wunde brandig und entzündet war. Del würde den Arm verlieren, wenn er nicht schnell zu einem Heilkundigen kam. Vielleicht würde er sogar sterben.

Er tauchte den schmutzigen Lappen, der ihm als Verband diente, ins Wasser, versuchte vergeblich, den gröbsten Schmutz herauszuwaschen, und träufelte schließlich eine Handvoll der braunen, übelriechenden Brühe auf die Wunde. Der Anblick des schlammigen Wassers hätte jedem, der das Wort Hygiene auch nur vom Hörensagen kannte, die Haare zu Berge stehen lassen. Aber es war das Beste, was sie hatten. Und die Wunde war bereits so stark entzündet, wie es nur ging. Del verzog das Gesicht. »Willst du mich umbringen?«

Skar grinste. »Stell dich nicht so an. Vor ein paar Stunden hättest du mir für einen Schluck Wasser noch kalilächelnd die Kehle durchgeschnitten, und jetzt beklagst du dich.« Er schüttelte den Kopf, tauchte den Verband abermals unter und legte ihn dann so behutsam wie möglich auf die Wunde. Del stöhnte leise.

»Das ist zwar alles andere als gut«, murmelte Skar, als er fertig war, »aber immer noch besser als nichts. Für dich wird es reichen«, fügte er scherzhaft hinzu. Del richtete sich schwerfällig auf den rechten Ellbogen auf und verrenkte sich halbwegs das Genick, um Skars Werk zu begutachten. »Du hättest Heilkundiger werden sollen«, meinte er nach einem prüfenden Blick. »Auf diese Weise hättest du mindestens ebenso viele Leute umbringen können wie jetzt. Vielleicht sogar mehr.« Er versuchte aufzustehen, aber Skar schob ihn mit sanfter Gewalt zurück. »Bleib liegen. Du bist noch lange nicht kräftig genug, um aufzustehen.«

Del grinste schief. »Soll ich dir beweisen, wie stark ich bin, alter Mann?«

Skar seufzte. »Lieber nicht. Du könntest dir weh tun, weißt du.« Er lächelte, erhob sich in die Hocke und stützte die Hände auf den Oberschenkeln auf. »Ich möchte wissen, welche Sünden meine Vorfahren auf sich geladen haben, daß ich mit dir bestraft wurde«, sagte er weinerlich. »Die Welt ist ungerecht.« Er stemmte sich ächzend hoch, reckte sich ausgiebig und ging dann steifbeinig zum Waldrand hinüber. Er war nackt wie Del. Sie hatten ihre Kleider zum Trocknen ausgebreitet, aber in der schwülwarmen Luft schienen sie fast noch feuchter geworden zu sein. Skar betrachtete die zerschlissenen Fetzen voller Abscheu. Die schmal geschnittenen, knielangen Hosen, die zusammen mit den hüftlangen Umhängen und der breiten, bestickten Schärpe - dem einzig wirklich auffallenden Kleidungsstück eines Satai - ihren gesamten Besitz darstellten, wenn man von ihren Waffen und den wuchtigen Lederharnischen absah, wären daheim in Ikne nicht einmal mehr von einem Bettler getragen worden. Sie waren schon nicht mehr ansehnlich gewesen, als sie aufgebrochen waren, aber fünf Tage Wüste hatten ihnen vollends den Garaus gemacht. Skar nahm den schmuddeligen braungefleckten Fetzen, der einmal seine Hose gewesen war, auf, wog ihn sekundenlang nachdenklich in der Hand und warf ihn dann mit einem Achselzucken von sich. Er würde Sandalen, Lendenschurz und Harnisch behalten und den Rest hier zurücklassen. Ganz abgesehen von ihrem zerfetzten Aussehen stanken Hose und Umhang im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel. Er hatte fast eine Stunde in der schlammigen Brühe gebadet, aber selbst das hatte den dickverkrusteten Dreck nicht vollends herunterwaschen können.

Er bückte sich, hob sein Schwert auf und wog es einen Herzschlag lang prüfend in der Hand. Das Tschekal war der einzig wertvolle Besitz, den ein Satai im allgemeinen hatte. Keiner außerhalb der Kriegerkaste Enwors hatte das Recht, die heilige Waffe der Satai zu führen, und diese Regel war eine der wenigen, die Skars Wissen nach immer und überall eingehalten wurde. Die Waffe sah zerbrechlich aus - ein schlankes, zweischneidiges Schwert von etwas mehr als einem Meter Länge mit einer rasiermesserscharfen Spitze und einem breiten, nach vorne gebogenen Handschutz, mit dem man die Waffe seines Gegners verkanten und zurückdrängen konnte - aber der leicht bläulich schimmernde Stahl vermochte jeden noch so harten Harnisch zu zerschlagen, als bestünde er aus dünnem Papier. Niemand, nicht einmal die Satai selbst wußten, woher diese Waffen kamen und wer sie schmiedete. Der Hohe Rat der Satai behütete und verteilte sie, und es gab keine Möglichkeit, ein solches Schwert zu erhalten, wenn man es nicht von einem der Dreizehn Mächtigen persönlich bekam.

Skar fuhr ansatzlos herum und schleuderte die Waffe aus dem Handgelenk von sich. Sie verfehlte den Baum, auf den er gezielt hatte, um ganze zwei Meter und fuhr mit einem saugenden Geräusch in den Boden.

Skar schüttelte den Kopf. Die paar Stunden Ruhe, die sie genossen hatten, waren lange nicht genug. Es würde Wochen, wenn nicht Monate dauern, ehe er seine alte Form wiedergefunden hatte.

Er löste sich lustlos von seinem Platz, zog das Schwert aus dem Boden und rammte es neben seinen Kleidern in einen Baumstamm.

Del sah auf, als er zum See zurückkam. »Du übst schon wieder?«

»Warum nicht? Ich bin nicht mehr in Form. Und du auch nicht.«

Del grinste. »Ich frage mich nur, gegen wen du kämpfen willst. Gegen Baumgeister?«

»Nein. Aber vielleicht gegen die, denen die Bäume gehören«, gab Skar gereizt zurück. Dels offenkundiges Desinteresse ärgerte ihn. Er setzte sich, steckte die nackten Zehen ins Wasser und ballte die Fäuste. Etwas Weiches, Schleimiges berührte seine Füße und begann mit zahnlosen Lippen daran zu zupfen. Die Wasseroberfläche kräuselte sich, und Skar erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen langen, dunkelbraunen Körper und eine schwebende Wolke gezackter Flossen. Angeekelt zog er die Beine an den Körper und stützte das Kinn auf die Knie.

»Dieser Wald ist bewohnt«, sagte er nach einer Weile.

»Na und?« Del lachte leise, aber es war eine Spur von Nervosität in seiner Stimme, die die Worte von vornherein Lügen strafte. »Ich habe keine Angst vor Gärtnern. Du siehst zu schwarz, Skar. Schließlich haben wir niemandem etwas getan. Warum sollten sie uns angreifen?«

»Warum haben uns die Quorrl angegriffen?« gab Skar zurück. »Wir hatten ihnen auch nichts getan, oder? Aber das spielt auch gar keine Rolle, und das weißt du genausogut wie ich. Wir müssen sowieso nach den Bewohnern dieses Waldes suchen. Ob sie uns nun wohlgesonnen sind oder nicht. Wir können nicht tagelang unentdeckt bleiben, und es ist vielleicht besser, wir kommen zu ihnen, bevor sie zu uns kommen.«

»Wir können ebensogut bis Sonnenaufgang warten und uns davonschleichen«, widersprach Del. »Dieser Wald ist groß genug, um eine ganze Armee verstecken zu können.«

»Du vergißt deine Schulter.«

Del machte eine unwillige Bewegung. »Die wird schon wieder. Ich habe schon Schlimmeres überlebt. Und du auch.«

Skar verzichtete auf eine Antwort und berührte Del statt dessen flüchtig an der Schulter. Del schrie auf und warf sich zurück.

»Noch Fragen?«

Del raffte eine Handvoll Sand auf und warf sie Skar ins Gesicht.

Skar hustete, rieb sich fluchend die Augen und kroch rückwärts davon.

»Irgendwann«, drohte er, »vergesse ich meine gute Erziehung und versohle dir den nackten Hintern, Kleiner. Du hast Glück, daß du verletzt bist.«

»Oh, nur zu«, meinte Del. »Nimm darauf bitte keine Rücksicht.«

Skar schüttelte den Kopf. »Ich vergreife mich nicht an Krüppeln.«

Dels Antwort bestand aus einem leisen, spöttischen Lachen.

Skar grinste zurück, setzte sich wieder auf und umschlang die Knie mit den Armen. Sein Blick tastete wieder über die dunkle, massive Wand des Waldes. Er fühlte sich innerlich frei und entspannt wie schon seit langem nicht mehr. Die unbestimmbare Angst, die er beim Betreten des Waldes verspürt hatte, war verschwunden. Aber die Erinnerung daran war noch da. Skar wußte, daß die Hochstimmung, in der sie waren, trog und noch dazu gefährlich war. Das Wasser und die wenigen Augenblicke Ruhe, die sie gehabt hatten - weit weniger, als er bisher geglaubt hatte, wie ihm ein rascher Blick in den Himmel sagte -, gaukelten ihm eine Erholung vor, die es nicht gab. Er war immer noch erschöpft. Ein weniger gut trainierter Mann wäre unter den Belastungen der letzten Tage längst zusammengebrochen, und selbst er spürte, daß er sich den Grenzen seiner Leistungsfähigkeit bedenklich näherte. Er konnte nur hoffen, daß die Bewohner dieses Waldes - wer immer sie waren - sie freundlich aufnahmen. Weder er noch Del waren in der Lage, einen ernstgemeinten Kampf gewinnen zu können. Er stand auf und fuhr sich mit einer müden Bewegung durch das Haar. Dann begann er sich langsam und widerwillig anzuziehen; zuerst den Lendenschurz, dann die geschnürten Sandalen, zum Schluß den schweren, steinharten Lederpanzer. Sein Gewicht ließ ihn aufstöhnen, aber er wäre sich ohne ihn nackt und schutzlos vorgekommen. Er band seine Schärpe um, rammte das Schwert in die Scheide zurück und schlenderte langsam zu Del hinüber.

»Zieh dich an«, sagte er mürrisch, nachdem er ihm Harnisch und Sandalen vor die Füße geworfen hatte.

Del rührte sich nicht. »Warum so eilig?« fragte er. »Laß uns noch ein paar Stunden ausruhen. Ich bin müde.«

Skar schwieg gehorsam. Im Grunde hatte Del recht. Logisch betrachtet, war es Wahnsinn, jetzt weiterzugehen. Aber in ihm war noch immer diese seltsame drängende Unruhe, keine Furcht mehr jetzt, aber dafür ein immer stärker werdendes Gefühl der Unrast. Er spürte einfach, daß es besser war, so schnell wie irgend möglich von hier zu verschwinden.

Del deutete sein beharrliches Schweigen schließlich richtig. Er schüttelte ergeben den Kopf, angelte nach seinen Kleidern und begann sich umständlich im Sitzen anzuziehen. Hose und Umhang ließ er, Skars Beispiel folgend, achtlos liegen. »Schade, daß wir unsere Wasserschläuche nicht mitgenommen haben«, murmelte er.

Skar rümpfte die Nase. Er hatte immer noch Durst, aber der faulige Geruch, den der Tümpel verströmte, hielt ihn davon ab, ihn zu stillen. »Wir werden schon Wasser finden«, sagte er mit gespielter Zuversicht. »Ich glaube nicht, daß dies der einzige See in diesem Wald ist.«

Del schnallte ungeschickt seinen Harnisch um und nickte. »Zur Not bitten wir jemanden um einen Krug Wein.«

»Ach? Und wen?«

Del deutete beiläufig auf den Waldrand hinter Skars Rücken.

»Vielleicht die dort«, sagte er beiläufig.

Skar brauchte eine halbe Sekunde, um seine Verblüffung zu überwinden und herumzufahren.

Hinter ihnen war ein halbes Dutzend kleiner, dunkel gekleideter Gestalten aus dem Wald getreten.

Skar schluckte verblüfft. Er hatte nicht das geringste Geräusch gehört. Die Männer mußten lautlos wie Geister aus dem Wald getreten sein - wenn es Männer waren. Das Licht war zu schlecht, als daß Skar ihre Gesichter hätte erkennen können, aber ihre Gestalten erschienen ihm auffallend schmal und zerbrechlich. Eher wie die von Frauen oder Knaben. Sechs oder acht - eine stumme Reihe, kaum eine Armeslänge vor dem Waldrand und mindestens ebenso verblüfft wie er. »Wir sollten unsere ... Besucher begrüßen«, sagte Del stokkend.

Skar brachte ihn mit einer unwilligen Geste zum Schweigen. Die Fremden waren beim Klang von Dels Stimme sichtlich zusammengezuckt. Eine vage, im einzelnen nicht zu erkennende Bewegung ging durch die Reihe. Einer von ihnen sagte etwas und bewegte dazu die Hände. Seine Stimme klang dumpf, die Sprache war schnell und unverständlich.

Skar löste sich endlich aus seiner Erstarrung, breitete die Arme aus und drehte die leeren Handflächen nach außen. Die Geste sollte beruhigend wirken, aber er erreichte genau das Gegenteil. Erst einer, dann wandten sich in rascher Folge alle anderen Fremden zur Flucht und verschwanden so lautlos im Wald, wie sie aufgetaucht waren.

Skar hetzte mit ein paar Schritten zum Waldrand und blieb mit einem gemurmelten Fluch stehen. Von den Männern war keine Spur mehr zu sehen. Er glaubte ein leises Geräusch zu hören, aber nicht einmal dessen war er sich sicher. Der Wald hatte die Gestalten verschluckt. In ihren dunklen, grünbraun gemusterten Kleidern waren sie in dieser Umgebung praktisch unsichtbar. Er hätte sie nicht einmal bemerkt, wenn sie unmittelbar an ihm vorübergelaufen wären. Skar fluchte ungehemmt vor sich hin. Die erste Begegnung war anders verlaufen, als er sich gewünscht hätte. Die Männer hatten eindeutig Angst vor ihnen gehabt. Er bückte sich und suchte den Waldboden nach Spuren ab. Natürlich waren keine da, aber die Fremden hatten einen Teil ihrer Ausrüstung zurückgelassen, die er mit Interesse begutachtete. Körbe voller kleiner, beerenartiger Früchte, hölzerne Schalen und feinmaschige Netze aus geflochtenem Gras, in denen Klumpen einer grauen, fleischigen und übelriechenden Masse waren. Pilze wahrscheinlich, wenngleich sich Skar nicht vorstellen konnte, daß das Zeug eßbar war.

Er nahm eine Frucht aus einer der Schalen und drehte sie nachdenklich in der Hand. Sie erinnerte vage an die Caba-Fruchte, die reisende Händler manchmal auf dem Markt von Besh anboten, waren aber von dunklerer Farbe und nicht so fest wie diese. Er zögerte, zuckte dann fatalistisch mit den Achseln und biß hinein. Die Frucht würde kaum giftig sein.

Das Fleisch schmeckte süß und angenehm, wenn auch fremd und mit einem leichten pfefferminzartigen Beigeschmack. Er kaute den ersten Bissen vorsichtig, warf dann alle Bedenken über Bord und schob sich den Rest der Frucht in den Mund.

»Nicht besonders mutig, diese Waldmenschen, wie?« fragte Del spöttisch. Skar sah auf. So, wie er und Del aussahen, war es kein Wunder, daß die Waldbewohner Hals über Kopf die Flucht ergriffen hatten. Gegen die kleinwüchsigen Männer war selbst er ein Riese. Del mit seinen fast sieben Fuß mußte ihnen wie ein Gigant vorkommen - ein bewaffneter, verwahrloster und barbarischer Gigant noch dazu.

»Wir sollten versuchen, sie einzuholen«, sagte er kauend. »Sie werden wiederkommen. Sie oder andere.«

Del langte nach einer Frucht. »Das glaube ich kaum. Sie sind gerannt, als wäre eine ganze Kompanie Sshrilc hinter ihnen her.« Er wischte die Frucht nachlässig an seinem Harnisch ab und biß herzhaft hinein.

»Trotzdem.« Skar schüttelte den Kopf und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Sein Magen knurrte hörbar. Die winzige Frucht hatte seinen Hunger nicht gestillt, sondern erst richtig geweckt. »Wir müssen hinterher. Sie werden irgend etwas unternehmen.« Er machte eine weit ausholende Geste, nahm sich eine zweite Frucht und fuhr fort: »Unterschätze diese Leute nicht. Sie haben das hier geschaffen. Jemand, der zu so etwas fähig ist, kann nicht dumm oder schwach sein.«

Del antwortete nicht. Er stopfte sich eine weitere Frucht samt Stiel und Kernen in den Mund, schmatzte hörbar und suchte den Waldboden ab. Skar wartete geduldig, bis er eine Handvoll Früchte aufgelesen und unter seinen Harnisch geschoben hatte.

Dann gingen sie los; Del an der Spitze, Skar mit gezückter Waffe zehn Schritte hinter und etwas neben ihm - eine Marschordnung, die sie schon vor so manch unangenehmer Überraschung bewahrt hatte.

Der Wald nahm an Dichte zu, je tiefer sie eindrangen. Die Bäume rückten enger zusammen, und auch das Unterholz wucherte bald ungezügelt und bar jeder künstlichen Regelmäßigkeit. Ein Schwarm kleiner, dunkler Nachtvögel stob kreischend aus den Baumwipfeln hoch und begleitete sie eine Weile mit Schimpfen und Protestieren, und einmal brach etwas Dunkles und Wuchtiges durch die Büsche und fauchte drohend, ergriff aber die Flucht, als Skar einen Ast nach ihm schleuderte.

Sie marschierten etwa eine Stunde weit, ohne auf das geringste Anzeichen menschlichen Lebens zu stoßen. Schließlich blieb Skar stehen und gab Del ein Zeichen, zu ihm zu kommen. Der Jüngere wandte sich widerwillig um und trat neben ihn.

»Es hat keinen Sinn, einfach aufs Geratewohl weiterzustolpern«, murmelte Skar. »Wir müssen mehr über unsere Umgebung herausfinden.«

Del lächelte. »Und wie gedenkst du dies zu bewerkstelligen, großer Meister?« Skar überging den Spott in Dels Stimme wortlos. Er schob sein Schwert in den Gürtel zurück, trat an einen der regelmäßig wachsenden Stämme und schlug klatschend mit der Handfläche dagegen. Die Rinde fühlte sich seltsam glatt und fest an.

Neugierig geworden, beugte er sich hinunter und versuchte, in der unsicheren Dämmerung hier am Grunde des Waldes mehr Einzelheiten zu erkennen. Die Rinde sah aus wie eine ganz normale Baumrinde - borkig, zerfurcht und mit einer Unzahl winzigen Narben und Risse übersät; eine miniaturisierte Landkarte mit Flüssen und Tälern und Hügeln und Ebenen, angelegt vom geduldigen Wuchs der Natur und unzähligen Jahren voller Stürme und Regen, Wind und Kälte. Das Holz fühlte sich fest und rauh an, und als er versuchte, es mit dem Fingernagel zu ritzen, gelang es ihm nicht.

Er spuckte sich demonstrativ in die Hände, federte ein paarmal in den Knien ein und sprang mit ausgestreckten Armen nach dem untersten Ast.

»Halt die Augen offen«, sagte er, während er - sich wie ein Baumaffe mit Händen und Füßen festklammernd - darauf wartete, daß der dünne Ast aufhörte zu wippen. »Ich möchte keine Überraschung erleben, wenn ich zurückkomme.« Del postierte sich mit gezücktem Schwert unter dem Baum, während Skar mit vorsichtigen Bewegungen weiterkletterte. Die weit ausladenden Äste wurden dicker, je weiter er nach oben kam, aber sie waren nicht annähernd so stabil, wie Skar gehofft hatte. Der Baum ächzte und bebte unter seinem Gewicht, und mehr als nur einmal konnte er sich nur im letzten Moment am Stamm festklammern, wenn ein Ast unter seinem Gewicht nachgab und abbrach. Trotzdem kam er gut voran und erreichte schon nach wenigen Minuten den Wipfel. Der mannsdicke Stamm gabelte sich hier oben, und in dem so entstandenen Winkel fand er einen einigermaßen sicheren Halt.

Irgend etwas Kleines, Pelziges stob quiekend davon, als er die Hände ausstreckte und nach einer bequemeren Position suchte. Skar erhaschte einen flüchtigen Blick auf große, feuchtschimmernde Augen, einen buschigen Schweif und winzige fünfzehige Krallen, die fast wie kleine Hände aussahen und dem Tier ein bedrückend menschliches Aussehen gaben.

Skar starrte sekundenlang mit klopfendem Herzen auf die Stelle zwischen den Blättern, an der das Baumwesen aufgetaucht war. Dann lächelte er. Er war nicht einmal auf die Idee gekommen, daß der Baum bewohnt sein könnte. Er hatte Glück gehabt. Nicht jeder Bewohner dieser grünen, undurchdringlichen Ebene hoch über dem Waldboden mochte so harmlos sein wie dieser kleine Kerl eben. Der Vorfall zeigte ihm deutlich, wie weit er noch davon entfernt war, seine normale Form wiedergefunden zu haben. Normalerweise wäre ihm ein so grober Schnitzer nicht unterlaufen. Nicht einmal Del hätte sich so leichtsinnig verhalten. Vorsichtiger geworden, blieb er eine volle Minute lang reglos in der Astgabel hocken und lauschte mit geschlossenen Augen. Der Baum war erfüllt von vielfältigen Geräuschen - Blätter rieben sich raschelnd aneinander, Äste bogen sich unter der sanften und doch machtvollen Hand des Windes oder ächzten unter dem Gewicht seines Körpers. Irgendwo knackte etwas, leise, monoton und fast zu regelmäßig, um noch natürlichen Ursprungs zu sein, und es dauerte lange, bis Skar das Geräusch identifizieren konnte: Wasser; das auf einen Zweig tropfte. Mit einem entschlossenen Ruck griff er nach oben und zog sich auf den schwankenden Halt eines überhängenden Astes hinauf. Blätter fuhren raschelnd über sein Gesicht und seine nackten Schultern; ein angenehmes und beinahe sinnliches Gefühl wie das Streicheln samtiger Finger. Er verharrte einen Moment auf seinem unsicheren Halt, löste dann vorsichtig die Rechte vom Ast und schob sich behutsam höher. Der Stamm schien unter seinem Gewicht zu vibrieren, sich zu schütteln und leise und unwillig zu stöhnen, als wäre der Baum ein lebendiges Wesen, das den Fremdkörper abzuschütteln versuchte.

»Skar?« Dels Stimme drang nur gedämpft durch das dichte Blattwerk hinauf. Trotzdem hörte Skar den besorgten Unterton darin. »Alles in Ordnung da oben?« Skar schüttelte unwillig den Kopf. »Es wird nicht mehr lange so bleiben, wenn du weiter den halben Wald zusammenbrüllst«, gab er schärfer zurück, als nötig gewesen wäre. In dem schattigen, gedämpften Schweigen des Waldes mußten Dels Worte meilenweit zu hören gewesen sein.

Er hangelte sich weiter nach oben und stieß schließlich mit Kopf und Schultern durch die Blätterdecke.

Der Anblick war überwältigend.

Rings um ihn herum erstreckte sich eine wellige, von dunklen Schattentälern durchzogene See an Grün in allen nur denkbaren Schattierungen. Der tiefhängende Sternenhimmel verschmolz irgendwo im Westen mit dem Wald, und die Blätter schienen das Licht nicht zu reflektieren, sondern aufzusaugen. Skar stemmte sich ein Stück weiter nach oben und drehte den Kopf. Sie waren bereits tiefer in den Wald vorgedrungen, als er geglaubt hatte - die dünne, safrangelbe Linie der Wüste war nur noch als schmaler Strich vor dem nahegerückten Horizont zu erkennen; wenig mehr als die bereits halb verblaßte Erinnerung an einen Alptraum, der mit jeder Sekunde weniger real erschien. Er begann sich langsam im Kreis zu drehen, um einen möglichst umfassenden Eindruck von ihrer Umgebung zu erhalten. Der Wald mußte gewaltig sein - die dünne Wüstenlinie im Westen stellte die einzig sichtbare Begrenzung dar, in allen anderen Richtungen verschmolz der erstarrte grüne Ozean mit dem Himmel oder verlor sich irgendwo in unbestimmbarer Entfernung in wogenden Schatten. Ihre Vermutung, es mit einer, wenn auch gewaltigen, Oase zu tun zu haben, war falsch. Dies hier war das Ende der Nonakesh, eine gewaltige, von Leben strotzende Landschaft, die vor ihnen vielleicht noch kein Mensch betreten hatte. Diese oberste Ebene des Waldes war flach. Es gab schmale, an mit mathematischer Akribie gezogene Kanäle und Schluchten erinnernde Zwischenräume, die Flußläufe oder Lichtungen darstellen mochten, aber die Bäume schienen ausnahmslos in der gleichen Höhe gewachsen zu sein. Ein Umstand, der seinen Verdacht bestätigte. Die Gewaltigkeit des Waldes ließ den Gedanken zwar fast erschreckend erscheinen, aber er war zu regelmäßig, um noch natürlich zu erscheinen.

Skar hielt konzentriert nach Anzeichen menschlicher Besiedlung Ausschau, doch seine Suche verlief ergebnislos. Aber das hatte er bereits halbwegs erwartet. Unter dem saftigen grünen Dach des Waldes konnten sich ganze Königreiche verbergen. Jemand, der in der Lage war, so etwas zu erschaffen, war zweifellos auch dazu fähig, sich zu tarnen.

Skar zuckte enttäuscht die Schultern und begann vorsichtig von seinem Ausguck herunterzusteigen. Sie würden weiter auf ihr Glück und den guten Willen der Waldmenschen vertrauen müssen.

Del erwartete ihn mit offenkundiger Ungeduld. »Du warst verdammt lange dort oben«, sagte er verärgert. Er trat zurück, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte nach oben, als könne er etwas erkennen, was Skar verborgen geblieben war.

»Nun?«

Spar schüttelte andeutungsweise den Kopf. »Gehen wir weiter«, sagte er anstelle einer direkten Antwort.

Del schürzte die Lippen. »Sehr gesprächig bist du nicht«, sagte er. »Ich - runter!« Er sprang zur Seite und gab Skar gleichzeitig einen wuchtigen Stoß vor die Brust, der ihn zurücktaumeln und unsanft zu Boden stürzen ließ. Irgend etwas zischte mit häßlichem Geräusch durch die Luft und grub sich tief in den Stamm des Baumes, vor dem er gestanden hatte. Skar rollte über die Schulter ab, sprang auf die Füße, riß schützend den Arm vors Gesicht und riß gleichzeitig sein Schwert aus dem Gürtel.

Am gegenüberliegenden Waldrand glitzerte Metall. Der Wald erwachte von einer Sekunde zur anderen zum Leben. Ein großer, massiger Umriß erschien zwischen den Bäumen, stand eine halbe Sekunde lang reglos und schob sich dann auf die Lichtung hinaus.

Ein Reiter.

Del hob kampflustig sein Schwert und bewegte sich geduckt auf den Reiter zu. »Nicht«, sagte Skar leise.

Del verstand. Er nickte unmerklich, blieb stehen und warf Skar einen nervösen Blick zu. Seine Lippen waren zu einem schmalen, blutleeren Strich zusammengepreßt.

»Es ist sinnlos«, murmelte Skar. »Sieh dort hinüber.« Hinter dem ersten Reiter waren andere aus dem Wald gebrochen - sieben, acht, schließlich ein Dutzend. Und die schattige Dunkelheit dahinter mochte noch mehr bergen. Es waren die gleichen kleinen, zerbrechlichen Gestalten wie beim ersten Mal, aber sie wirkten entschieden gefährlicher als die braungekleideten Waldleute, die ihnen am Waldrand begegnet waren; klein, schmalschultrig und drahtig hockten sie mit einer Art selbstverständlicher Eleganz auf ihren Tieren, die sie wie mit den Sätteln verwachsen erscheinen ließ. Und die Reiter waren gepanzert. Schmale, liebevoll ziselierte Brustschilde schützten ihre Körper, Arme und Beine steckte in eng anliegenden Metallschienen, und die Gesichter verbargen sich hinter wulstigen Helmen, die ihre Köpfe bis auf die Schultern hinab bedeckten und nur einen schmalen, bis weit in die Schläfe hinaufgezogenen Schlitz über den Augen freiließen. Die Gesichtsmasken hatten die Form spitzer, nach vorne gezogener Rattenschnauzen.

Skar wich langsam zurück. Seine Hand krampfte sich fester um den Schwertgriff, während er verzweifelt nach einem Fluchtweg Ausschau hielt. Es gab keinen. Die kleine Lichtung war für einen Hinterhalt geschaffen. Obwohl nach allen Seiten offen, war sie doch von einer fast undurchdringlichen Mauer dichten, verfilzten Unterholzes umgeben, in dem sie hoffnungslos steckenbleiben würden, während ihre Verfolger ihre gepanzerten Tiere mit Leichtigkeit hindurchtreiben konnten. Schlagartig wurde ihm klar, daß die Anlage der Lichtung keineswegs bloßer Zufall war. Sie war sorgfältig geplant und von der Hand eines geschickten Gärtners erschaffen worden, so daß ihr künstlicher Charakter nur bei allergenauestem Hinsehen auffiel. Eine Falle, eine von wahrscheinlich unzähligen Fallen, die auf jeden Fremden lauerten, der in das schattige Reich der Waldmenschen einzudringen wagte.

Die Reiter lenkten ihre Tiere in weitem Bogen um die beiden Eindringlinge herum und formierten sich zu einem lockeren Kreis, der sich langsam zusammenzuziehen begann. An eine Flucht war nicht einmal mehr zu denken. Skars Blick tastete besorgt über die langen, gefährlich aussehenden Spieße, mit denen die Reiter bewaffnet waren. Gegen einen nur mit Schwert und Schild bewaffneten Reiter mochte ein Mann zu Fuß eine gute Chance haben - gegen ein Dutzend Lanzenträger nicht.

Der Kreis zog sich langsam enger zusammen. Die Lautlosigkeit, mit der das Vorrücken der goldgepanzerten Reiter vonstatten ging, hatte etwas Unheimliches. Skar wäre fast wohler gewesen, wenn sie geschrien hätten. So aber rückten sie stumm vor, und selbst die Pferde schienen sich zu bemühen, leise aufzutreten und so wenig Geräusche wie nur irgend möglich zu verursachen.

Skar stellte sich Rücken an Rücken mit Del und hob abwehrbereit sein Schwert. Er spürte, wie sich Dels Rückenmuskeln spannten.

»Nicht«, sagte Skar leise. »Eine falsche Bewegung, und sie machen uns nieder.« Der Vormarsch der Reiter kam zum Stehen. Sie waren dicht genug herangekommen, daß die Spitzen ihrer Lanzen beinahe Skars Brustharnisch berührten. Er überschlug blitzschnell ihre Chancen. Eine schnelle Drehung, ein Sprung unter den Spießen hindurch und direkt auf die Reiter zu - die ledernen Harnische mochten einem nicht zu kraftvoll geführten Stoß der zerbrechlichen Spieße durchaus standhalten - und dann mitten durch und ein paar von ihnen aus den Sätteln gehauen, ehe die anderen sich von ihrer Überraschung erholt hatten . . . Aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Die Männer machten nicht den Eindruck, als würden sie sich überrumpeln lassen. Ihre Haltung suggerierte Furcht, aber sie konnte genausogut Vorsicht bedeuten. Sie wären von einem Dutzend Lanzen durchbohrt, ehe sie auch nur zwei Schritte gemacht hätten.

Einer der Reiter löste sich aus der Formation und lenkte sein Tier dichter an Skar heran. »Norpah!« sagte er mit einer herrischen Handbewegung zu Skars Schwert. »Kama shah pankashul!«

Skar schüttelte langsam den Kopf. »Wir ... verstehen ... dich ... nicht«, sagte er ruhig. Er sprach jedes Wort deutlich und mit übermäßiger Betonung aus, damit, wenn der Reiter die Bedeutung der einzelnen Worte auch nicht begriff, ihm doch wenigstens ihr gemeinsamer Sinn klarwurde.

Die Augen hinter dem geschlitzten Visier blitzten ungeduldig auf. Der Reiter wiederholte seine Bewegung, diesmal mit mehr Nachdruck.

»Ich spreche eure Zunge nicht«, sagte Skar geduldig und in dem Versuch, seiner Stimme einen einigermaßen unbeteiligten Klang zu verleihen. Es gelang ihm nur halb. »Versteht ihr mich?«

Der Reiter überlegte einen Moment und nickte dann. »Ich verstehe dich«, antwortete er. Die Metallmaske vor seinem Gesicht verzerrte seine Stimme und verlieh ihr einen seltsam hohlen, widerhallenden Klang, aber Skar konnte trotzdem noch hören, wie schwer es dem Reiter fiel, die komplizierten Konsonanten und Vokale des Tekanda auszusprechen.

»Legt ... die Waffen ab!«

Skars Schwert senkte sich um eine Handbreit.

»Legt die Waffen ab, wenn ihr diesen Ort lebend verlassen wollt«, verlangte der Gepanzerte noch einmal. »Ich warne kein drittes Mal.«

Skar glaubte ihm. Er senkte sein Schwert vollends und registrierte nach einigen Sekunden erleichtert, daß Del es ihm gleichtat.

Durch den Kreis der Gepanzerten ging ein sichtliches Aufatmen. Offenkundig war ihnen die Vorstellung, gegen die beiden hünenhaften Männer kämpfen zu müssen, alles andere als angenehm gewesen.

Der Anführer lenkte sein Tier mit sanftem Schenkeldruck in die Phalanx der anderen zurück und machte eine stumme, befehlende Geste. Zwei Reiter schwangen sich aus den Sätteln und eilten herbei, um ihre Waffen aufzuheben. Skar ließ es widerstandslos geschehen, daß ihm Dolch und Wurfsterne aus dem Gürtel gezogen wurden.

»Jetzt die Panzer!«

Skar gehorchte auch diesmal. »Ihr mißversteht die Situation«, sagte er, während er umständlicher als nötig die ledernen Befestigungsriemen seines Harnfisches löste. »Wir sind friedliche Reisende, die sich in der Wüste verirrt haben und ...«

»Schweig! Du kannst später genug reden. Betrachtet euch als meine Gefangenen, bis wir in Went sind. Wenn ihr vernünftig seid, geschieht euch nichts.«

Skar nickte ergeben. Er wußte, wann er verloren hatte. Und eigentlich hatte er mehr erreicht, als er erwarten durfte. Sie waren Fremde in einem fremden Land, Eindringlinge, die das Hoheitsgebiet der goldenen Reiter ungefragt betreten hatten. Der äußere Schein sprach gegen sie. Für die Reiter waren sie nichts als zwei zerlumpte, bewaffnete Barbaren, die die strenge Schönheit des Waldes und seiner Bewohner schon allein durch ihre Anwesenheit beleidigten. Die Tatsache, daß die Männer außer ihrer Muttersprache auch das Tekanda beherrschten, bewies, daß sie nicht die ersten waren, die die Nonakesh überwunden und diesen Wald gefunden hatten. Und wahrscheinlich hatten diese Menschen schlechte Erfahrungen mit Fremden gemacht.

Sie mußten sich bis auf die Lendentücher ausziehen und wurden mit dünnen, zähen Ranken gefesselt. Die Anspannung wich erst aus der Gruppe, als sie sicher verschnürt im Kreis der Reiter standen.

Skar musterte die Männer genauer. Sie waren keine Kämpfer, das erkannte er jetzt. Und er sah auch, daß sie mindestens ebensoviel Angst vor ihnen hatten wie umgekehrt. Ihr martialisches Äußeres und die Waffen täuschten nicht darüber hinweg, daß sie wenig oder vielleicht gar keine Kampferfahrung hatten. Del und er waren nur an den Händen gefesselt. Ihre Bezwinger hätten sich gewundert, wenn sie gewußt hätten, was ein entschlossener Mann mit Füßen, Knien und Ellbogen anrichten konnte.

Sie hatten sich überrumpeln lassen, aber die Erkenntnis kam zu spät.

Der Anführer stieg umständlich von seinem Pferd und bückte sich nach Skars Waffe. In seinen Händen wirkte die Klinge riesig, als hätte ein Kind eine Gigantenwaffe in die Finger genommen, um damit zu spielen.

»Wenn er damit ausholt«, flüsterte Del spöttisch, »wird er das Gleichgewicht verlieren und hintenüberfallen.«

Der Mann legte das Schwert zurück und betrachtete Skar eindringlich. Er war so klein, daß er dazu den Kopf in den Nacken legen mußte. Dann setzte er seinen Helm ab.

Skar ächzte verblüfft.

Langes, goldbraun schimmerndes Haar fiel in ungebändigten Locken über die Schulterstücke der Rüstung und umrahmte ein schmales, feingeschnittenes Gesicht. Der kupferfarbene Teint der Haut ließ die leicht schrägstehenden Augen darin dunkler erscheinen, als sie waren.

Der Reiter war kein Reiter, sondern eine Reiterin.

»Eine Amazone!« keuchte Del verblüfft.

Die Frau drehte beim Klang von Dels Stimme ruckartig den Kopf und sah ihn mit unverhohlenem Ärger an. Sie mochte die Worte nicht verstehen, aber Dels Tonfall war recht eindeutig. »Sag deinem Kameraden, daß er in einer Sprache zu reden hat, die ich verstehe«, herrschte sie ihn an.

»Sprich Tekanda«, sagte Skar, ohne den Blick von dem schmalgeschnittenen Gesicht der Frau zu nehmen. »Wenigstens so lange, wie sie in Hörweite ist.« Die Verblüffung auf Dels Gesicht wich langsam einem ironischen Grinsen. »Eine Frau«, sagte er noch einmal. »Das darf nicht wahr sein. Die beiden gefürchtetsten Satai von Ikne und Belagon lassen sich von einer Horde junger Mädchen übertölpeln!«

Wenn ihre Bezwingerin die Worte verstanden hatte, so ließ sie sich nichts anmerken. Ihre dunklen Augen fixierten Del abschätzend und hefteten sich dann wieder auf Skars Gesicht. »Dein Freund ist verletzt«, stellte sie fest.

Skar nickte. »Ziemlich schlimm, fürchte ich. Einer der Gründe, deretwegen wir herkamen.«

Ein seltsamer Ausdruck huschte über die Züge der jungen Frau. Skar hatte plötzlich den Eindruck, etwas ziemlich Dummes und noch dazu Falsches gesagt zu haben. Aber sie ging nicht weiter auf seine Worte ein.

»Unsere Heilerin wird sich um ihn kümmern«, sagte sie. »Das heißt, wenn wir euch nicht gleich am nächsten Baum aufknüpfen.«

Skar schluckte trocken. Aus dem Mund dieser zierlichen, mädchenhaften Frau hörten sich die Worte beinahe bedrohlicher an als aus anderen Mündern, die früher und bei anderen Gelegenheiten Gleichartiges zu ihm gesagt hatten. Die Frau und ihre Reiter waren ihm und Del unterlegen, das spürte er, und das spürte sie ebenso. Und der Schwache neigt leichter dazu, eine Gefahr gründlicher auszuschalten als der Starke.

Er versuchte, ihr Alter zu schätzen, aber es gelang ihm nicht. Sie konnte achtzehn sein, aber auch dreißig oder vierzig. Die lang wallende Haarmähne ließ ihr Gesicht schmaler erscheinen, als es war, und die wuchtige Metallrüstung machte es unmöglich, ihre wirkliche Statur zu erkennen.

»Wir sind in friedlicher Absicht hier«, sagte er hastig. »Wir wollten nichts, als ...« Das Mädchen schnitt ihm mit einer herrischen Bewegung das Wort ab. »Ihr habt nur zu reden, wenn ihr gefragt werdet«, sagte sie schroff. »Wie sind eure Namen, und woher kommt ihr?«

»Ich heiße Skar«, sagte Skar. »Und das da«, fügte er mit einer Kopfbewegung auf Del hinzu, »ist Del, mein Freund.«

»Skar und Del. Mehr nicht?«

»Mehr nicht.«

Sein Gegenüber runzelte die Stirn und schien etwas sagen zu wollen, beließ es aber dann bei einem bloßen Achselzucken und ging zu ihrem Pferd zurück. »Mein Name ist Coar«, sagte sie, nachdem sie sich in den Sattel geschwungen und nach den Zügeln gegriffen hatte.

»Netter Name«, griente Del.

Zwischen Coars Brauen entstand eine steile Falte. »Ich bin die Kommandantin der Königlichen Garde, falls es dich interessiert, Gefangener Del«, sagte sie eisig. »Und du wärest gut beraten, wirklich nur dann zu reden, wenn du angesprochen wirst.«

Del grinste unerschütterlich weiter. »Jawohl, Kommandantin Coar. Wie Ihr befehlt. Euer getreuer Diener.«

Skar warf ihm einen warnenden Blick zu, aber Del schien die Sache mit Gewalt auf die Spitze treiben zu wollen. »Und das da«, fügte er mit einer Kopfbewegung auf die Reiter hinzu, »ist dann wohl die Königliche Garde, wie?« Der ätzende Spott, mit dem er die beiden Worte aussprach, war nicht zu überhören.

Die dunklen Augen der Kommandantin blitzten drohend auf, aber Del übersah auch diese letzte Warnung.

»Ihr solltet Euch überlegen«, fuhr er fort, »ob -«

Coar riß in einer blitzschnellen Bewegung den Säbel aus der Scheide und schlug zu. Del schrie auf, taumelte zurück und preßte die gefesselten Hände an die Wange. Zwischen seinen Fingern sikkerte Blut hervor.

»Ich habe dich gewarnt«, murmelte Skar.

Del schenkte ihm einen zornigen Blick und wandte sich ab.

»Laßt euch das eine Warnung sein«, sagte Coar laut. »Das nächstemal mache ich ernst.«

Skar glaubte ihr. Coar schien nicht zu den Menschen zu gehören, die es in vollen Zügen auskosteten, wenn sie anderen ihre Macht zu spüren geben konnten. Aber sie hatte immer noch Angst vor den beiden hünenhaften Fremden, und das war vielleicht schlimmer. Skar hatte das alte Spiel von Fangen und Gefangenwerden zu oft gespielt, um die Regeln nicht genau zu kennen. Es gehörte zu seinen Grundsätzen, sich in der Rolle des Gefangenen möglichst folgsam und unauffällig zu benehmen. Ein Wächter, der Angst vor seinem Gefangenen hat, ist aufmerksamer.

Coar setzte umständlich ihren Helm auf und zwang ihr Pferd mit einer ungeduldigen Bewegung herum. »Reiten wir. Der Weg ist noch weit.«

Die dünnen Seile, mit denen ihre Hände an die Sättel gebunden waren, spannten sich. Die Gruppe schlug von Anfang an ein scharfes Tempo ein. Die Pferde verfielen in einen gleichmäßigen, kräftesparenden Trab, und die beiden Gefangenen mußten rennen, um nicht von den Füßen gerissen und hinterhergeschleift zu werden. Die junge Kommandantin schien nicht gewillt zu sein, mehr Rücksicht als unbedingt nötig zu nehmen. Aus irgendeinem Grund hatte sie es plötzlich sehr eilig, aus diesem Teil des Waldes herauszukommen. Skar waren die verstohlenen raschen Blicke, die sie und ihre Begleiter immer wieder nach rechts und links warfen, nicht entgangen. Die Königliche Garde schien nicht unbedingt der unumschränkte Beherrscher dieses Waldes zu sein.

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