23.

Der Himmel über dem Wald glühte im Licht unzähliger, hell lodernder Feuer. Ein dumpfes Raunen und Brausen, das an das Geräusch ferner Meeresbrandung erinnerte, brachte die Luft in der Stadt zum Erbeben.

Skar verharrte unwillkürlich, als er die Menschenmenge sah, die sich auf der Lichtung im Zentrum Wents versammelt hatte. Es mußten sieben-, vielleicht achthundert sein: Männer, Frauen und Kinder, Greise und Krieger. Jeder Bewohner der Stadt schien anwesend zu sein. Und er konnte die knisternde Spannung, die von der Menge Besitz ergriffen hatte, fühlen. Bernecs Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Im Moment mochte die Menge noch betäubt und gelähmt von dem Schock sein, den Bernecs Enthüllungen für sie bedeutet haben mußten. Aber dieser Zustand würde nicht lange anhalten: Schon in kurzer Zeit würde aus dieser Menschenmenge ein tobender Mob werden, ein gigantisches, vielkörperiges Tier, das nach Blut schrie und seinem Anführer blind in den Tod folgen würde.

Skar schloß für einen Moment die Augen und versuchte, das dumpfe Murmeln und Wispern in seinem Inneren zu ignorieren.

Sein dunkler Bruder war noch da, lauernd und wach, bereit, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit aus seinem Versteck zu springen und wieder Gewalt über ihn zu erlangen.

»Kommt«, flüsterte er. »Und seid vorsichtig. Eine falsche Bewegung, und sie zerreißen uns.«

Sie ritten los, Skar an der Spitze, gefolgt von Coar und Del, der ein viertes, reiterloses Pferd am Zügel führte. Coar hatte ihn und Del mit den fertig gesattelten Tieren am Fuße der Brücke vor dem Haus der Heilerin erwartet, als hätte sie keine Sekunde daran gezweifelt, daß Skar sie begleiten würde. Sie hatten kein Wort miteinander geredet, aber das war auch nicht nötig gewesen. Coar war seinem Blick ausgewichen, aber es war nicht Haß oder Abneigung oder Furcht gewesen, sondern etwas anderes, etwas, das Skar nicht mit Gewißheit bestimmen konnte und das ihn erschaudern ließ.

Die Menge teilte sich vor ihnen, als sie langsam auf das Zentrum des Platzes zuritten. Skar bemühte sich, starr geradeaus zu blicken, wo Bernec auf einem provisorisch errichteten Podest aus Fässern und eilig zusammengenagelten Brettern stand, aber er spürte trotzdem, wie die Menschen rechts und links von ihm ängstlich zurückwichen und ihm furchtsame Blicke zuwarfen. Vielleicht war er einmal ein Held für sie gewesen. Jetzt hatten sie nur noch Angst vor ihm. Er spürte, wie sich die Stille wie eine schwere, erstickende Decke über den Platz senkte. Bernec verstummte, als er ihn, Coar und Del heranreiten sah, und für einen Moment huschte ein furchtsamer, erschrockener Ausdruck über seine Züge. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt.

Skar ritt bis auf zehn Meter an das Rednerpodest heran und zügelte sein Pferd. Coar blieb an seiner rechten Seite stehen, Del, das zusätzliche Pferd zwischen sich und Skar haltend, links.

Bernec bewegte sich unruhig. Sein Blick tastete hilfesuchend über die stumme Mauer weißer, gebannt dreinschauender Gesichter hinter Skar, aber er schien zu spüren, daß er in diesem Augenblick keine Hilfe von ihnen zu erwarten hatte. »Du ... du bist also doch noch gekommen«, begann er, als klarwurde, daß Skar nicht von sich aus reden würde.

Skar lächelte stumm, aber in einer Art, die Bernec sichtlich erbleichen ließ. Er rang nervös mit den Händen, schluckte ein paarmal und fuhr sich hektisch mit dem Handrücken über die Stirn. Sein Blick saugte sich wie hypnotisiert am Griff von Skars Waffe fest. Er hatte Angst.

»Was ... wollt ihr?« fragte er unsicher.

Skar lächelte. »Wir reiten nach Ipcearn«, sagte er ruhig. Seine Hand machte eine einladende Bewegung auf den Sattel des überzähligen Pferdes an seiner Seite. »Kommst du mit?«

Bernecs Unterkiefer sank verblüfft herunter. »Ihr wollt ...?«

»Nach Ipcearn reiten«, bestätigte Skar. »Nur wir drei - und du, wenn du den Mut dazu hast.«

»Ihr seid verrückt!« keuchte Bernec. »Ihr seid tot, bevor ihr auch nur in die Nähe des Schlosses kommt. Seshar wird euch umbringen lassen.«

»Vielleicht«, gestand Skar gleichmütig. »Aber dieses Risiko müssen wir eingehen. Man kann keinen Krieg führen und hoffen, unbeschadet davonzukommen.«

»Aber es ist Wahnsinn, allein gegen Ipcearn zu ziehen! Seshar hat mindestens zweihundert Soldaten, und ...«

»Hast du Angst?« unterbrach ihn Skar lächelnd.

Bernec schwieg eine ganze Weile. Auf seinen Zügen war der innere Kampf, den er durchstehen mußte, überdeutlich zu sehen.

»Nein«, sagte er. »Ich habe keine Angst. Aber es ist sinnlos, wenn ihr euch opfert, und es ist auch sinnlos, wenn ich dabei mitmache. Seshar kann sich keinen besseren Weg wünschen, mich loszuwerden.«

»Und du glaubst, darauf wäre er angewiesen, wie?« fragte Skar höhnisch. »Mir scheint, du hältst dich bereits für unersetzlich. Aber du bist nicht so wichtig, wie du denkst, Bernec. Du hast deinem Volk die Wahrheit gesagt, und ich will mich nicht mit dir darüber streiten, ob es zu diesem Zeitpunkt richtig war oder nicht. Es zählt jetzt nicht mehr, ob es dich gibt oder nicht. Du bist unwichtig, Bernec. Dein Volk wird sich so oder so gegen Seshar auflehnen. Das einzige, was du noch tun kannst, ist, dich zum ersten Mal in deinem Leben wie ein Mann zu benehmen und den Kampf, den du begonnen hast, allein zu Ende zu bringen. Vielleicht stirbst du dabei, aber dann sterben wir alle. Dein Volk wird trotzdem überleben.«

»Ihr ... ihr verlangt von mir, daß«, stotterte Bernec, »daß ich...«

»Wir verlangen nicht mehr von dir, als wir von uns verlangen«, unterbrach ihn Skar. »Nicht mehr, als jeder Mann von selbst tun würde.« Er wußte, daß er gewonnen hatte. Bernec hatte den Moment, in dem er das Ruder noch hätte herumreißen können, verpaßt. Ihm blieb gar keine andere Wahl mehr, als auf Skars Vorschlag einzugehen, wenn er nicht vor all seinen Anhängern das Gesicht verlieren wollte.

»Gut«, sagte er mühsam. »Ich komme mit euch. Nur ich allein. Aber wenn wir nicht zurückkommen«, fügte er mit erhobener Stimme hinzu, »dann wird dieses Volk wie ein Mann aufstehen und Ipcearn vom Antlitz dieser Welt fegen!«

»Ihr Götter«, flüsterte Del so leise, daß nur Skar die Worte verstehen konnte. »Gleich wird er sich vor die Brust schlagen und Asche auf sein Haupt streuen.« Skar schüttelte unwillig den Kopf. »Still«, zischte er. »Verdirb nicht alles. Gib ihm wenigstens eine winzige Chance, heil davonzukommen.«

Del grinste und schwieg.

Bernec blieb noch einen Moment reglos auf seinem Podest stehen, als warte er auf irgend etwas. Schließlich wandte er sich um, sprang zum Boden herab und kam mit gezwungen ruhigen Schritten auf sie zu. Skar beugte sich vor, um ihm in den Sattel zu helfen. Bernec ignorierte seine Hand, schwang sich auf den Rücken des Tieres und riß unnötig hart und brutal an den Zügeln.

»Drei Tage!« rief er. »Wenn wir in drei Tagen nicht zurück sind, greift ihr an!« Ein paar vereinzelte Stimmen riefen ihre Zustimmung, und jemand versuchte, einen Hochruf anzustimmen, brach aber sofort wieder ab.

Sie ritten los. Die Menge teilte sich vor ihnen und wich weiter zurück, als nötig gewesen wäre. Eine beklemmende, unwirkliche Stimmung schien die Stadt erfaßt zu haben, ein Schweigen, das ihnen wie ein unsichtbarer, finsterer Hauch selbst dann noch folgte, als sie hintereinander durch das Tor ritten und in den Wald eindrangen.

Skar fühlte sich mit einemmal unendlich müde. Er hätte erleichtert oder zumindest zufrieden sein müssen, aber er spürte nichts davon. Es gab keinen Grund, auf seinen Sieg über Bernec stolz zu sein. Wenn es überhaupt ein Sieg gewesen war. Sie galoppierten in scharfem Tempo nach Westen. Coar hatte frische, ausgeruhte Pferde herausgesucht, so daß sie rasch vorankamen, ohne größere Pausen einlegen zu müssen. Gegen Mitternacht rasteten sie an einem der unzähligen kleinen Tümpel, die überall im Wald von Cearn verstreut waren, tränkten ihre Pferde und aßen, mehr aus Gewohnheit und um nicht untätig herumsitzen und schweigen zu müssen, als aus Hunger, brachen aber schon nach wenigen Minuten wieder auf, um weiterzureiten. Der Weg kam Skar verändert vor. Er war ihn schon dreimal gegangen, aber diesmal schien alles anders, fremd und ablehnend. Eine seltsame Stimmung des Abschiednehmens ergriff ihn. Er spürte, daß es das letzte Mal sein würde. Er würde nicht mehr nach Went zurückkehren, ganz gleich, was geschah. Als die Sonne aufging, waren sie nur noch wenig mehr als eine Meile von Ipcearn entfernt. Sie hatten auf dem gesamten Weg nicht einen Menschen getroffen, weder einen Waldläufer noch einen von Seshars Soldaten, aber Skar schob dies auf die Tatsache, daß Bernec den Wald kannte und die sicher vorhandenen Patrouillen umgangen hatte.

Sie stiegen ab, ließen ihre Tiere frei laufen und nahmen das letzte Stück des Weges zu Fuß in Angriff. Graue Dämmerung durchwob den Wald mit Schatten und verwirrenden Lichteffekten, und über dem Boden lag ein dünner, halbdurchsichtiger Nebelschleier, der das Geräusch ihrer Schritte dämpfte und die Unwirklichkeit des Augenblicks vertiefte.

Sie erreichten den Waldrand und blieben im Schutz der letzten Büsche stehen. Ipcearn lag wie ein grauer, abweisender Koloß vor ihnen, ein Titan, der sich auf einem Dutzend ungeheuerlicher Spinnenbeine hoch über dem Wald erstreckte und sie allein durch seine Größe zu verspotten schien. Es gab keine Möglichkeit, unentdeckt über die Lichtung zu gelangen. Der Wald war in jeder Richtung auf hundert Meter oder mehr abgeholzt worden, und Skar zweifelte keine Sekunde daran, daß Hunderte von mißtrauischen Augenpaaren jede noch so kleine Bewegung auf der Lichtung verfolgen würden. Aber es gab keinen anderen Weg. »Kommt«, murmelte er, »solange es noch nicht ganz hell ist. Vielleicht haben wir Glück, und sie sehen uns nicht.«

Er nickte Del aufmunternd zu und spurtete los, ohne auf eine Antwort zu warten. Es war jener Augenblick der Dämmerung, in der das Licht grau und unsicher ist und man fast weniger als in der Nacht sieht, und vielleicht hatten sie wirklich Glück und schafften es. Sie rannten in einer weit auseinandergezogenen Kette los und erreichten den schwarzen Schatten Ipcearns in weniger als einer halben Minute. Skar blieb keuchend stehen, lehnte sich gegen einen der mächtigen Baumstämme und lauschte angespannt. Über ihnen blieb alles ruhig.

»Sieht aus, als hätten wir Glück gehabt«, flüsterte Del. »Jetzt brauchen wir nur noch hinaufzukommen. Hat jemand vielleicht eine gute Idee dazu?«

Statt einer Antwort griff Coar unter ihren Mantel und nahm ein zusammengerolltes Tau mit einer dreizackigen Metallklaue hervor. Sie wickelte es sorgfältig ab, hielt das Ende mit den Widerhaken in der Hand und suchte nach einer passenden Stelle. Das Seil verwandelte sich in einen flirrenden Kreis und zischte, von einem mächtigen Schwung getragen, nach oben. Die stählerne Klaue prallte mit einem scheppernden Geräusch gegen den Baumstamm, rutschte ein Stück daran herunter und verkantete sich. Coar zerrte ein paarmal mit aller Kraft am Seil und begann dann mit geschickten Bewegungen den Baum zu erklimmen. Nacheinander stiegen sie auf den Baum. Die unteren zwanzig Meter des gewaltigen Stammes waren sorgfältig entastet und geglättet worden, aber hier, dicht unter der borkigen Unterseite Ipcearns, fanden ihre Hände und Füße genügend Halt, so daß sie ohne größere Schwierigkeiten weiterklettern konnten. Coar deutete schweigend auf das westliche Ende der gigantischen Plattform Ipcearns und hangelte sich rasch und sicher an den Bäumen entlang. Skar folgte ihr, wenn auch weit weniger elegant und leichtfüßig. Er vermied es, in die Tiefe zu sehen. Er hatte keine Angst vor großen Höhen, aber es war eine Sache, auf einen Baum zu steigen, und eine ganz andere, sich wie ein Affe von Ast zu Ast zu schwingen und darauf zu hoffen, daß er nicht plötzlich den Halt verlor oder die dünnen Zweige unter seinem Körpergewicht brachen.

Er war schweißgebadet, als sie endlich das Ende der Plattform erreicht hatten und über ihnen wieder ein Stück des Himmels sichtbar wurde. Es war taghell, und er begriff erst jetzt, wie lange sie sich unter der Festung aufgehalten haben mußten. Coar deutete nach oben und machte mit den Händen zupakkende, kletternde Bewegungen. Skar nickte. Es war besser, wenn sie jetzt nicht redeten.

Sie stiegen weiter. Die hölzerne Plattform, die das ungeheure Gewicht Ipcearns trug, erwies sich als längst nicht so massiv, wie Skar bisher geglaubt hatte. Über der untersten, aus nur einer einzigen Lage miteinander verbundener Baumstämme bestehenden Schicht erstreckte sich ein wahres Labyrinth von Pfeilern und Waben, Stützen und Trägern, die in scheinbar sinnlosem Durcheinander verspannt waren, so daß sie leichter und rascher weiterklettern konnten, als er gehofft hatte. Sie stiegen höher und erreichten eine zweite, fünf Meter über der ersten Ebene liegende Schicht massiver Stämme. Darüber erhob sich das eigentliche Ipcearn. Bernec deutete mit einer Kopfbewegung auf das überhängende Ende der Wand. »Darüber liegt ein Fenster«, sagte er im Flüsterton. »Wenn wir gleich dort einsteigen, gelangen wir in die Aufzugshalle.«

Skar überlegte. Seshars Gemächer lagen auf einer höhergelegenen Ebene, und die Aussicht, ungesehen durch die halbe Festung zu kommen, erschien ihm nicht sehr groß.

»Wie ist es weiter oben?« gab er ebenso leise zurück.

Bernec schüttelte den Kopf. »Unmöglich«, sagte er. »Zu viele Leute. Auf den Wehrgängen patrouillieren ununterbrochen Wachen, und jeder, der aus dem Wald kommt, muß uns sehen. Keine Chance«, fügte er überzeugt hinzu.

Skar zuckte resignierend die Achseln. »Na, dann los«, murmelte er ergeben. »Je länger wir hier warten, desto größer ist die Gefahr einer zufälligen Entdeckung. Wieviel Wachen sind dort oben?«

»Normalerweise zwei«, antwortete Bernec. »Aber es kann sein, daß sie sie verstärkt haben. Doch ich hoffe, daß sie nicht mit einem Angriff aus dieser Richtung rechnen.« Er stand vorsichtig auf, setzte den Fuß auf einen der fast meterstarken Querbalken und streckte die Finger nach dem überhängenden Ende der Plattform aus. Für einen Moment schwankte er bedrohlich, dann fand er festen Halt, zog die andere Hand nach und schwang sich mit einem entschlossenen Ruck nach außen. Seine Beine pendelten dreißig Meter über dem Boden. Bernecs Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung. Er keuchte, zog sich in einer gewaltigen Kraftanstrengung nach oben und versuchte, das Knie auf der rettenden Kante abzustützen. Er rutschte ab, unterdrückte im letzten Moment einen verzweifelten Schrei und stemmte sich mit einer Kraft, die ihm nur die Angst verliehen haben konnte, in die Höhe.

Skar atmete hörbar auf, als Bernec aus ihrem Sichtfeld verschwand. Von oben erscholl eine rasche Folge polternder und scharrender Geräusche. Das Seil erschien über der Kante, pendelte einen Moment wild hin und her und kam mit einem Ruck zur Ruhe, als Del sich vorbeugte und danach griff.

»Hoffentlich kann er wenigstens einen vernünftigen Knoten machen«, murrte er. Er nahm Schwung, stieß sich wuchtig ab und sprang wie ein Trapezkünstler am Ende der Leine ins Nichts hinaus. Das Seil schwang wie ein überdimensionales Pendel nach außen, kam in einem perfekten Halbkreis zurück, und Del nutzte die Aufwärtsbewegung, um die Beine anzuziehen und sich mit einem eleganten Satz zu Bernec hinaufzukatapultieren. Skar und Coar folgten wenig später auf die gleiche Weise.

Der Sims, auf dem sie standen, war nur wenig breiter als zwei aneinandergelegte Hände. Der Wind traf sie hier oben ungeschützt und mit voller Wucht. Skar strauchelte, hielt sich hastig an der rauhen Außenseite der hölzernen Burg fest und blickte schaudernd in die Tiefe. Sie waren vielleicht dreißig Meter über dem Boden, aber es kam ihm höher vor, viel höher.

Er drehte sich vorsichtig um, suchte mit den Füßen nach festem Halt und wollte etwas sagen, aber Bernec legte hastig den Zeigefinger über den Mund und deutete mit einem warnenden Blick auf die schmale Fensteröffnung über seinem Kopf. Rötlicher Fackelschein, der im allmählich stärker werdenden Licht der aufgehenden Sonne kaum noch sichtbar war, drang aus dem Inneren der Festung, und als Skar einen Moment lang lauschte, glaubte er leises Stimmengemurmel zu hören. »Der Augenblick ist günstig«, flüsterte Bernec. »Die Wachablösung steht kurz bevor. Die Wachen dort drinnen haben eine lange Nacht hinter sich und müssen todmüde sein. Mit etwas Glück können wir sie überrumpeln.«

»Wann kommt die Ablösung?« fragte Skar im gleichen Ton.

»Bald«, antwortete Bernec nach einem kurzen Blick zum Himmel. »Aber wir haben Zeit genug. Eine Viertelstunde, vielleicht. Das muß reichen.«

Skar preßte sich eng an die Wand, hob vorsichtig die Arme über den Kopf und tastete nach dem Fenstersims. Sein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Wenn in dem Raum auf der anderen Seite des Fensters Wachen waren und wenn sie zufällig zum Fenster sahen, während er hindurchstieg, dann war er für Sekunden hilflos. Er verscheuchte den Gedanken mit einem ärgerlichen Achselzucken, klammerte die Finger um den Sims und zog sich mit einem kraftvollen Ruck hinauf.

Der Raum dahinter war dunkel, nur von einer einzigen, bereits halb heruntergebrannten Fackel erleuchtet, und leer. Skar atmete lautlos auf, ließ sich nach vorne über die Brüstung kippen und kam mit einer unhörbaren Rolle wieder auf die Beine. Er blieb eine halbe Sekunde lang lauschend stehen, huschte dann auf Zehenspitzen durch den Raum und preßte sich dicht neben der halb offenstehenden Tür gegen die Wand. Hinter ihm stieg Del durch das Fenster, sah sich blitzschnell nach rechts und links um und winkte Coar und Bernec, ihnen zu folgen.

Skar ließ sich vorsichtig auf Hände und Knie sinken und versuchte, zwischen Türblatt und -rahmen hindurch in den angrenzenden Raum zu sehen. Er war nur wenig größer als das Zimmer, in dem sie waren, aber besser beleuchtet, und an der gegenüberliegenden Wand gab es gleich zwei Ausgänge, die mit schweren, hölzernen Türen verschlossen waren. Skar konnte drei Wächter erkennen, die an einem niedrigen, einfachen Tisch unweit der Tür saßen und leise miteinander redeten. Aber er konnte nur einen kleinen Teil des Raumes überblicken. Vielleicht hielten sich noch mehr Wachen darin auf. Seshar schien wirklich mit einem Angriff auf Ipcearn zu rechnen.

Er kroch zurück, richtete sich lautlos auf und gab Del einen Wink. Der junge Satai huschte zur anderen Seite der Tür, nickte stumm, hob erst drei, dann zwei und schließlich nur noch einen Finger. Als er die Faust ein viertes Mal und geballt in die Höhe stieß, stürmten sie los.

Die Posten hatten nicht einmal mehr Zeit, einen Hilferuf auszustoßen. Die beiden Satai stürmten nebeneinander durch die Tür und brachen wie ein Wirbelsturm aus heiterem Himmel über sie herein. Skar riß den der Tür am nächsten sitzenden Mann in die Höhe und schmetterte ihm die Faust ins Gesicht. Del warf sich gegen den Tisch, stieß ihn um und begrub die beiden verbliebenen Soldaten kurzerhand unter der schweren, hölzernen Platte. Der Kampf war vorüber, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte.

»In Ordnung«, sagte Del laut. »Ihr könnt kommen.« Coar und Bernec traten hinter ihnen in die Wachstube. Bernec nickte anerkennend, als er die reglos daliegenden Soldaten sah. »Gute Arbeit«, lobte er. »Werden sie lange genug bewußtlos bleiben?«

»Wir fesseln sie sicherheitshalber«, bestimmte Skar. »Sie werden sowieso bald gefunden.« Er bückte sich, stemmte die Tischplatte hoch und zog einen der bewegungslosen Männer an den Armen über den Boden. »Helft mit, sie auszuziehen«, sagte er.

»Ausziehen?« echote Bernec verwirrt. »Aber wozu?«

»Weil wir ihre Uniformen brauchen«, murrte Del ungeduldig. »Eine bessere Tarnung können wir uns gar nicht wünschen.«

»Aber es sind nur drei«, gab Bernec zu bedenken.

Del schnaubte ungeduldig. »Das sehen wir selbst«, erklärte er spitz. »Dann werden Skar, du und ich eben Coar durch die Festung eskortieren. Kannst du dich jetzt wenigstens allein umziehen, oder muß ich das auch noch machen, wenn ich schon für dich denken soll?«

»Del!« sagte Skar warnend.

»Das klappt nie«, murmelte Bernec, ohne auf Dels beleidigenden Tonfall zu reagieren. »Ich bin hier viel zu bekannt. Und Coar auch.«

»Halt mich fest, Skar!« flehte Del in gespielter Verzweiflung. »Sonst erkennt ihn gleich nicht mal seine eigene Mutter wieder!« Er knurrte, ballte die Fäuste und trat drohend auf Bernec zu. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte die Situation vielleicht komisch gewirkt, aber Bernec schien sich mit einemmal nicht mehr so sicher zu sein, daß Del wirklich nur herumflachste. Er wich einen Schritt zurück, hob hastig die Hände und begann, seinen Rock aufzuknöpfen.

»Hört mit dem Quatsch auf«, sagte Skar rauh. »Für so etwas haben wir keine Zeit. Coar - geh zur Tür und paß auf.«

Coar gehorchte. Sie entkleideten die Posten bis auf die Unterwäsche, fesselten und knebelten sie und zogen sich in aller Eile um. Skar und Del streiften die einfachen, braunen Gewänder kurzerhand über ihre Harnische und verbargen ihre Schwerter unter den Umhängen, so gut es ging. Kein Bewohner Ipcearns würde sich durch die Verkleidung ernsthaft täuschen lassen; aber vielleicht verschaffte sie ihnen einige wertvolle Sekunden.

»Wohin führen diese Türen?« fragte Skar, als er fertig umgezogen war.

Bernec zuckte unglücklich die Achseln. »So genau kenne ich mich hier nicht aus«, murmelte er. »Ich war schon oft hier, aber die Wege der Wächter kenne ich nicht. Wir müssen versuchen, einen der Hauptgänge zu erreichen. Dort fallen wir auch weniger auf. Selbst um diese Zeit sind dort ständig Menschen.«

»Gut«, sagte Skar. »Dann gehen wir.« Er öffnete vorsichtig die rechte der beiden Türen, spähte auf den dahinterliegenden Gang hinaus. Er war dunkel und schmal und erinnerte ihn für einen Moment an die finsteren Stollen tief unter der Nonakesh. Aus dem Inneren der Festung wehten ihm leise Geräusche entgegen; einzeln nicht unterscheidbar, aber in ihrer Gesamtheit fast so etwas wie die Lebensgeräusche eines großen, geduldigen Tieres bildend.

Er öffnete die Tür weiter und trat an der Spitze ihrer kleinen Gruppe auf den Gang hinaus. Sie gingen eine kurze Treppe hinauf, durchquerten einen zweiten, menschenleeren Raum und standen schließlich vor einem nur mit einem schweren, dunkelroten Vorhang verschlossenen Durchgang. Dahinter lag, wie Skar mit einem raschen Blick feststellte, einer der Säulengänge, auf dem Mergell ihn bei seinem ersten Besuch auf Ipcearn zu den Gemächern des Königs geleitet hatte.

»Keinen Laut mehr jetzt«, sagte er warnend, bevor sie auf den Gang hinaustraten. »Bernec - du gehst voraus, dann Coar. Del und ich folgen.«

»Und was ist, wenn wir angesprochen oder aufgehalten werden?« fragte Bernec nervös.

Skar lächelte. »Frag mich das, wenn es soweit ist.« Er schlug den Vorhang beiseite, trat aus der Tür und wartete ungeduldig, bis Bernec und Coar an ihm vorbeigegangen waren. Natürlich hatte Bernec mit seinen Befürchtungen durchaus recht - die verstärkten Wachen bewiesen, daß man in Ipcearn mit einem Angriff rechnete und auf der Hut war, und das Volk von Cearn war einfach nicht groß genug, als daß nicht die meisten Bewohner der Festung sowohl ihn als auch Coar kennen mußten. Aber sie waren schon zu weit gegangen, um jetzt noch zurück zu können. Bisher hatten sie Glück gehabt, und wenn ihnen das gleiche Glück noch wenige Augenblicke treu blieb, konnten sie es schaffen.

Und dann? wisperte die dunkle Stimme in ihm. Was wirst du dann tun? Wirst du Seshar einen Dolch ins Herz rammen? Oder wirst du nur zusehen, wie Bernec es tut? Sie werden euch lynchen, so oder so, und dann werden die Bewohner von Went Ipcearn stürmen. Ganz egal, was du tust, es ist sinnlos.

Bernec schritt rasch vor ihnen aus. Von Zeit zu Zeit begegneten sie Bediensteten oder uniformierten Soldaten, aber es waren weniger, als er befürchtet hatte. Ipcearn befand sich in Alarmstimmung, aber die Männer schienen genug mit sich selbst und ihren Gedanken zu tun zu haben, um auf die drei abgelösten Wachen und die Frau in dem unauffälligen grünen Mantel zu achten. Sie gingen bis zum Ende des Säulenganges, bogen nach rechts ab und stiegen über eine schmale Treppe wieder in die Höhe. Skar durchlebte einige bange Sekunden, als sie dicht an einer Gruppe aufgeregt miteinander diskutierender Soldaten vorbei mußten, aber keiner der Männer beachtete sie auch nur mit einem Blick. Ihr Vorankommen erschien ihm beinahe zu leicht. Er war zu lange selbst Soldat gewesen und hatte in zu vielen verschiedenen Heeren gedient, um nicht zu wissen, daß Soldaten im allgemeinen ein schwatzhaftes Völkchen waren, zumindest dann, wenn sie dienstfrei hatten. Aber niemand sprach sie an, selbst dann nicht, als sie tiefer ins Innere Ipcearns vordrangen und sich dem Bereich näherten, in dem die Privaträume der Könige lagen.

Bernec blieb schließlich vor einer niedrigen, von zwei steinernen Adlern flankierten Holztür stehen.

»Dahinter muß es irgendwo sein«, erklärte er. »Aber den genauen Weg kenne ich auch nicht. Ich war nie in Seshars Gemächern.«

»Aber ich«, knurrte Skar. Er schob sich an ihm vorbei, warf einen sichernden Blick über die Schulter zurück und streckte die Hand nach der geschmiedeten Türklinke aus. Der Moment war günstig. Außer ihnen schien sich niemand in diesem Teil des Schlosses aufzuhalten, und wahrscheinlich würde auch - mit Ausnahme der regelmäßig patrouillierenden Wachen, denen sie auf dem Herweg begegnet waren und die ihre Aufgabe nicht sonderlich ernst zu nehmen schiene n - so rasch kein Besucher kommen. Die frühe Stunde erwies sich als unerwartet glücklich gewählt. Selbst bei einem König würde es kaum Mißtrauen erregen, wenn er, auch gegen seine sonstigen Gewohnheiten, nach Sonnenaufgang ein wenig länger in seinen Gemächern blieb.

Er öffnete die Tür, schlüpfte hindurch und schob sie hastig hinter Del wieder ins Schloß. Vor ihnen lag ein heller, lichtdurchfluteter Raum, der von den breiten Stufen einer kunstvoll geschnitzten Treppe in zwei unregelmäßige Hälften geteilt wurde. An ihrem oberen Ende lag die wuchtige Doppeltür, hinter der sich Seshars Privaträume verbargen. Skar war schon einmal hier gewesen, aber es fiel ihm schwer, den Raum wiederzuerkennen. Das Sonnenlicht, das durch die weit zurückgezogenen Vorhänge hereinströmte, veränderte sein Aussehen mehr, als er für möglich gehalten hätte.

Er wies mit einer Kopfbewegung auf die Treppe. »Dort oben ist es«, sagte er. »Kommt.«

»Warte noch.« Del hielt ihn mit raschem Griff am Handgelenk zurück und sah sich mißtrauisch um. »Hinter dieser Tür liegen Seshars Räume?« fragte er.

Skar nickte. »Ja.«

»Das gefällt mir nicht«, murmelte Del. »Es sind keine Wachen da. Überhaupt nichts. Ich ... ich hatte schon die ganze Zeit über ein ungutes Gefühl. Es war zu leicht, bis hier vorzudringen.«

»Wäre es dir lieber gewesen, wenn wir angegriffen worden wären?« fragte Bernec verärgert.

»Beinahe ja«, antwortete Del ruhig. »Entweder euer König ist der leichtsinnigste Herrscher, dem ich jemals begegnet bin, oder das Ganze hier ist eine verdammte Falle.« Er zögerte einen Moment, trat ans Fenster und blickte über die Brüstung in den Innenhof hinab. »Du warst schon einmal hier«, fuhr er, an Skar gewandt, fort. »Waren damals auch keine Wachen hier postiert?«

Skar hatte sich über diese Frage bereits seit dem Moment, in dem sie den Raum betreten hatten, den Kopf zerbrochen, aber er kam zu keiner befriedigenden Antwort. Er erinnerte sich einfach nicht. »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete er. »Ich glaube fast, es waren keine da, aber ich kann mich täuschen.« Er schlug den Umhang zurück, legte die Hand auf das Griffstück des Tschekal und zog die Waffe halb aus der Scheide. »Wenn es eine Falle ist, ist es sowieso zu spät, um noch umzukehren«, sagte er. »Wenn nicht - wir brauchen nur diese Tür zu öffnen, um es herauszubekommen.«

Er zog die Waffe vollends aus dem Gürtel, bedeutete Bernec und Coar mit einem warnenden Blick, zurückzubleiben und ging mit entschlossenen Schritten auf die Tür zu. Del folgte, zwei Schritte hinter und ein Stück neben ihm, bereit, ihm den Rücken zu decken.

Skar legte die Hand auf das Türblatt, drückte mit der anderen die Klinke herunter und spähte mißtrauisch durch den entstehenden Spalt. Der Raum dahinter war dunkel. Er hatte keine Fenster, wie er sich jetzt erinnerte. Seine Besorgnis wuchs. Einen besseren Ort für einen Hinterhalt konnte er sich kaum denken.

»Was ist?« flüsterte Del hinter ihm. »Siehst du irgend etwas?«

Skar schüttelte stumm den Kopf, wartete noch einen Sekundenbruchteil und öffnete die Tür dann mit einem entschlossenen Ruck. Ein dreieckiger Lichtstreifen fiel in den Raum, beleuchtete das kostbare Bodenmosaik und riß Teile der spartanischen Möblierung aus dem Dunkel. Skar lauschte angespannt. Aber der Raum schien tatsächlich leer zu sein.

»Kommt«, flüsterte er. Er duckte sich, hetzte mit zwei, drei schnellen Schritten durch die Kammer und preßte sich neben dem Durchgang auf der gegenüberliegenden Seite gegen die Wand. Del postierte sich auf der anderen Seite des schweren Vorhanges, während Coar und Bernec immer noch zurückblieben. Del runzelte die Stirn und machte mit übertriebener Mimik ein fragendes Gesicht. Skar zuckte die Achseln. Es gab nur einen einzigen Weg, um herauszubekommen, was hinter dem Vorhang auf sie wartete.

Er trat zurück, nahm einen halben Schritt Anlauf und setzte mit einem Hechtsprung durch den Eingang. Der Vorhang wurde krachend aus seiner Führung gerissen und flatterte zu Boden, während Skar bereits mit einer Rolle auf die Füße kam, das Schwert kampfbereit erhoben. Hinter ihm sprang Del durch den Eingang, drehte sich einmal um seine Achse und blieb verblüfft stehen. »Beeindruckend«, sagte Seshar ruhig. »Wirklich beeindrukkend. Ich möchte Männer wie euch nicht zum Feind haben, Satai.« Er saß auf einem hochlehnigen, geschnitzten Stuhl dicht neben dem Fenster, hatte die Hände vor der Brust verschränkt und betrachtete Skar und Del ohne das geringste Zeichen von Angst oder auch nur Überraschung.

Hinter Skars Stirn schien gleich ein ganzes Dutzend von Alarmgongs zu dröhnen. Eine Falle! dachte er mit einem Anflug von Panik. Er hat uns erwartet! Er hat ganz genau gewußt, daß wir kommen!Er duckte sich, setzte mit einem federnden Sprung durch den Raum und stieß die Klinge des Tschekal wuchtig durch den Vorhang des schweren Himmelbettes, das einzige Versteck im Raum, das groß genug war, mehr als einem Hund Deckung zu bieten.

Der Hieb ging ins Leere. Skar riß den Vorhang mit einer wütenden Bewegung vollends herunter und starrte eine halbe Sekunde lang verblüfft auf die leeren Decken und Kissen.

»Du bemühst dich umsonst«, sagte Seshar sanft. »Wir sind allein.«

Skar drehte sich ungläubig herum.

Seshar lächelte auf eine ruhige, beinahe zufriedene Art. »Es sind keine Soldaten da, Skar«, sagte er geduldig. »Nur ich.«

»Aber Ihr ...«

»Ich muß dir noch danken«, unterbrach ihn der König, »daß du die drei Männer im Wachzimmer nicht getötet hast. Jeder andere hätte es getan.«

»Ihr wißt davon?« keuchte Skar fassungslos. »Ihr ... habt die ganze Zeit gewußt, wo wir waren?«

Seshar nickte. »Schon, als ihr aus Went herausgeritten seid. Ich verfüge über Möglichkeiten, mich zu informieren, die dich in Erstaunen setzen würden. Aber ihr seid sicher nicht gekommen, um mit mir zu plaudern, nicht? Zumindest«, fuhr er mit erhobener Stimme fort, »was Coar und Bernec angeht.«- Er stemmte sich mühsam aus dem Sessel hoch und blickte zur Tür hinüber. »Kommt herein«, sagte er. »Ich bin ein alter Mann und kann nicht mehr so laut reden.«

Aus dem Nebenraum erklangen langsame, zögernde Schritte, dann erschien Bernec unter der Tür, dicht gefolgt von Coar. Er blieb eine halbe Sekunde stehen, stieß plötzlich einen gellenden Schrei aus und stürmte mit hoch erhobenem Schwert auf Seshar zu.

Skar vertrat ihm den Weg, schlug ihm die Waffe aus der Hand und stieß ihn grob zu Boden. Bernec fiel aufs Gesicht, stemmte sich mit einer überraschend geschmeidigen Bewegung wieder hoch und machte Anstalten, sich mit bloßen Händen auf den König zu stürzen. Diesmal versetzte Skar ihm einen Schlag in den Nacken, der ihn halb betäubt in die Knie brechen ließ.

»Narr«, sagte er wütend. »Glaubst du wirklich, wir wären auch nur lebendig in die Festung gekommen, wenn er es nicht gewollt hätte? Gib ihm wenigstens eine Chance.«

Seshar lächelte still. »Ich habe mich nicht in dir getäuscht«, sagte er.

»Verräter!« keuchte Bernec. »Du ... verdammter ... Verräter. Deshalb also hast du mich überredet, mit dir zu kommen. Aber das wird dir nichts nützen. Ihr könnt mich umbringen, aber dadurch wird alles nur noch schlimmer werden.«

»Du täuschst dich«, sagte Seshar sanft. »Skar hat dich nicht verraten. Er ist mit der gleichen Absicht hierhergekommen wie du.«

»Wenn ich dich hätte töten wollen, hätte ich das ein Dutzend Mal und leichter haben können«, bestätigte Skar ungerührt.

Bernec hob trotzig den Kopf. In seinen Augen flatterte ein unstetes, fanatisches Feuer. Seine Hände zuckten. »Dann laß mich«, schnappte er. »Laß mich los, damit ich dieses Ungeheuer töten kann!«

»Du bist sehr rasch mit dem Töten, nicht?« fragte Seshar. »Glaubst du wirklich, dadurch etwas ändern zu können?«

Bernec wollte erneut auffahren. Skar legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte kurz und warnend zu. Bernec stöhnte und sank mit einem wimmernden Laut zurück.

»Laß mich dieses Ungeheuer umbringen!« keuchte er. »Er hat es verdient. Er hat uns belogen, uns und alle anderen.«

Skar schüttelte den Kopf. »Laß ihn reden, Bernec. Vielleicht töte ich ihn hinterher selbst, aber hör dir wenigstens an, was er zu sagen hat.«

»Lügen!« schrie Bernec. »Er wird uns nur weitere Lügen auftischen. So, wie er uns die ganze Zeit über belogen hat!«

Skars Geduld war nun endgültig erschöpft. Er riß Bernec grob auf die Füße, versetzte ihm eine schallende Ohrfeige und stieß ihn gegen die Wand. Bernec keuchte und hielt sich die brennende Wange. Seine Gesichtshaut begann sich zusehends rot zu färben.

»Laß ihn, Skar«, bat Seshar sanft. »Er hat unrecht, aber er weiß es nicht besser.« Er lächelte, betrachtete Bernec sekundenlang mit einem fast freundschaftlichen Blick und ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. »Du glaubst, ich hasse dich«, begann er. »Du bist hierhergekommen, um mich zu töten, und nun nimmst du an, daß ich dich deswegen umbringen lasse, Bernec. Aber das stimmt nicht. Ich habe es schon einmal zu Skar gesagt, und ich sage es jetzt noch einmal zu dir: Du ähnelst mir mehr, als du glaubst. Viel von der Ungeduld und Wut, die in dir ist, war auch in mir, als ich so alt war wie du. Ich glaube, ich wäre fast ein bißchen enttäuscht gewesen, wenn du nicht versucht hättest, mich zu töten. Nach dem, was du erfahren hast - oder glaubst, erfahren zu haben -, mußt du mich hassen.«

»Warum?« keuchte Bernec. »Warum hast du das getan? Warum, Seshar? WARUM??!«

Seshar antwortete nicht sofort. Seine Hände verkrampften sich für einen Moment um die Lehnen seines Sessels, als wolle er sie zerbrechen. »Willst du die Antwort wirklich wissen?« fragte er. »Es könnte sein, daß sie dir nicht gefällt.«

Bernec lachte schrill. »Darauf kannst du Gift nehmen, du Ungeheuer!« Er machte einen Schritt in Seshars Richtung und blieb abrupt stehen, als Skar warnend die Hand hob.

»Du bist jung«, murmelte Seshar, »jung und ungeduldig, und du glaubst, deine Ziele nur noch mit Gewalt erreichen zu können. Aber das stimmt nicht. Ich weiß, daß du es im Moment noch nicht begreifst - noch nicht begreifen kannst -, aber irgendwann wirst du einsehen, daß Gewalt niemals zum Ziel führt.« Er schwieg für die Dauer von drei, vier Herzschlägen, und für einen kurzen Moment schienen seine Gedanken weit, weit weg zu sein. »Du hast nach dem Warum gefragt, Bernec, und ich werde dir deine Frage beantworten. Komm mit mir.« Er stand auf, winkte Bernec zu sich heran und ging mit schlurfenden Schritten zu dem Tisch hinüber, auf dem das Modell des Waldes aufgebaut war. Bernec starrte den Miniaturwald mit fragendem Gesichtsausdruck an.

»Darum habe ich es getan«, sagte Seshar. »Du hast mich gefragt, und dies ist die Antwort. Darum. Um all dies zu erhalten. Um die Menschen, die Cearn geschaffen haben, zu behüten und zu beschützen. Ich habe es getan, weil es der einzige Weg war, Cearn am Leben zu erhalten.«

»Am Leben?« krächzte Bernec. »In der Sklaverei, meinst du! Generation um Generation habt ihr getäuscht. Ihr habt ihnen vorgelogen, daß es keinen anderen Weg gibt, nach Urc zu gelangen, und ...«

»Du meinst den Fluß«, unterbrach ihn Seshar sanft.

Bernec lachte, aber es hörte sich eher wie ein hysterisches Kreischen an. »Erzähl mir jetzt nicht, daß er nicht nach Urc fließt!«

»Nein, gewiß nicht«, antwortete Seshar. »Die alten Legenden stimmen. Der Koth fließt tief unter der Nonakesh hindurch und mündet im Lande Urc. Ihr hättet ihn niemals finden dürfen.«

»Aber wir haben ihn gefunden.« Bernec ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. »Du kannst mit mir machen, was du willst, Seshar, es ist zu spät. Das Volk von Cearn hat die Wahrheit erfahren.«

»Das habt ihr nicht!« fuhr Seshar, nun doch sichtlich verärgert, auf. »Ihr habt eine Höhle und einen unterirdischen Fluß gefunden, das ist alles. Und was wollt ihr nun mit eurem neu erworbenen Wissen anfangen?« Er schüttelte wütend den Kopf und schlug wuchtig mit der flachen Hand auf den Tisch. »Du bist zornig, Bernec, zornig und verzweifelt«, fuhr er im gleichen, scharfen Tonfall fort. »Aber das gibt dir nicht das Recht, alles zu zerstören, wofür dein Volk jahrhundertelang gekämpft und gelitten hat.«

Bernec reckte kampflustig das Kinn vor. »Rede ruhig«, sagte er leise. »Das kannst du ja. Reden! Lügen! Ich glaube dir kein Wort mehr, Seshar. Deine Zeit ist abgelaufen. Wir werden Ipcearn stürzen und hinaus in die Wüste gehen und die Höhlen erobern. Und dann werden wir nach Urc gehen. Du kannst uns nicht mehr aufhalten.«

Seshar schüttelte traurig den Kopf. »Nach Urc?« fragte er. »Du willst Urcöun sehen, Bernec? Dann komm - ich zeige es dir.«

Bernec schien für einen Moment sprachlos vor Verblüffung. »Du ... du willst ... was?« keuchte er.

»Wenn es wirklich dein Wunsch ist, so bringe ich dich nach Urcöun«, murmelte Seshar tonlos. »Doch ich warne dich noch einmal - es ist nicht immer gut, alles zu wissen.«

»Du bist verrückt!« keuchte Bernec. »Du bist verrückt, wenn du glaubst, daß ich mit dir gehe und mich dort draußen in der Wüste umbringen lasse!«

Auf Seshars Zügen erschien ein seltsam weicher, verzeihender Ausdruck. Er sah Bernec mit einem undefinierbaren Blick an, trat einen Schritt vom Tisch zurück und klatschte in die Hände.

In den vorher scheinbar fugenlosen Wänden entstanden plötzlich eine Reihe mannshoher, flacher Nischen, und ein Dutzend Soldaten, jeder mit einer schweren, gespannten Armbrust bewaffnet, trat in den Raum.

»Glaubst du wirklich, ich hätte das nötig?« fragte Seshar sanft.

Skar erstarrte. Er stand in Seshars Nähe, und vielleicht wäre es ihm gelungen, mit einem blitzschnellen Satz über den Tisch zu flanken und den alten König als Schutzschild an sich zu reißen - aber wahrscheinlicher war, daß er vorher von einem halben Dutzend Armbrustbolzen durchbohrt würde.

»Steckt eure Waffen weg«, verlangte Seshar ruhig. »Ihr braucht sie nicht.« Skar blickte verblüfft auf das Schwert in seiner Hand, dann auf die Soldaten. »Ihr könnt sie behalten«, bestätigte Seshar. »Aber steckt sie weg. Bitte.«

Skar zögerte noch eine halbe Sekunde und schob das Tschekal dann resignierend in die Scheide zurück. Del folgte seinem Beispiel und hob langsam die Hände. »Du siehst«, fuhr Seshar, an Bernec gewandt, fort, »daß ich es nicht nötig hätte, euch in eine Falle zu locken. Ich will dich nicht töten, Bernec, weder dich noch Coar oder die beiden Satai. Außer, ihr zwingt mich dazu.« Er drehte sich um, gab den Wachen einen Wink. »Ihr könnt gehen«, sagte er. »Ich brauche euch nicht mehr.«

Die Männer wandten sich stumm ab und verließen den Raum. Seshar wartete, bis sie allein waren, trat dann um den Tisch herum und legte Bernec die Hand auf die Schulter.

»Ich verlange nicht, daß du mir plötzlich vertraust«, sagte er. »Aber ich möchte dein Ehrenwort, daß du mit deiner Entscheidung wartest, bis wir in Urcöun waren. Wenn du mich hinterher immer noch töten und Ipcearn niederbrennen willst, so tu es.«

Bernec schlug seine Hand wütend beiseite. »Das ist doch nur wieder ein neuer Trick!« sagte er trotzig. Aber seine Stimme schwankte, und Skar spürte deutlich, daß sein Selbstvertrauen tief erschüttert war und er im Grunde nichts mehr als Verwirrung empfand.

»Und du, Skar?« fragte Seshar. »Glaubst du auch, daß es nur ein Trick ist?« Skar zuckte unschlüssig die Achseln. »So, wie die Dinge liegen, spielt es keine Rolle, was ich glaube«, antwortete er ausweichend. »Aber Ihr habt mich schon einmal belogen.«

»Ich weiß«, murmelte Seshar. »Und es tut mir leid. Hätte ich gewußt, wie alles kommen würde, hätte ich es nicht getan. Aber auch ein König macht Fehler.« Das ist Wahnsinn! dachte Skar ungläubig. Dieser Mann hat die Macht, uns mit einem Fingerschnippen zu vernichten! Und er bittet mich um Verzeihung!! »Wenn ... dein Angebot auch für uns gilt«, sagte er stockend, »so nehmen wir es an.«

»Und du, Coar?«

Coar nickte wortlos. Sie hatte noch keinen Laut von sich gegeben, seit sie den Raum betreten hatte, und selbst jetzt schien es ihr schwerzufallen, auf Seshars Frage zu reagieren.

»Jetzt liegt es an dir, Bernec«, sagte Seshar.

Bernec wand sich wie unter Schmerzen. »Ich ... ich weiß einfach nicht, was ich noch glauben soll«, sagte er schließlich. Von dem Haß und der Wut in seiner Stimme war nichts mehr geblieben. Er war jetzt nur noch ein großes, verängstigtes Kind, das zu begreifen begann, daß es einen schrecklichen Fehler begangen hat und sich mit aller Kraft gegen diesen Gedanken zu wehren versucht.

»Dann komm«, sagte Seshar. »Wir haben einen weiten Weg vor uns. Und uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«

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