4.

Sie bewegten sich im rechten Winkel zu ihrem bisherigen Kurs weiter. Waren Del und Skarbis dahin in direkter Verlängerung des Weges, auf dem sie den Wald betreten hatten, weitergegan gen, so schlugen Coars Reiter eine nordwestliche Richtung ein, wobei sie allerdings oft und ohne erkennbaren Grund vom geraden Weg abwichen, sich hierhin und dorthin wandten und einmal sogar in weitem Bogen auf ihre eigene Spur zurückkehrten, ohne daß Skar einen Anlaß dafür erkennen konnte: Es dauerte lange, bis ihm klarwurde, daß Coar keineswegs ziellos vorging, sondern einem sorgsam angelegten und für das Auge dessen, der wußte, wonach er zu suchen hatte, deutlich markierten Weg folgte. Der Wald wurde nun zunehmend dichter, und der in scharfem Tempo begonnene Ritt verlor bald an Schwung. Die beiden Gefangenen wurden noch immer unbarmherzig hinter den Pferden hergezerrt, aber das Tempo war nun so, daß sie es durchhalten konnten. Offensichtlich hatte Coar nicht vor, sie zu Tode zu schleifen.

Skar setzte leichtfüßig über einen Busch, zog den Kopf ein, um einem tiefhängenden Ast auszuweichen, und verdrehte sich halbwegs den Hals, um nach Del zu sehen. Sie waren getrennt worden - ob zufällig oder mit Vorbedacht, vermochte er nicht zu sagen -, so daß sich Del fast fünfzig Schritt hinter ihm am Ende der Gruppe befand. Sein Gesicht hatte einen maskenhaften, fast starren Ausdruck angenommen, und seine Schritte waren zwar schnell, aber von einer hölzernen, ungelenken Art, die Skar mehr als alles andere bewies, daß der junge Satai am Ende seiner Kräfte war. Del wäre nicht der erste, dem seine eigene Willensstärke zum Verhängnis wurde. Skar kannte diese Gefahr nur zu gut - die Barrieren, die einen Menschen vor sich selbst schützten, waren bei einem Satai nur noch bedingt vorhanden. Del konnte weiterlaufen, immer weiter und weiter, zu stolz oder einfach nur zu erschöpft, um aufzugeben, aber er würde diese Leistung mit dem Leben bezahlen. Wo der Wille stärker war als der Körper, endete dieses stumme Duell meist mit dem Tod.

Er begann, langsamer zu laufen. Die dünne Leine zwischen seinen Handgelenken und dem Pferdesattel spannte sich. Der Ruck schien ihm die Arme aus den Gelenken zu reißen, und die geflochtenen Pflanzenfasern schnitten tief in seine Haut, aber er ignorierte den Schmerz und begann im Gegenteil, die Arme mit kleinen regelmäßigen Rucken enger an den Körper zu ziehen.

Der Reiter wandte ärgerlich den Kopf und machte mit seiner behandschuhten Hand eine befehlende Geste, deren Bedeutung Skar unschwer erraten konnte. »Coar«, sagte er, vor Erschöpfung und Schmerz keuchend. »Ich muß die Kommandantin sprechen.«

Einen Moment lang sah es so aus, als würde der Gepanzerte seine Worte ignorieren und einfach weiterreifen, dann nickte er widerwillig und brachte sein Tier langsam zu Stehen. Skar stolperte noch ein paar Schritte weiter und taumelte schließlich gegen die schweißfeuchte Flanke des Pferdes. »Coar«, wiederholte er atemlos. Seine Zunge versagte ihm den Dienst. Sein Herz hämmerte, und die Erschöpfung schlug wie eine schwere, lähmende Woge über ihm zusammen. Wäre nicht das Pferd gewesen, gegen das er sich lehnte - er wäre gestürzt. In seinem Mund war mit einemmal ein bitterer Geschmack wie nach Kupfer oder altem, rostigem Eisen. Das dumpfe Hämmern der Pferdehufe, der scharfe Schweißgeruch und das metallische Schaben von Rüstungen und eingefettetem Leder erschienen seltsam gedämpft, als nehme er sie durch einen dichten, wattigen Schleier wahr.

»Was ist los?« Coars Stimme zitterte vor Ungeduld und mühsam beherrschtem Zorn. Skar hob müde den Kopf und blinzelte durch einen Schleier aus Tränen und Erschöpfung zu der Kommandantin empor. Die goldschimmernde Rattenschnauze, hinter der sich das Gesicht der jungen Frau verbarg, schien sich vor seinem Blick zu wellen, sie verschwamm, zog sich erst in die Breite, dann in die Länge und befand sich in beständiger unruhiger Bewegung, als betrachte er sie durch einen Vorhang aus glasklarem Wasser.

»Du ... bringst uns um«, keuchte er. Speichel füllte seinen Mund, bitterer, mit dem Geschmack von Erbrochenem durchsetzter Speichel, der seine Sinne umnebelte und eine dünne Verbindungslinie zu dem immer stärker werdenden Gefühl der Übelkeit in seinem Magen schuf. Er hatte das Gefühl, als ob in seinem Inneren etwas ganz dicht davorstand zu zerbrechen. »Wir ... brauchen eine Rast.« Coar schüttelte den Kopf. »Später. Ihr könnt ruhen, wenn wir in Went sind. Wir können nicht rasten.«

Skar war das winzige Zögern vor ihrer Antwort wohl aufgefallen, aber er war viel zu erschöpft, um sich weitere Gedanken darüber zu machen. Zorn wallte in ihm empor und schwemmte für einen winzigen Moment sogar die Erschöpfung davon. »Du wirst zwei Tote nach Went bringen«, sagte er wütend. »Wir sind fünf Tage durch diese verdammte Wüste geirrt und halb verdurstet hier angekommen! Del ist verletzt!«

Coar zögerte einen Herzschlag lang. Die starre Goldmaske verbarg ihr Gesicht vor Skars Blicken, aber er hatte den Eindruck, als ob seine Worte die junge Frau nachdenklich gestimmt hätten. Sie bewegte sich unruhig im Sattel, richtete sich auf und griff entschlossen nach den Zügeln. »Eine kleine Weile noch«, sagte sie schließlich. »Wir müssen aus diesem Teil des Waldes heraus, dann rasten wir. Eine meiner Kriegerinnen wird sich um deinen Freund kümmern.« Sie wandte sich abrupt um und lenkte ihr Pferd wieder an die Spitze der Kolonne zurück, ehe Skar Gelegenheit zu weiteren Einwänden hatte.

Die Pferde setzten sich schnaubend in Bewegung. Der Wald wurde noch dichter, und das Unterholz wuchs allmählich zu einer kompakten grünen Masse zusammen. Trotzdem trieben die Reiter ihre Tiere unbarmherzig voran.

Nach einer Weile schimmerte es hell vor ihnen durch die Bäume. Coar hob die Hand und brachte ihr Pferd mit einem brutalen Ruck am Zügel zum Halten. Das Tier schnaubte und begann unruhig auf der Stelle zu treten.

Die Kommandantin wartete, bis der Rest der Gruppe mit den beiden Gefangenen hinter ihr Aufstellung genommen hatte, bevor sie ihr Tier vorsichtig auf die Lichtung hinaustrieb. Skar fiel auf, wie widerwillig sich das Pferd bewegte. Es versuchte immer wieder auszubrechen und zurückzugehen und war nur durch geduldiges Zureden und ein paar energische Rucke am Zaumzeug überhaupt zum Weitergehen zu bewegen. Das Tier hatte Angst. Panische Angst.

Coar ritt ein paar Schritte weit, hielt an und stieß einen knappen Befehl aus. Die Garde sprengte aus dem Wald hinaus und eine sanft abfallende, mit kniehohem Gras bewachsene Lichtung hinunter. Die Lichtung war groß - vielleicht hundert Schritte bis zum gegenüberliegenden Waldrand und nach rechts und links ohne sichtbare Begrenzung -, ehe eine lange, sanft geschwungene Schneise, die den Wald auf unbestimmbare Länge in zwei Hälften spaltete und eine Art natürlicher Grenze zwischen zwei unterschiedlichen Bereichen des Waldes darstellte. Skar fiel auf, wie seltsam das Sternenlicht auf dem Gras schimmerte. Irgend etwas schien mit den Farben nicht zu stimmen; eine Verschiebung in eine unbekannte, mit Worten kaum oder gar nicht zu erfassende Richtung, die ihre Umgebung gleichermaßen fremdartig wie faszinierend erscheinen ließ. Aber er war viel zu sehr damit beschäftigt, mit weit ausgreifenden Schritten hinter dem Pferd herzuhetzen, als daß er genauer auf seine Umgebung hätte achten können. Er spürte, daß er dieses mörderische Tempo nicht mehr lange durchhalten würde. Bei dem unbarmherzigen Voranpreschen der Pferde und mit gefesselten Händen, die von der straff gespannten Leine gnadenlos nach vorne gerissen wurden, genügte die kleinste Unebenheit, eine Wurzel oder ein im hohen Gras verborgener Ast, ihn stolpern und der Länge nach hinstürzen zu lassen. Und was dann geschah, wagte er sich nicht einmal vorzustellen.

Und fast, als wären seine Gedanken ein Stichwort gewesen, auf das ein grausames Schicksal nur gewartet hatte, kam Del in diesem Augenblick aus dem Takt und stolperte. In Skar krampfte sich etwas zusammen, als er sah, wie Del das Gleichgewicht verlor, von der straff gespannten Liane brutal nach vorne gerissen wurde und genau auf die verletzte Schulter prallte. Del schrie gepeinigt, bäumte sich noch einmal auf und versuchte auf die Füße zu kommen. Aber er wurde noch ein paar Meter weit mitgeschleift, ehe es dem Reiter gelang, sein Tier zum Stehen zu bringen.

Die straffe Marschordnung der Gruppe löste sich von einem zum anderen Augenblick auf. Erst Coars helle, befehlsgewohnte Stimme sorgte nach einigen Augenblicken wieder für Ruhe. Sie rief irgend etwas in ihrer dunklen, kehligen Sprache, worauf der Rest der Garde - außer ihr selbst und den beiden Reitern, an deren Sättel Del und Skar gefesselt waren - weiterpreschten und nach wenigen Sekunden am gegenüberliegenden Waldrand verschwanden.

Skar riß verzweifelt an seinen Fesseln, aber die Liane hielt. Mit aller Kraft warf er sich herum, ignorierte den grausamen Schmerz in seinen Handgelenken und Schultern und zerrte Pferd und Reiter Schritt für Schritt auf den reglos daliegenden Del zu.

»Warte!« Coar sprengte heran und durchtrennte mit einem blitzschnellen Säbelhieb seine Fesseln. Skar raffte sich auf und stolperte weiter auf Del zu. Coar sprengte neben ihm her und zügelte ihr Pferd. Das Tier schnaubte und tänzelte erregt. Die Ohren waren eng an den Schädel angelegt, und vor seinen Nüstern schimmerte flockiger Schweiß.

Der Säbel der jungen Gardeführerin blitzte ein zweites Mal auf und durchtrennte Dels Handfesseln. »Kannst du ihn tragen?« stieß sie hervor. Ihre Stimme bebte. Skar nickte wortlos. Er bückte sich, warf sich Dels reglosen Körper über die Schulter und sah Coar fragend an. Warmes, frisches Blut sickerte aus Dels Schulterwunde und lief an Skars Rükken hinab.

»Zum Waldrand! Rasch!« rief sie.

Ein heller, krächzender Schrei zerriß die Stille. Coar zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Ihr Kopf flog mit einem Ruck in den Nacken. Skar sah ebenfalls auf. Zuerst gewahrte er nichts Ungewöhnliches, aber dann erkannte er den Grund für Coars Erregung. Über dem westlichen Ende der Lichtung war ein Schwarm riesiger formloser Schatten aufgetaucht. Sie waren noch zu hoch, als daß Skar ihre genauen Umrisse erkennen konnte, aber trotzdem erschien es ihm, als hafte ihnen irgend etwas Böses, Unheimliches und Bedrohliches an.

»Hoger!!« stieß Coar entsetzt hervor. Sekundenlang saß sie wie erstarrt da, dann fuhr sie mit einem Ruck herum. »Schnell!« keuchte sie. »Leg ihn über den Sattel!« Skar gehorchte, ohne zu zögern. Er wuchtete den schlaffen Körper in den Sattel, warf einen letzten, gehetzten Blick über die Schulter und rannte dann los. Die Phalanx der fliegenden Schatten war näher gekommen; eine regelrechte Formation gigantischer, dreieckiger Ungetüme, die dem Verlauf der Schneise mit fast militärischer Präzision folgten und wie dunkle, in den Himmel gestanzte Löcher wirkten. Coar duckte sich tief über den Hals ihres Pferdes, hielt mit der Linken Dels schlaffen Körper fest und gab dem Tier unbarmherzig die Sporen.

Sie schafften es nicht.

Ein gewaltiger dreieckiger Schatten huschte über das schimmernde Grasmeer, wuchs groß und drohend über Skar auf und stieß mit einem trompetenden Schrei herab. Coars Pferd bäumte sich auf, schlug mit den Vorderhufen in die Luft und begrub im Zusammenbrechen seine Reiterin unter sich. Auf seinem Hals waren plötzlich zwei Reihen parallel verlaufender, blutiger Schnitte.

Skar warf sich zur Seite, prallte ungeschickt auf und rollte herum. Ein halbes Dutzend dünner, scharfer Dolche schien über seinen Rücken zu fahren. Er schrie vor Schmerz und Überraschung, warf sich zur Seite und schlug blind um sich. Seine Faust traf auf irgend etwas Hartes, Horniges. Er schlug noch einmal zu, kam mühsam auf Hände und Knie hoch und verschaffte sich mit einem wütenden Ellbogenstoß Luft. Ein riesiges nachtschwarzes Etwas, das nur aus Zähnen und dolchspitzen Krallen zu bestehen schien, wuchs über ihm auf, hackte nach seinem Gesicht und versuchte ihm die Augen auszukratzen. Er zog den Kopf zwischen die Schultern, kroch hastig zurück und stand schwankend auf. Seine Hand fuhr zum Gürtel, aber die Schwertscheide war leer. Die Waffe hing unerreichbar an Coars Sattel.

Skar duckte sich in Erwartung des kommenden Angriffs. Zum ersten Mal betrachtete er seinen Gegner genauer. Der Hoger war ein fleischgewordener Alptraum - fast so groß wie ein Mann und mit einer achtunggebietenden Sammlung natürlicher Waffen ausgestattet. Die weit ausgebreiteten Schwingen mochten eine Spannweite von zwanzig oder mehr Metern haben, und das Gebiß - eine dreifach gestaffelte faulige Zahnreihe, die in der perversen Karikatur eines Papageienschnabels bleckte - war kräftig genug, einen Mann mit einem einzigen Biß zu zerteilen. Die Schwingen wurden ähnlich derer von Fledermäusen von einem stabilisierenden Knochengerüst getragen, über dem sich eine lächerlich dünne, halbtransparente Haut spannte und an denen große, einwärts gekrümmte Fänge blinkten. Skar schauderte, als ihm klarwurde, wie dicht er dem Tod entronnen war. Die Fänge des Ungeheuers hatten ihn kaum gestreift, und doch hatte eine einzige flüchtige Berührung seinen Rücken in eine blutende Wunde verwandelt.

Skar wich Schritt für Schritt zurück und hielt verzweifelt nach einem Fluchtweg Ausschau. Der Waldrand war in beiden Richtungen vielleicht fünfzig Schritte entfernt, aber er würde ihn niemals erreichen. Die Luft war voller Hoger; ein Alptraum aus Krallen und Zähnen und ledrigen Schwingen, die die Luft mit hohem, pfeifendem Geräusch teilten. Einzig ihre Größe hinderte die Tiere noch daran, sich alle gemeinsam auf ihre wehrlosen Opfer zu stürzen.

Skar wich schrittweise zurück und kniete neben Coars Pferd nieder, ohne das Monstrum auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Das Tier war tot. Die schrecklichen Fänge des Hoger hatten seinen Hals zerfleischt und sein Genick gebrochen. Es lag quer über Coars Beinen und nagelte ihren Körper gegen den Boden. Del lag irgendwo auf der anderen Seite im Gras und rührte sich nicht. Erneut durchschnitten ein wütender Schrei und das Rauschen mächtiger Schwingen die Luft, als sich der Hoger ein zweites Mal auf sein vermeintlich wehrloses Opfer stürzte. Skars unerwartet heftige Gegenwehr hatte die Bestie überrascht, aber nur für einen Moment.

Er warf sich instinktiv zur Seite und zog den Kopf ein. Die messerscharfen Krallen schnappten dicht vor seinem Gesicht zusammen. Das Geräusch erinnerte Skar an das Zuschnappen einer Bärenfalle.

Der Vogel krächzte, schlug in einer scheinbar plumpen Bewegung mit den Flügeln und gewann wieder an Höhe. In einem weit geschwungenen Bogen setzte er zu einem neuen Angriff an. Skar wich noch einmal aus, sprang hastig vier, fünf Schritte zurück und sah sich gehetzt nach einer Waffe um.

Die Hoger begannen über der Lichtung zu kreisen. Skar hatte plötzlich den Eindruck, als ob sie ihn aus ihren kleinen, funkelnden Augen spöttisch musterten. Mit einem Mal machte sich der verrückte Gedanke in ihm breit, daß diese Bestien mehr als Tiere waren. Seine verzweifelte Gegenwehr schien ihnen eine grausame Freude zu bereiten. Das waren keine Tiere - jedenfalls keine Tiere, wie er sie kannte! Die Monster waren von einer bösen, mordlustigen Intelligenz beseelt. Skar duckte sich, als der monströse Schatten erneut auf ihn herabstieß. Irgend etwas zischte aus dem Waldrand herüber und grub sich mit einem dumpfen Klatschen in den Hals des Hogers. Die Bestie bäumte sich im Flug auf, überschlug sich in der Luft und stürzte dann wie ein Stein zu Boden.

Skar sah überrascht zum Waldrand hinüber. Ein zweiter Bolzen zischte durch die Luft, riß ein häßliches Dreieck in einen ledrigen Flügel und warf eine weitere Bestie aus der Bahn.

Für die übrigen Hoger schien dieser überraschende Angriff Signal zu einer Änderung ihrer Taktik zu sein. Ihre geordnete Formation löste sich auf, und die Luft über der Lichtung verwandelte sich für Augenblicke in ein Chaos aus krächzenden Schreien und schlagenden Flügeln. Dann stießen zwei der Ungeheuer auf Skar und Coar herab, während sich die anderen den neu aufgetauchten Gegnern entgegenwarfen.

Die Königliche Garde war wieder aus dem Wald hervorgebrochen und sprengte in einer weit auseinandergezogenen Kette auf die Lichtung heraus. Ihre Speere waren schräg nach oben gestellt und bildeten eine tödliche Barriere aus schimmerndem Metall. Allzu erfolgreich schien diese Taktik jedoch nicht zu sein. Skar sah, wie sich einer der Riesenvögel mit weit auseinandergefalteten Schwingen auf die Reiter warf. Drei, vier Speerspitzen bohrten sich in seinen Körper und brachen zwischen den Schulterblättern wieder hervor. Aber der Anprall des gigantischen Körpers ließ die Lanzen zersplittern und warf Männer und Tiere gleichermaßen zu Boden. Die geordnete Formation der Garde löste sich auf. Die Speere bildeten plötzlich keinen undurchdringlichen Wall mehr, sondern nur noch vereinzelte, leicht zu umgehende Hindernisse, zwischen denen sich die Hoger spielerisch auf ihre Opfer stürzen konnten.

Skar blieb keine Zeit mehr, dem schrecklichen Schauspiel weiter zu folgen. Ein nachtschwarzer Schatten wuchs über ihm empor, drängte ihn zurück und warf ihn mit brutaler Kraft zu Boden. Harte, dornenspitze Krallen fuhren über sein Gesicht. Coar schrie gellend auf, als sich ein zweiter Hoger in ähnlicher Weise auf sie stürzte.

Skar strampelte verzweifelt mit den Beinen und versuchte hochzukommen. Aber der Hoger hockte wie ein großer, böser Alpdruck auf seiner Brust und drückte ihn mit seinem Körpergewicht in den weichen Boden. Seine Flügel waren weit ausgebreitet, die dornigen Fortsätze tief in den Boden verkrallt.

Skar drehte den Kopf unter den gierig zupackenden Krallen des Hogers weg, zog die Arme an den Körper und warf sich dann mit aller Kraft herum. Das Manöver verschaffte ihm für wenige Augenblicke Luft. Er zog die Beine an und stieß dem Ungeheuer die Knie in den Leib. Ein schmerzhaftes Zucken lief durch den monströsen Körper. Skar holte aus und schlug drei-, viermal hintereinander zu. Er spürte, wie die empfindlichen Hohlknochen der Bestie unter seinen Fäusten brachen. Der Vogel kreischte, hell und spitz diesmal, ein Geräusch, das kaum noch Ähnlichkeit mit den wütenden Angriffsschreien der Bestien hatte. Seine Kiefer klappten über Skars Gesicht auseinander. Ein Schwall übelriechenden Atems schlug ihm entgegen. Aber unbegreiflicherweise zögerte das Monstrum, seine schrecklichste natürliche Waffe einzusetzen.

Skar kannte Hemmungen dieser Art nicht. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung stieß er den Vogel von sich, sprang auf und schmetterte ihm die gefalteten Fäuste in den Nacken. Der Hoger bäumte sich auf, erzitterte und fiel mit einem kläglichen Schrei vornüber. Seine gewaltigen Schwingen zuckten noch einmal, dann lag das Monster still.

Skar fuhr schweratmend herum, um nach Coar zu sehen. Die Kommandantin hatte weniger Glück gehabt als er. Durch das leblose Gewicht des toten Pferdes an den Boden gefesselt, konnte sie nicht viel mehr tun, als den monströsen Angreifer mit ihrer Klinge auf Distanz zu halten - eine Taktik, die nicht besonders erfolgreich war, wie ihr zerbeultes Visier und die Blutflecke auf ihrem Brustpanzer bewiesen.

Skars Blick irrte verzweifelt über den Boden. Er brauchte eine Waffe, unbedingt. Sein Bedarf an Ringkämpfen mit Vögeln war gedeckt.

Ein silbernes Aufblitzen an Coars Sattel ließ ihn zusammenfahren. Sein Tschekal! Er sprang hin, riß die Waffe an sich und schlug noch aus der gleichen Bewegung heraus zu. Der gehärtete Stahl der Satai Waffe fuhr mit einem widerwärtigen, reißenden Geräusch durch Fleisch und Knochen. Der Hoger bäumte sich auf, schrie hoch und spitz und sank in einer Wolke aus wirbelndem Schwarz und spritzendem Blut zu Boden.

Skar wuchtete den Pferdekadaver ächzend zur Seite und kniete neben Coar im Gras nieder. Selbst durch das geschlossene Visier konnte er erkennen, wie sich ihre Augen ungläubig weiteten.

»Geht es?« fragte er hastig.

Coar nickte mühsam. »Hilf mir auf. Wir müssen zu den anderen.«

Skar half ihr vorsichtig auf die Beine und blickte zum Kampfplatz hinüber. Die Formation der Verteidiger war mittlerweile vollkommen zusammengebrochen, und das Schlachtfeld hatte sich in ein Chaos aus Blut und Schreien verwandelt. Eine Anzahl regloser dunkler Körper im Gras zeigte deutlich, welchen Preis die Hoger für ihren selbstmörderischen Angriff gezahlt hatten, aber die Waagschale neigte sich mehr und mehr zu ihren Gunsten. Die Garde wurde immer weiter zum Waldrand hin zurückgedrängt, und auch zwei der goldgepanzerten Reiter lagen bereits leblos am Boden. Ihre Säbel und die dünnen, gefährlichen Lanzen boten ihnen zwar einen gewissen Schutz, aber die Hoger beherrschten trotz ihres plumpen Aussehens ihr Element vollkommen. Immer wieder stießen sie herab, hackten mit Zähnen und Klauen nach den Reitern und versuchten, in den Rücken der Gardisten zu gelangen.

Skar zögerte nicht mehr länger. Ohne auf Coar oder die kreisenden Ungeheuer über seinem Kopf zu achten, spurtete er los und warf sich mit einem gellenden Kampfschrei in die Schlacht. Sein Schwert schnitt einen flirrenden Halbkreis in die Luft, barst durch Knochen und Fleisch und Flügel und zuckte immer wieder empor. Zwei, drei Hoger torkelten tödlich getroffen zu Boden, ehe die übrigen Monster die neu aufgetauchte Gefahr überhaupt bemerkten. Skar duckte sich unter einer niedersausenden Schwinge weg, wurde von dem gewaltigen Luftzug von den Beinen gerissen und schlug noch im Aufspringen erneut zu. Etwas fraß sich heiß und brennend in seine Schulter, aber er registrierte den Schmerz kaum.

Irgendwoher wußte er plötzlich, daß es in diesem Kampf kein Unentschieden geben würde. Nur Sieger und Besiegte. Lebende und Tote.

Sein Eingreifen schien den Soldaten wieder Mut zu machen. Ein vielstimmiger, erleichterter Aufschrei ging durch die Reihe der Gardisten. Spieße wurden mit neuem Mut emporgereckt und bohrten sich in schuppige Körper; Schwerter und Pfeilspitzen blitzten auf, und ein Hoger nach dem anderen fiel erschlagen zu Boden. Die Luft war mit einem Mal von durchdringendem, ekelhaftem Blutgeruch erfüllt.

Und dann war der Kampf vorbei, so abrupt, wie er begonnen hatte. Der letzte Hoger starb mit einem Armbrustbolzen im Auge, und die Luft über der Schneise war plötzlich leer.

Skar ließ erschöpft die Arme sinken. Sein Herz raste, und in seinen Ohren war ein dumpfes auf- und abschwellendes Rauschen, das Geräusch seines eigenen Pulsschlages, das alle anderen Laute übertönte. Die Waffe in seiner Hand schien plötzlich Tonnen zu wiegen. Seine verkrampften Finger öffneten sich. Das Schwert polterte zu Boden. Plötzlich spürte er die Schmerzen, seinen aufgerissenen Rücken, all die kleinen, blutenden Wunden, die Erschöpfung. Lichtung und Reiter begannen sich um ihn zu drehen. Eine Gestalt tauchte vor ihm auf - klein, schmal und in rotfleckiges, schimmerndes Gold gehüllt, mit einem absurd spitz zulaufenden Gesicht. Sie sagte etwas in einer Sprache, die er nicht verstand, und streckte zaghaft die Hand aus.

Er trat einen Schritt vor, schwankte und brach in die Knie. Übelkeit wallte in ihm hoch. Er griff kaltsuchend nach der ausgestreckten Hand, verfehlte sie und fiel der Länge nach ins Gras. Dann verlor er das Bewußtsein.

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