Die Strömung trug sie in phantastischer Geschwindigkeit nach Westen. Skar wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, seit sie die Haltetaue gelöst und sich dem Fluß anvertraut hatten, aber es mußten Stunden sein. Die beiden Fackeln, die sie mitgenommen hatten, waren schon nach kurzem erloschen, und das gewaltige Dröhnen und Brausen des Flusses machte jede Unterhaltung von vornherein unmöglich. Sie hatten die Pferde und sich selbst an den eisernen Ringen, die in die Stämme des Floßes genagelt worden waren, festgebunden, um nicht abgeworfen und in den Fluß geschleudert zu werden, aber die Fahrt verlief ruhiger, als Skar angenommen hatte. Das Floß schien kaum ins Wasser einzutauchen, sondern wie ein flach geworfener Stein über die Oberfläche des Flusses zu schießen.
Nach einer Weile nahm die Geschwindigkeit der Strömung merklich ab, und Skar vermutete, daß der unterirdische Fluß hier breiter oder tiefer wurde. Er setzte sich vorsichtig auf, lockerte den Strick um seine Hüfte ein wenig und versuchte, in der pechschwarzen Finsternis vor ihnen irgend etwas zu sehen. Irgendwo, sehr weit vor ihnen, schien ein trüber grauer Fleck in der Dunkelheit zu schwimmen. Er blinzelte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und blinzelte noch einmal. Aber er konnte trotzdem nicht mehr erkennen. Seine Augen schmerzten, und sein Herz begann plötzlich und völlig grundlos rasend schnell zu hämmern. Er tastete, von einer plötzlichen, sinnlosen Angst erfüllt, um sich und berührte eine Hand. Eine schmale, zartgliedrige Hand, sanfte Finger, benetzt mit eisiger Feuchtigkeit und trotzdem auf sonderbare Weise warm und beschützend. Coars Hand. Die Berührung hatte etwas ungemein Beruhigendes. Er drückte sie, kurz und so fest, daß es sie schmerzen mußte, und ließ sich dann wieder zurücksinken. Seine Furcht war verschwunden. Die kurze, flüchtige Berührung hatte gereicht, seine Angst zu vertreiben und ihn im Gegenteil mit einer tiefen, wohltuenden Ruhe zu erfüllen. Was immer auch geschehen mochte, wohin immer dieser Fluß und Seshar sie bringen würden - er wußte plötzlich, daß es sich gelohnt hatte; wenigstens für ihn.
Der graue Schimmer vor ihnen wurde allmählich zu einem verwaschenen Kreis, und ein neues Geräusch mischte sich in das Dröhnen des Flusses: ein tiefes, grollendes Donnern, ein Laut wie von einem mächtigen, weit entfernten Wasserfall. Die Strömung nahm weiter ab, und das Floß wurde langsamer, begann aber gleichzeitig zu bocken und zu schütteln. Skar setzte sich wieder auf und griff haltsuchend nach dem eisernen Ring neben seiner Hüfte. Ein kurzer, heftiger Schlag ließ das Floß erbeben. Eine eisige Welle spülte über seinen Rand und durchnäßte Skar. Das Floß zitterte, legte sich in eine unsichtbare Kurve und kam mit einem berstenden Schlag in die Waagerechte zurück. Die Pferde begannen unruhig zu werden und zu stampfen. Jemand schrie.
Skar klammerte sich verzweifelt fest und wartete darauf, daß das Schütteln und Beben aufhörte, aber es wurde im Gegenteil noch schlimmer. Das Licht vor ihnen begann wie irr auf und ab zu hüpfen, und Welle auf Welle überspülte das Deck, durchtränkte ihn mit eisiger, klammer Nässe und ließ ihn keuchend nach Atem ringen. Eines der Pferde riß sich los, stieg, kreischend vor Panik, auf die Hinterläufe und stürzte in den Fluß. Die Strömung drückte es in Sekundenschnelle unter die Wasseroberfläche und riß es davon. Skar bäumte sich auf. Ein schmerzhafter Schlag traf seinen Rücken und trieb ihm die Luft aus den Lungen. Er schrie, schluckte Wasser und griff in sinnloser Panik um sich. Seine Hände scharrten verzweifelt über die rauhen Balken, versuchten sich festzuklammern und glitten ab. Seine Fingernägel brachen. Ein ganzer Hagel dumpfer, dröhnender Schläge traf das Floß und ließ es in seinen Grundfesten erbeben.
Und dann war es vorbei.
Das Floß erzitterte unter einem letzten, fürchterlichen Aufprall, schoß in die Flußmitte hinaus und kam dann schaukelnd zur Ruhe.
Skar blieb sekundenlang auf dem Rücken liegen und schnappte verzweifelt nach Luft. Sein Schädel dröhnte, als würde hinter seiner Stirn ununterbrochen ein gigantischer Gong anschlagen, und jeder einzelne Schlag seines Herzens schickte einen schmerzhaften Stich durch seinen Leib. Neben ihm stöhnte jemand, aber das Geräusch schien nur wie durch eine dichte, dämpfende Nebelwand an sein Bewußtsein zu dringen.
Skar hob schützend die Hand vor die Augen, wälzte sich auf den Bauch und stemmte sich hoch.
Es war hell; ein trübes, graues Licht, das ihm nach der stundenlangen Dunkelheit unerträglich grell und schmerzhaft vorkam. Das Floß war nur noch ein Wrack. Das Heck hatte sich in ein einziges Gewirr zerborstener und gebrochener Stämme verwandelt. Ein Großteil der Ladung war verschwunden oder wie von einem gigantischen Hammer zertrümmert. Aus einem zersplitterten Faß quoll dunkelroter, zähflüssiger Wein und breitete sich in Schlieren im Wasser aus. Es sah aus, als triebe das Floß in einer langsam größer werdenden Wolke von Blut. Skar tastete mit klammen Fingern nach dem Seil um seiner Hüfte und versuchte, den Knoten zu öffnen. Das Floß zitterte und begann sich langsam, dem Zug der Strömung folgend, um seine Achse zu drehen.
Neben ihm richtete sich Coar schwankend auf die Knie. Sie stöhnte, verkrampfte die Hände über dem Leib und erbrach würgend Wasser und Schleim. Aus einem gezackten Riß an ihrer Stirn sickerte Blut und vermischte sich mit dem Wasser auf ihrem Gesicht.
Skar gelang es endlich, den Knoten zu lösen. Er stand auf, blieb einen Moment schwankend stehen und beugte sich besorgt zu Coar hinab.
»Nicht«, murmelte sie. »Laß mich ... Es ... geht. Kümmere dich um Bernec.« Sie schob seine Hand beiseite, versuchte sich hochzustemmen und sank mit einem wimmernden Schmerzlaut auf die Knie zurück. Ihr Körper bebte wie unter einem Krampf.
Skar betrachtete sie sekundenlang besorgt und wandte sich dann unwillig ab, um nach Bernec zu sehen. Er war ohne Bewußtsein, aber er lebte. Skar kniete neben ihm nieder, drehte ihn vorsichtig herum und legte seinen Kopf in den Nacken. Bernec stöhnte. Seine Augenlider flackerten, aber er schien nicht die Kraft zu haben, sich vollends zu heben. Skar löste nach kurzem Zögern den Umhang von seiner Schulter, knüllte ihn zusammen und schob ihn behutsam unter Bernecs Kopf. »Bleib liegen«, flüsterte er. »Wir sind durch.«
Bernec wimmerte leise. Seine Hände zuckten. Aber Skar wußte nicht, ob es eine Reaktion auf seine Worte war oder nur ein weiterer schmerzhafter Krampf, der seinen Köprer schüttelte. Er stand auf, strich sich in einer unbewußten Geste über seine schmerzenden Schultermuskeln und versuchte, mehr von ihrer Umgebung zu erkennen.
Das Floß trieb, sich wie ein riesiger Kreisel langsam um seine eigene Achse drehend, auf einen gigantischen unterirdischen See hinaus. Das dumpfe Grollen des Wasserfalles schien näher gekommen zu sein, und irgendwo, weit am westlichen Ende des Sees, glaubte er einen schwachen Schleier von Gischt in der Luft hängen zu sehen. Der See mußte früher einmal von einer gigantischen, kuppelförmigen Höhle umschlossen gewesen sein, aber die Decke hoch über ihren Köpfen war längst eingebrochen und zu einem gezackten schwarzen Krater geworden. Graues Licht strömte von oben herab. Draußen mußte die Dämmerung hereingebrochen sein.
Hinter ihm ertönte ein dumpfes, polterndes Geräusch, gefolgt von einem hellen Platschen, als fiele ein schwerer Körper ins Wasser.
Skar drehte sich herum. Seshar war mittlerweile ebenfalls auf die Beine gekommen und machte sich nun mit fahrigen Bewegungen an der durcheinandergeworfenen Ladung zu schaffen.
Skar bemerkte erst jetzt, daß zwischen den ineinandergeschobenenen Kisten und Fässern am Heck des Floßes der zersplitterte Stumpf eines Ruders hervorsah. Er nickte, eilte zu Seshar hinüber und half ihm und Del, die schlimmsten Trümmer beiseite zu schaffen und das Ruder zu befreien. Der Schaden war nicht so schlimm, wie es ausgesehen hatte. Das Ruder war verkantet, und von der Pinne war ein fast meterlanges Stück abgebrochen, aber es mußte trotzdem möglich sein, das Floß zumindest notdürftig zu steuern.
Seshar war verletzt. Er konnte seine linke Hand nicht benutzen, und sein Gesicht war unförmig angeschwollen und schwarz und blau verfärbt. Trotzdem arbeitete er wie ein Wilder. Sein Blick tastete immer wieder am Ufer entlang, als suche er nach einer bestimmten Stelle oder einem Zeichen, und mehr als einmal ertappte Skar ihn dabei, wie er besorgt nach vorne starrte, hinüber zu der Stelle, an der der noch unsichtbare Katarakt in die Tiefe stürzte.
»Wohin steuern wir?« fragte er.
Seshar deutete mit einer Kopfbewegung nach rechts. »Dort hinüber. Achtet auf einen Tunnel. Die Strömung ist hier noch nicht stark, aber wenn wir ihn verfehlen, sind wir verloren.«
Del griff wortlos nach dem Ruder, suchte mit den Füßen nach festem Halt und stemmte sich dagegen. Das Floß hörte langsam auf, sich zu drehen, begann aber dafür wieder schneller flußabwärts zu gleiten. Das Ufer kam mit quälender Langsamkeit näher. Das Floß reagierte nur schwerfällig auf die Ruderbewegungen, und mehr als einmal wurden sie von einer plötzlichen Strömung erfaßt und wieder weit zur Mitte des Sees zurückgetragen. Skars Besorgnis wuchs. Das Geräusch des Wasserfalles wurde langsam, aber beständig lauter.
Schließlich atmete Seshar erleichtert auf und deutete mit der Hand auf eine niedrige, halbrunde Tunnelöffnung in der Wand. Skar versuchte, den Kurs ihres Floßes in Gedanken zu verlängern. Wenn sie Glück hatten und nicht wieder in eine der unberechenbaren Unterströmungen gerieten, konnten sie es schaffen. Er bückte sich, suchte eine passende Planke aus dem Trümmerhaufen zu seinen Füßen heraus und begann mit entschlossenen Bewegungen zu paddeln. Seshar und Coar folgten nach kurzem Zögern seinem Beispiel.
Es war nicht auszumachen, ob ihre Bemühungen irgendeinen Erfolg hatten oder ob es einfach die natürliche Strömung des Wassers war - aber sie bewegten sich in spitzem Winkel auf den Tunnel zu, ohne nennenswert abgetrieben zu werden. Trotzdem paddelten sie ohne Unterbrechung weiter, bis das Floß schließlich vom Sog des in den Tunnel schießenden Wassers erfaßt wurde und sich mit einer schwerfälligen, knarrenden Bewegung in die Strömung drehte. Der Stollen wuchs rasch vor ihnen empor, und nach wenigen Augenblicken konnten sie erschöpft ihre improvisierten Paddel sinken lassen.
»Bei allen Göttern!« keuchte Del. »Habt Ihr noch mehr solcher Überraschungen auf Lager, Seshar?«
Der alte König schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Der Fluß führt mehr Wasser als gewöhnlich«, sagte er erklärend. »Normalerweise ist es nicht so schlimm.«
»Was wäre passiert, wenn wir den Stollen verpaßt hätten?« erkundigte sich Del ruhig.
Seshar wandte den Blick und starrte sekundenlang wortlos in die dunkelgraue Dämmerung, die das Innere des Stollens erfüllte. »Der See mündet ins Meer«, sagte er ruhig. »Aber sein Ausfluß liegt fast hundert Meter über dem Meeresspiegel. Es gibt einen Wasserfall.« Plötzlich gab er sich einen sichtlichen Ruck und sprach in verändertem, optimistischem Tonfall weiter: »Aber es hat keinen Sinn, sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die hätten sein können. Wir sind jetzt außer Gefahr.«
»Das habt Ihr schon ein paarmal gesagt«, murrte Del.
Seshar nickte. »Ich weiß. Aber diesmal stimmt es. Ihr hättet ohnehin nichts tun können, auch wenn ihr vom Fluß und den Stromschnellen gewußt hättet. Warum sollte ich euch vorher ängstigen?«
Del sog scharf die Luft ein und setzte zu einer wütenden Antwort an, aber Skar brachte ihn mit einem raschen Blick zum Verstummen. »Wie geht es jetzt weiter?« fragte er.
Statt einer Antwort deutete Seshar nach oben. Skar legte den Kopf in den Nacken und sah erst jetzt, daß sie nicht mehr durch eine natürlich geschaffene Höhle, sondern durch einen halbrunden, aus schweren, quadratischen Steinblöcken gemauerten Kanal glitten. Rechts und links des ruhig dahinfließenden Wasserlaufes zogen sich schmale, geländerlose Wege an den Wänden entlang. Der Fels war zermürbt und von Schwamm und weißlichem Schimmel durchsetzt. Der Kanal mußte unermeßlich alt sein.
»Das ist ...«, sagte er.
»Urcöun«, bestätigte Seshar so leise, daß Coar und Bernec, die weiter vorne auf dem Floß hockten, das Wort nicht hören konnten. »Wir sind direkt darunter. Weiter unten gibt es eine Stelle, an der wir das Floß anlegen und entladen können. Es dauert nicht mehr lange.«
Skar sah sich mit neu erwachtem Interesse um. Ein seltsames, widersinniges Gefühl der Ehrfurcht beschlich ihn. Er glaubte plötzlich zu spüren, wie alt, wie unglaublich, unvorstellbar alt diese Anlage war. Die Wände und die gewölbte Decke hoch über ihren Köpfen atmeten Alter und Erhabenheit aus, aber auch noch etwas anderes - ein dumpfes, schwer zu beschreibendes Gefühl des Fremden, Abweisenden.
Urcöun ... Zum ersten Mal, seit er das Wort gehört hatte, glaubte er den fremden, drohenden Unterton darin wahrzunehmen, einen Klang, der wispernde Geschichten von uralten Völkern und dunklen Riten zu erzählen schien, etwas Kaltes und Böses. Einen Klang, der so wenig zu diesem freundlichen, lebensfrohen Volk paßte wie die Hoger und die tödlichen Weiten der Nonakesh. Er wollte etwas sagen, aber mit einemmal erschien ihm der Klang einer menschlichen Stimme in dieser Umgebung falsch und unangebracht, vielleicht sogar gefährlich, so daß er es bei einem stummen Achselzucken bewenden ließ. Und auch die anderen schienen das gleiche zu spüren. Del war seltsam still geworden, und Coar und Bernec kauerten stumm und wie schutzsuchend aneinandergepreßt am Bug des Floßes. Selbst die Tiere hatten aufgehört, nervös an ihren Stricken zu zerren, sondern standen in verkrampfter, angespannter Haltung da, die Köpfe gesenkt und die Ohren ängstlich an den Schädel gelegt.
Nach einer Weile stand Seshar auf und deutete auf eine halbrunde, gemauerte Bucht an der rechten Seite des Kanals. .Del nickte und griff ein letztes Mal zum Ruder. Das Floß schwenkte herum, glitt nahezu lautlos an die niedrige Kaimauer heran und kam mit einem knirschenden Geräusch zur Ruhe.
»Vertäut das Floß«, sagte Seshar mühsam. »Und dann kommt. Wir holen die Pferde und die Lebensmittel später nach. Dort vorne ist die Treppe.«