11.

Mit der Ankunft der Reiter aus Ipcearn breitete sich eine hektische, aufgeregte Atmosphäre über der Stadt aus. Skar sah mehr Menschen als gewohnt in Went, und am frühen Nachmittag versammelte sich auf der Lichtung im Zentrum der Stadt eine fröhliche, lachende Menschenmenge und begann mit den Vorbereitungen für ein Fest - Bänke und eiserne Bratspieße wurden herbeigeschleppt, Feuerstellen vorbereitet und große, bauchige Fässer auf hölzernen Böcken aufgestellt. Skar sah den Vorbereitungen eine Weile vom Waldrand aus zu, aber seine Laune sank mit jedem Augenblick mehr. Coar hatte sich nach der häßlichen Szene, die er ihr gemacht hatte, stumm abgewandt und war gegangen, und er hatte sie seitdem nicht wiedergesehen. Er wußte, daß er ihr weh getan hatte, sehr weh, und er wußte auch, daß es nicht fair gewesen war. Von allen Menschen, die er in Cearn getroffen hatte, mochte Coar der sanfteste sein; seine Vorwürfe waren ungerechtfertigt gewesen, und im Grunde hatte er nicht mehr getan, als seinen Zorn auf Mergell an ihr auszulassen. Aber wie so oft waren die Worte heraus, ehe er sich über ihre Wirkung richtig im klaren gewesen war, und wie so oft fehlte ihm der Mut, ihr einfach nachzugehen und ein paar Worte der Entschuldigung zu sagen. Selbst jetzt wäre es noch nicht zu spät dazu gewesen, und eigentlich wußte er selber nicht zu sagen, warum er es nicht tat.

Vielleicht war es der Zorn auf sich selbst. Mergells Forderung hätte ihn nicht so überraschend treffen dürfen, wie sie es getan hatte. Er hatte genug erlebt, um eigentlich wissen zu müssen, daß man niemals etwas geschenkt bekam. Auch hier nicht.

Nach einer Weile wandte er sich ab und begann ziellos durch die Stadt zu wandern. Stärker denn je spürte er, daß er trotz allem ein Fremder war. Und er würde es auch immer bleiben. Seine Worte Coar gegenüber waren nur halb wahr gewesen - natürlich war er nicht das Ungeheuer, als das er sich selbst hingestellt hatte, und natürlich würden die Männer und Frauen, die er ausbildete, dicht zu blutrünstigen Bestien werden. Aber er spürte instinktiv, laß es unmöglich war, Mergells Ansinnen zu erfüllen. Es gab etwas zwischen ihm und diesen Menschen, einen unsichtbaren Graben, etwas wie eine gläserne Wand, die man weder sehen noch berühren konnte und die sie doch auf immer voneinander trennen würde. Selbst Coar gegenüber spürte er manchmal noch das Gefühl des Fremdseins, eine Empfindung, die, manchmal überraschend und ohne sichtbaren Anlaß, wie ein eisiger Windhauch durch seine Seele zu streifen schien und ihm klarmachte, daß er ein Eindringling war und immer bleiben mußte. Enwor und Went das waren nicht zwei verschiedene Teile einer einzigen Welt, sondern zwei verschiedene Welten, die eine auf der anderen gelegen und doch so unterschiedlich, wie sie nur sein konnten. Er konnte nicht hierbleiben, ohne diese Welt zu zerstören oder selbst zugrunde zu gehen. Es war das erste Mal, daß er begriff, daß Sanftmütigkeit eine ebenso tödliche Waffe sein konnte wie ein Schwert.

Skar blieb stehen, als er merkte, daß ihn seine Schritte unbewußt zu Thorandas Haus zurückgeführt hatten. Er wollte sich abwenden und wieder gehen, zuckte aber dann nur mit den Achseln und begann langsam die schräge Rampe hinaufzusteigen.

Thoranda kam ihm entgegen, als er durch den Vorraum in Richtung der Treppe ging, die zu Dels Kammer hinaufführte. Er blieb stehen, lächelte verlegen und deutete mit einer Kopfbewegung nach oben. »Ich wollte dich nicht stören«, sagte er entschuldigend.

»Wenn du Del suchst«, gab Thoranda zurück, »kannst du dir den Weg sparen. Er ist nicht mehr dort oben.«

»Er ist ...« Skar brach erschrocken ab. »Was ist mit ihm?«

»Nichts, was dich in Sorge versetzen könnte«, sagte Thoranda lächelnd. »Er ist wach, schon seit dem frühen Morgen. Ich hätte dich gerufen, aber ich glaubte, du wärest noch bei Mergell und den anderen.«

»Wo ist er?« fragte Skar hastig.

Thoranda machte eine besänftigende Handbewegung. »Nicht so eilig, Skar. Du hast eine Woche Geduld gehabt, da wird es nicht mehr auf wenige Augenblicke ankommen. Ich bringe dich zu ihm.« Sie schüttelte den Kopf und drehte sich langsam um, um vor ihm tiefer ins Innere des Gebäudes zu schlurfen.

Skar folgte ihr voller Ungeduld. »Wie geht es ihm?« fragte er. »Hat er etwas gesagt?«

»Gut und eine Menge, um deine Fragen zu beantworten«, sagte Thoranda resignierend. »Die Wunde ist gut verheilt, und in ein paar Wochen wird er nicht einmal mehr wissen, daß er überhaupt verletzt war. Er ist sehr stark. Aber auch sehr ungeduldig«, fügte sie mit einem milden Lächeln hinzu. »Ich mußte meine ganze Überredungskunst aufbieten, um ihn davon abzuhalten, aus dem Haus zu rennen und nach dir zu suchen. Er fühlt sich stärker, als er bereits ist. Die Wunde ist verheilt, aber sechs Tage ununterbrochener Schlaf haben seinem Körper Kräfte geraubt.« Sie blieb stehen und deutete mit einer Kopfbewegung auf einen niedrigen halbrunden Durchgang am Ende des Flures. »Geh zu ihm«, sagte sie auffordernd. »Aber gib acht, daß er sich nicht zuviel zumutet.«

Aber Skar hörte schon gar nicht mehr zu. Er drängte sich an ihr vorbei, schlug den Vorhang mit einer ungeduldigen Bewegung zur Seite und stürmte in den dahinterliegenden Raum.

Del hockte mit untergeschlagenen Beinen auf einer geflochteten Matte unter dem Fenster und redete mit leiser Stimme mit Larynn, die dicht neben ihm Platz genommen hatte. Als er Skar erblickte, sprang er auf und kam ihm mit weit ausgebreiteten Armen entgegengelaufen. »Skar! Ich dachte schon, ich würde dich nie wiedersehen!« Er stürmte heran, umarmte ihn und drückte ihn für einen Moment so fest an sich, als wollte er ihn zerquetschen.

Skar machte sich mit sanfter Gewalt los und schob Del auf Armeslänge von sich. »Und ich dachte, du würdest überhaupt nicht mehr wach. Endlich ausgeschlafen?« fragte er grinsend. Er trat einen Schritt zurück, legte den Kopf schräg und musterte Del eingehend. Der Satai hatte abgenommen; seine Gestalt wirkte ausgemergelt und blaß, und seine Wangen waren eingefallen, die Haut grau und schlaff wie bei einem Jahrzehnte älteren Mann. Und trotzdem hatte Skar das Gefühl, ein Wunder zu erleben. Del dürfte nicht mehr leben, nicht nach der fürchterlichen Verletzung und der endlosen Wanderung durch die Wüste, dem Hunger und dem Durst. Er grinste, um seine Unsicherheit zu überspielen, boxte Del spielerisch und sanft in die Rippen und deutete mit einer Kopfbewegung auf Larynn. »Wie ich sehe, hast du dich bereits angefreundet«, sagte er halb im Scherz, halb ernst. Larynn errötete und senkte den Blick.

Del drehte sich herum und ging langsam zu seinem Platz unter dem Fenster zurück. »Larynn hat mir erzählt, was geschehen ist, feit wir von diesen Biestern angegriffen wurden«, begann er, nachdem er sich gesetzt und mit einer einladenden Geste neben sich gedeutet hatte. Skar setzte sich, nickte Larynn grüßend zu ünd lehnte sich gegen die weiche, aus Moos und lebenden grünen Ranken geflochtene Wand.

»Ich habe wirklich sechs Tage geschlafen?« fuhr Del fort.

»Sechs Tage und sechs Nächte«, bestätigte Skar. »Aber es war ,wohl der einzige Weg, dein Leben zu retten. Thoranda ist die beste Heilerin, die ich jemals gesehen habe.«

»Ich habe die alte Frau kennengelernt, heute morgen«, sagte Del versonnen. »Sie ist ... eigenartig.« Er lächelte, warf Larynn seinen seltsam vertrauten Blick zu und fuhr dann in verändertem Tonfall fort. »Aber wir haben später Zeit, über Thoranda und mich zu reden. Wie ist es dir ergangen, während ich hier war?« Skar grinste. »Wie schon? Seit ich dich leichtsinnigerweise als Schüler ausgewählt habe, muß ich mich wohl langsam daran gewöhnen, allein mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden. Du hast ein bewundernswertes Talent, dich immer geschickt aus der Affäre zu ziehen. Mal läßt du dir eine Axt in die Schulter hauen, dann legst du dich wochenlang zum Schlafen hin ...« Er seufzte, setzte einen gequälten Gesichtsausdruck auf und schüttelte den Kopf. »Es ist immer dasselbe mit dir.«

Larynn erhob sich plötzlich. »Ich ... muß gehen«, sagte sie stockend. »Es ist noch viel vorzubereiten, für das Fest heute abend r und die Gäste ...« Sie lächelte nervös, rang einen Moment unschlüssig mit den Händen und ging dann mit übertriebener Hast hinaus.

Del sah ihr verwundert nach. »Was hat sie?«

»Ich weiß nicht«, murmelte Skar achselzuckend. »Sie war den ganzen Morgen hier?«

Del nickte. »Gleich, nachdem Thoranda mich geweckt hat. Sie ist nett.«

»Das scheint sie von dir ebenso zu meinen«, sagte Skar lächelnd. »Weißt du, daß sie es wahrscheinlich war, die dir das Leben gerettet hat?«

»Sie?« Del wirkte plötzlich verstört. »Aber ich dachte, Thoranda -«

»Natürlich«, nickte Skar. »Aber du wärst auf dieser Lichtung um ein Haar gestorben. Ohne sie hättest du nicht einmal Went lebend erreicht. Es war knapp, diesmal.«

Für die Dauer eines Lidzuckens erlosch das optimistische Lächeln auf Dels Zügen. »Ich weiß«, flüsterte er. »Es scheint, als hätten wir ein wenig zuviel riskiert. Wir hätten auf diesen Malabesen hören sollen.«

»Niemand konnte ahnen, was geschehen sollte«, sagte Skar achselzuckend. »Wer weiß, wozu es gut war. Außerdem«, fuhr er mit einem leisen, aufmunternd gemeinten Lachen fort, »hätten wir sonst niemals dieses Volk kennengelernt. Du hättest Larynn nicht getroffen ...«

»Und du nicht Coar«, fiel ihm Del ins Wort.

Skar schwieg. »Ich sehe«, seufzte er, »du hast dich bereits bestens informiert. Was hat Larynn dir sonst noch erzählt?«

»Nicht viel. Das heißt - sehr viel, aber ich habe kaum die Hälfte davon verstanden«, gestand er. Er lächelte, stand auf und reckte sich ausgiebig.

»Du spürst nichts?« fragte Skar, als Del die Arme hoch über den Kopf hob und spielerisch die Muskeln spannte. »Dein Arm ...«

»Ist vollkommen in Ordnung«, bestätigte Del. »Jetzt frag mich bitte nicht, warum. Ich habe ebensowenig eine Antwort darauf wie du.« Er blickte einen Moment aus dem Fenster und ließ sich dann wieder neben Skar zu Boden sinken. »Ging es dir ebenso wie mir, während du geschlafen hast?« fragte er. »Diese Träume ...«

»Träume?« wiederholte Skar. »Was für Träume?« Er selbst hatte nicht geträumt, oder er konnte sich zumindest nicht daran erinnern. Er hatte sich einfach zum Schlafen niedergelegt und war - von seinem Standpunkt aus betrachtet - nach wenigen Augenblicken wieder erwacht, ohne sich erinnern zu können, mehr als drei Tage geschlafen zu haben.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Del unsicher. »Nicht mehr. Nicht die Einzelheiten. Ich weiß nur noch, daß es ... seltsam war. Bedrückend. Ich erinnere mich, daß ich Angst hatte, Angst wie nie zuvor in meinem Leben. Und es war kalt.« Er stockte und schlang in einer unbewußten Geste die Arme um den Oberkörper, als reiche allein die Erinnerung, ihn erneut frösteln zu lassen. Skar mußte unwillkürlich an Thorandas Worte denken. Seine Verletzung war schwer, und das Bandgift war bereits tief in seinen Körper eingedrungen. Ihr hättet keine Stande später kommen dürfen, Skar. Sein ... Geist hatte die Grenze zum Jenseits schon halb überschritten. Vielleicht war dies eine Erklärung für seine Träume, oder das, was er für Träume halten mochte. Aber war es auch eine Erklärung für seine phantastisch schnelle Heilung?

»Larynn ist sehr schnell gegangen, nachdem du gekommen bist«, sagte Del plötzlich. »Hattet ihr Streit?«

»Wir?« Skar schüttelte verblüfft den Kopf. »Sicher nicht. Ich weiß nicht, warum sie so plötzlich aufgesprungen ist. Vielleicht muß sie wirklich bei der Vorbereitung für das Fest helfen. Halb Went scheint auf den Beinen zu sein.«

»Es sind diese Reiter aus Ipcen, nicht?« fragte Del.

»Ipcearn«, verbesserte Skar. »Vielleicht ist es ganz gut, daß sie gegangen ist. Ich wollte sowieso mit dir reden. Allein.« Er schwieg einen Moment, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und begann dann geduldig und ausführlich zu erzählen. Del hörte gespannt zu und unterbrach ihn nur selten, um eine Frage zu stellen oder eine Bemerkung einzuwerfen. Larynn schien ihn in der kurzen Zeit bereits erstaunlich gut informiert zu haben, wenn ihre Art zu erzählen auch sicher etwas einseitig gewesen war, wie Skar allmählich vermutete.

»So ist die Situation«, schloß Skar, nachdem er Del vom Auftauchen Mergells und seiner Forderung erzählt hatte. »Ich fürchte, ich werde nicht darum herumkommen, mit ihm nach Ipcearn zu reiten und mit den Königen zu reden - wer immer sie sein mögen.«

Del verzog das Gesicht. »Bist du sicher, daß du nicht vorschnell reagiert hast?« fragte er.

»Vorschnell? Hätte ich ihm versprechen sollen, zu bleiben unc aus diesem Volk von Gärtnern ein Heer zu machen?«

»Natürlich nicht«, murmelte Del. »Es ist nur ... Diese Men schen haben uns freundlich aufgenommen und uns das Leben ge rettet, mir wenigstens.«

»Das weiß ich«, fuhr Skar auf. »Und ich bin der letzte, der sicl weigern würde, eine entsprechende Gegenleistung ...«

»Das meine ich nicht«, unterbrach ihn Del. »Ich glaube nur, dt solltest etwas vorsichtiger sein mit dem, was du sagst. Wir sind ir ihrer Hand, vergiß das nicht.« Skar machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du weißt so gut wie ich, daß wir nicht bleiben können. Weder du noch ich könnten hier leben, nicht für ein paar Jahre und erst recht nicht für immer. Und was Mergell verlangt, ist schlichtweg unmöglich.«

»Ich weiß«, sagte Del, ohne auf Skars gereizten Tonfall zu rea gieren. »Aber es wäre mehr als nur eine Beleidigung, wenn du dich weigern würdest, mit ihm nach Ipcearn zu gehen.«

»Das tue ich auch nicht«, sagte Skar ärgerlich. »Vielleicht hätte ich es nicht sagen sollen, sicher, aber ich werde zusammen mit ihm dorthin reiten und mit den Königen reden. Vielleicht machen sie sich falsche Vorstellungen von uns. Du weißt doch, wie schnell so etwas geht.« Er lachte leise. »Du hättest sehen sollen, wie diese Kinder kämpfen«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich habe ein paar von diesen schwarzen Biestern erschlagen, drei oder vier, denke ich. Wahrscheinlich sind es dreißig oder vierzig geworden, ehe die Nachricht Ipcearn erreicht hat.«

»Möglicherweise stellt es sie zufrieden, wenn wir eine gewisse Zeit bleiben und ein paar von ihnen ausbilden«, schlug Del vor. »Du weißt, daß es ein paar einfache Tricks ...«

»Nein«, sagte Skar hart. »Es würde sie nicht zufriedenstellen, und ich würde es nicht tun. Dieses Land ist fremd für uns, Del, fremder als irgendeines, das wir je gesehen haben. Wir haben weder die Möglichkeiten noch das Recht, uns in das Leben dieser Menschen zu mischen.«

Del wiegte den Kopf. »Du bist also entschlossen, allein nach Ipcearn zu gehen?« fragte er.

»Natürlich. Der Ritt wäre viel zu anstrengend für dich. Du mußt dich noch schonen. Je eher du gesundest, desto eher können wir aufbrechen.«

»Coar wird sehr enttäuscht sein, wenn wir gehen«, sagte Del lächelnd. »Und Larynn wohl auch. Aber du hast wohl recht. Ich habe vielleicht sechs Tage geschlafen, aber ich fühle mich, als hätte ich sechs Jahre im Sattel gesessen.«

»Außerdem ist mir wohler, wenn einer von uns hierbleibt«, sagte Skar.

»Warum?«

»Warum?« Skar sah auf. »Ich ... ich weiß es selbst nicht so genau, Del«, gestand er nach kurzem Zögern. »Es ist nur ein Gefühl.«

»Du glaubst, sie führen irgend etwas im Schilde?« fragte Del zweifelnd.

Skar schüttelte hastig den Kopf, nahm die Hände herunter und begann an seinem Schwertknauf zu spielen. »Bestimmt nicht«, versicherte er. »Ich bin nur gerne vorsichtig, das ist alles.« Er senkte den Blick, suchte einen Moment krampfhaft nach Worten und fuhr dann, sehr leise und in einem Tonfall, den Del selten bei ihm hörte, fort: »Ich weiß selbst nicht, was es ist, Del. Aber seit ich hier aufgewacht bin, habe ich ein übles Gefühl.«

»Angst?«

»Angst?« wiederholte Skar. »Mag sein, aber nicht so, wie du vielleicht glaubst. Nein, es ist ... ich habe das Gefühl, in etwas hineinzuschlittern, mit dem wir am Ende nicht mehr fertig werden.«

»Diese Menschen sehen mehr in uns, als wir sind«, bestätigte Del. »Ich habe keine drei Tage gebraucht, um das herauszufinden. Wenn du es zugelassen hättest, würden sie uns als Helden feiern.«

»Das ist es ja gerade«, nickte Skar betrübt. »Ich fürchte, sie tun es bereits, auch wenn ich mich dagegen wehre. Ich muß zu diesen Königen, je eher, desto besser.«

»Aber gib acht, was du sagst«, sagte Del warnend. »Du darfst sie nicht enttäuschen. Ich glaube, viele von ihnen setzen all ihre Hoffnung in uns.«

»Hat dir das Larynn gesagt?« fragte Skar.

Del schüttelte den Kopf und blinzelte zum hellen Rechteck des Fensters hinauf. »Nein. Nicht direkt jedenfalls. Aber das, was sie nicht gesagt hat, war beinahe interessanter. Sie scheinen auf eine Art Befreier zu warten.«

»Befreier? Wie meinst du das?«

Del zuckte die Achseln und ließ sich zurücksinken. »Ein Mythos«, antwortete er. »Irgend so eine Legende, was weiß ich. Jedes Volk in dieser Situation würde wohl auf einen Befreier warten.«

»Und du glaubst, sie glauben, wir ...?«

»Ich meine gar nichts«, sagte Del scharf. »Larynn und die anderen sind nicht so dumm, wirklich zu glauben, daß wir direkt vom Himmel gefallen sind, um ihr Volk aus der Knechtschaft zu führen. Ich habe eine ganz andere Befürchtung.« Er setzte sich wieder auf und beugte sich vor. »Hat dir Coar erzählt, daß längst nicht alle Cearner mit der Politik einverstanden sind, die in Ipcearn gemacht wird?« Skar starrte den jungen Satai verblüfft an. »Nein«, sagte er erstaunt. »Das ist das erste, was ich höre. Im Gegenteil - heute morgen hatte ich den Eindruck, daß diese Menschen einen Heidenrespekt vor Mergell und seinen Leuten haben.«

»Das haben sie auch«, bestätigte Del. »Doch das eine schließt das andere nicht aus, oder? Dieses Volk wartet seit Jahrhunderten darauf, in seine Heimat zurückkehren zu können. Viele von ihnen haben die Hoffnung insgeheim längst aufgegeben, aber es gibt auch Stimmen, die nicht länger warten wollen. Ginge es nach Bernec und seinen Freunden ...«

»Bernec!« unterbach ihn Skar verblüfft.

»Du hast ihn kennengelernt?«

»Und ob«, nickte Skar. »Was ist mit ihm?«

Del wiegte den Schädel. »Er gehört zu einer Gruppe junger Krieger, die lieber heute als morgen ein Heer zusammenstellen und durch die Nonakesh ziehen würden, um Urcöun zurückzuerobern. Sie wollen nicht länger warten. Einzig der Respekt vor Ipcearn hält sie noch von einer offenen Revolte zurück.«

»Und was haben wir damit zu schaffen?«

»Nichts«, sagte Del. »Jedenfalls nichts, was uns angeht. Aber es wäre nicht das erste Mal, daß ein völlig unbeteiligter Fremder zum auslösenden Moment wird. Ein unbedachtes Wort kann genügen. Went mag friedlich erscheinen, aber es ist ein Pulverfaß.«

»Ein Grund mehr, so rasch wie möglich von hier zu verschwinden«, sagte Skar halbherzig. Dels Worte hatten seine Verwirrung noch mehr gesteigert.

»Wenn sie uns weglassen«, sagte Del. Er schwieg einen Moment und seufzte. »Aber ich will nicht unken, Skar. Ich werde hierbleiben und auf dich warten, während du in lpcearn bist. Aber ich bitte dich, vorsichtig zu sein. Nach allem, was ich über Ipcearn gehört habe, sind die Könige nicht so harmlos, wie es scheint. Wir -« Er brach mitten im Satz ab und wandte den Kopf. Der Vorhang wurde raschelnd beiseitegeschoben, und Thoranda erschien unter der Tür. Sie trat einen Schritt in den Raum hinein, blieb stehen und sah Del mit offenkundiger Mißbilligung an.

»Genug geredet, ihr beiden«, sagte sie streng. »Ihr habt später noch Zeit genug, euch zu unterhalten.«

Del wollte protestieren, aber Thoranda ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Nichts da«, sagte sie entschieden. »Wenn du wieder vollends genesen bist, kannst du den starken Mann spielen, solange es dir beliebt, aber jetzt wirst du tun, was ich dir sage, und dich ausruhen. Du brauchst Schlaf und kräftige Nahrung. Und vor allem Ruhe.«

Skar grinste schadenfroh, als er den hilflosen Ausdruck auf Dels Gesicht sah. »Tu lieber, was sie sagt«, riet er. »Du kommst sowieso nicht gegen sie an. Ich habe es auch versucht.« Er stand auf und ging mit ein paar raschen Schritten zur Tür. »Ich komme später noch einmal wieder.«

»Später«, sagte Thoranda betont, »wird dein Freund schlafen, Skar. Du kannst ihn morgen besuchen, bevor du nach Ipcearn aufbrichst. Ich habe ihn nicht mühsam gesundgepflegt, damit er sich jetzt wieder überanstrengt.«

Skar seufzte. »Gut, wenn du es meinst. Dann auf morgen.« Er nickte Del zum Abschied zu, dreht sich um und verließ mit eiligen Schritten den Raum. Dels Worte hatten ihn mehr aufgewühlt, als er zugeben wollte. In seinem Inneren kochte ein wahrer Vulkan einander widersprechender Gefühle und Empfindungen. Er wußte nicht, ob er nun wütend oder erleichtert sein sollte, das Geheimnis endlich gelöst zu haben, oder ob er es überhaupt gelöst hatte. Er hatte von Anfang an gespürt, daß die Cearner mehr in ihm sahen als einen einfachen Satai, und doch hatten ihn Dels Worte maßlos überrascht. Überrascht und enttäuscht. Denn wenn Del die Wahrheit gesprochen hatte, dann war das Verhalten der Cearner Berechnung, wenn auch sicherlich nicht bewußt. Aber der Gedanke, benutzt zu werden, letztlich nicht mehr als ein Werkzeug zu sein, brachte ihn in Wut. Er würde zu Coar gehen und die Frage klären, ein für allemal. Sicher hatte Del recht - dieses Volk hatte mehr, viel mehr für sie getan, als sie erwarten durften, und vielleicht hatte er kein Recht, ihre Träume und Hoffnungen zu zerstören, aber wenn er schwieg, konnten die Folgen schlimmer sein.

Er stürmte die Treppe hinunter, lief mit weit ausgreifenden Schritten durch das Haus und prallte fast mit Bernec zusammen, als er auf die Rampe hinaustrat. Er wollte mit einem schnellen Schritt ausweichen und weitergehen, doch Bernec packte ihn am Handgelenk und hielt ihn zurück.

»Nicht so eilig, Satai«, sagte er. »Ich habe mit dir zu reden.«

»Aber ich nicht mit dir«, schnappte Skar mit kaum verhohlener Wut. Er riß seine Hand los und wandte sich abermals um, aber Bernec hielt ihn wieder zurück. Diesmal war sein Griff so fest, daß es schmerzte.

»Wo willst du hin?« fragte er abfällig. »Zu Coar?«

»Und wenn?« gab Skar gereizt zurück. »Was geht dich das an?«

»Eine Menge«, sagte Bernec. »Jedenfalls mehr, als du glaubst, Skar. Ich war gerade bei ihr. Was hast du mit ihr gemacht?«

»Mit ihr gemacht?«

Bernec lächelte böse. »Verstell dich nicht, Skar. Ich habe es zugelassen, daß du dich in ihr Vertrauen geschlichen hast, und ich habe es zugelassen, daß -« Skar schlug seine Hand mit einer blitzschnellen Bewegung zur Seite und funkelte ihn wütend an. »Ich wüßte nicht, was es dich anginge, was Coar tut oder nicht tut. Du hast nichts zuzulassen, Bernec. Vielleicht hat Coar dir früher einmal gehört, aber das ist vorbei. Ich habe ihr ein paar Dinge gesagt, die ihr nicht gefallen haben, aber das ist nicht dein Problem. Laß mich vorbei.«

Bernec schluckte mühsam. Seine Lippen bebten, und er schien mit aller Gewalt gegen den Wunsch anzukämpfen, sich auf Skar zu stürzen und mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen.

»Skar«, flüsterte er. »Ich warne dich. Ich weiß, daß du stärker bist als ich, und ich weiß, daß du mich besiegen und wahrscheinlich töten wirst, wenn ich mit dir kämpfe. Aber ich werde nicht zulassen, daß du Coar weh tust. Niemand darf das, verstehst du? Niemand! Du kannst mit ihr schlafen, so oft und so lange du willst, aber wenn du ihr weh tust, werde ich dich umbringen.«

Skar lächelte geringschätzig. »Wirst du das, Bernec?« fragte er.

Bernec nickte. Die Bewegung wirkte abgehackt und verkrampft. »Ja«, sagte er ernst, »das werde ich.«

Für einen Moment wurde die Spannung zwischen ihnen fast greifbar. Skar wich unwillkürlich einen halben Schritt zurück. Er hatte plötzlich das Gefühl, Bernec bisher mit völlig falschen Augen betrachtet zu haben. Vielleicht war er gar nicht das zornige große Kind, als das er ihn bisher gesehen hatte.

»In Ordnung«, sagte er leiser. »Ich werde es mir merken. Und Bernec ...«, fügte er hinzu, als Bernec sich umwenden und davongehen wollte, »es tut mir leid. Sag Coar, daß ich ihr nicht weh tun wollte.«

»Du ... gehst nicht zu ihr?« fragte Bernec verwirrt.

»Nein. Nicht jetzt. Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns eine Zeitlang nicht sehen. Ich werde zu Logar gehen und bei ihm übernachten, und morgen reite ich mit Mergell nach Ipcearn. Ich komme zu ihr, sobald ich zurück bin.«

Sie brachen bei Sonnenaufgang auf. Mergell hatte sich nicht sonderlich überrascht gezeigt, als Skar bei ihm erschienen war und kurz angebunden verkündet hatte, daß er mit nach Ipcearn reiten würde, aber der Abend war in einer angespannten, gereizten Atmosphäre verlaufen. Skar hatte es vorgezogen, nicht zu dem Fest zu gehen, das die Bewohner Wents für die Ipcearner - aber wohl auch für ihn - gegeben hatten, sondern war statt dessen früh in die Kammer gegangen, die ihm Logar zugewiesen hatte. Aber es hatte lange gedauert, bis er endlich Schlaf gefunden hatte, und als sie am Morgen aufbrachen, war er beinahe froh, Went verlassen zu können, wenigstens für eine Weile.

Wie am vergangenen Morgen hatte sich ein Großteil der Stadtbewohner am Tor versammelt, um den Reitern zuzusehen. Aber die Stimmung unter den Männern und Frauen war anders heute, völlig anders. War die Menge gestern fröhlich gewesen, fröhlich und neugierig, gemischt mit einer Spur von vorsichtigem Respekt und vielleicht auch - jetzt, nach den Informationen, die er von Del erhalten hatte, glaubte er das Gefühl, das er gestern nur unbewußt verspürt hatte, richtig deuten zu können - unterdrückter Furcht, schien jetzt beinahe so etwas wie Trauer über der Menge zu liegen, die sich rechts und links des Weges versammelt hatte.

Er hielt vergeblich nach Coar oder Larynn Ausschau, aber obwohl es ihn schmerzte, sie nicht zu sehen, war er auf der anderen Seite beinahe froh darüber. Vielleicht hatte er mit dem, was er ihr gestern gesagt hatte, alles zerstört. Trotzdem bereute er kein Wort. Jetzt nicht mehr. Vielleicht hatte er eine Wunde in ihre Seele geschlagen, aber wenn, dann war es notwendig gewesen. Coar sah einen Mann in ihm, der er nicht war und niemals werden konnte, und er hatte diese Illusion zerstören müssen, so wie ein Heilkundiger einen vergifteten Stachel aus dem Fleisch schneiden mußte auch wenn es schmerzte.

Sie verließen Went und drangen in scharfem Tempo in den Wald vor. Zwei von Bernecs Reitern lotsten sie sicher durch das Labyrinth von tödlichen Fallen, das die Stadt umgab, dann, von einem Augenblick auf den anderen, waren sie allein. Mergell drängte sein Pferd neben ihn und deutete mit einer Kopfbewegung nach Osten.

»Wir werden bis zum Abend reiten müssen, wenn wir lpcearn vor Sonnenuntergang erreichen wollen«, sagte er. »Fühlst du dich kräftig genug dazu?« Skar lächelte abfällig. »Die Frage kommt ein wenig spät, findest du nicht?« Mergell verzog das Gesicht. »Normalerweise ist der Weg weniger ermüdend«, sagte er, ohne auf die Spitze einzugehen. »Doch im Moment können wir es nicht wagen, nach Sonnenuntergang noch im Wald zu sein. Die Hoger ...«

Skar hätte im Augenblick die Gesellschaft eines Hogers der Mergells vorgezogen, aber er beließ es bei einem gleichmütigen Achselzucken und konzentrierte sich wieder auf den Weg. Er spürte, daß Mergell mit ihm reden wollte und nicht wußte, wie er es anfangen sollte, aber er hatte keine sonderliche Lust, mit ihm zu streiten. Nicht einmal, mit ihm zu reden. Unbewußt gab er Mergell die Schuld an allem, was seit dem vergangenen Morgen geschehen war. Dazu kam, daß Mergell einem Menschenschlag angehörte, den er nicht mochte. Und es war niemals seine Art gewesen zu heucheln.

Mergell versuchte noch ein paarmal, ein Gespräch in Gang zu bringen, gab es aber schließlich auf und kehrte an seinen Platz am Ende der Kolonne zurück. Sie ritten den ganzen Tag nach Osten, ohne mehr als zwei kurze Pausen einzulegen, in denen sich Menschen und Tiere wenige Minuten erholen und stärken konnten. Einmal begegneten sie einer Gruppe der grüngekleideten Männer, die Skar bereits an seinem ersten Morgen in Went beobachtet hatte. Sie hatten ihre Pferde am Rande einer kleinen, offensichtlich durch einen Brand entstandenen Lichtung angebunden und waren damit beschäftigt, den verkohlten Boden abzutragen und junge, grüne Schößlinge in die Erde zu pflanzen. Die Bewohner Cearns kümmerten sich um ihren Wald. Er wurde nicht nur draußen in der Wüste weitergepflanzt, sondern auch hier gehegt, versorgt wie ein verwundetes Tier und geheilt, wo er krank war. So wie der Wald ihnen Schutz gewährte, halfen sie ihm, wo er sie brauchte. Aber er hatte nicht viel Zeit, ihnen zuzusehen. Mergell trieb ihn und die anderen unbarmherzig weiter. Der Wald von Cearn flog an ihnen vorüber, aber Skar hatte an diesem Tag keinen Blick mehr für die Schönheit dieses Landes. Er mußte sich eingestehen, daß er sich insgeheim vor dem, was ihn in lpcearn erwarten mochte, fürchtete. Es war nicht nur sein und Dels Schicksal, das dort entschieden werden würde. Sie waren beide schon viel zu tief in das Schicksal dieses Volkes verstrickt, um nur noch für sich zu sprechen. Ob er wollte oder nicht - mit der Entscheidung, die er in Ipcearn fällen mußte, würde er das Schicksal dieses ganzen Volkes verändern, so oder so. Und er hatte das ungute Gefühl, daß es keine Veränderung zum Guten hin sein würde.

Cearn war ein Wunder. Die Kultur, die hier entstanden war, hatte sich über Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende entwickelt, und sie hatte nur überleben können, weil sie statisch war. Cearn war ein Vakuum, ein Ort, der völlig vom Rest der Welt abgeschieden existierte, unverändert über unzählige Generationen hinweg. Und er hatte nur so und in dieser Form überleben können, weil es keine Veränderung gegeben hatte. Eine Kultur wie die der Cearner konnte nur überleben, solange sie isoliert war. Jede Veränderung mußte sie zerstören. Die Menschen von Cearn hatten die einzig mögliche Art gefunden, in einem so winzigen und verwundbaren Universum wie dem ihren zu überleben.

Am späten Abend erreichten sie Ipcearn. Das Tempo ihres Vorwärtskommens hatte sich in den letzten Stunden beständig verlangsamt, obwohl Mergell und die anderen ihre Pferde unbarmherzig antrieben. Aber die Tiere waren so erschöpft, daß es Skar sowieso schon wie ein Wunder vorgekommen war, daß noch keines von ihnen unter seinem Reiter zusammengebrochen war. Schließlich, als die Dämmerung bereits hereingebrochen war und der Himmel allmählich eine trübgraue Färbung annahm, ließ Mergell anhalten. Die geordnete Formation, in der sie bisher geritten waren, löste sich für Augenblicke in ein Durcheinander erschöpft keuchender Tiere und kaum weniger erschöpfter Männer auf. Skars Pferd wieherte kläglich. Seine Flanken zitterten vor Schwäche, und sein Atem ging rasselnd und mühsam. Flockiger weißer Schweiß troff von seinen Nüstern, und die Hufe stampften ununterbrochen im weichen Waldboden, als wäre es zu erschöpft, um noch ruhig auf einem Fleck stehen zu können.

Mergell rief ein scharfes Kommando und winkte ihn mit einer Geste zu sich. Skar tätschelte seinem Pferd zärtlich den Hals und flüsterte ihm ein paar sinnlose leise Worte ins Ohr, um es ein letztes Mal zum Weitergehen zu bewegen.

Mergell deutete mit der Hand auf den nahen Waldrand und machte eine auffordernde Kopfbewegung. Skar verstand. Er zog an den Zügeln, und sein Tier trabte gehorsam auf die vorderste Baumreihe zu und blieb stehen.

Skar stockte vor Überraschung beinahe der Atem. Er hatte Phantastisches erwartet, aber Ipcearn übertraf alles, was er sich vorgestellt hatte.

Vor ihnen lag eine weite, halbkreisförmige Lichtung. Und an ihrem gegenüberliegenden Rand lag Ipcearn. Wie Went war auch der Königspalast von Ipcearn ein Kind des Waldes, und doch war er anders, ganz, ganz anders. Die Türme und Zinnen der Waldfestung erhoben sich über einer gigantischen, zwanzig, dreißig Manneslängen über dem Boden angebrachten Plattform, die, obwohl von Dutzenden kräftiger Baumstämme getragen, doch beinahe schwerelos zwischen den Wipfeln Cearns zu schweben schien. Das Bild erinnerte Skar an einen gigantischen Adlerhorst, ein lebendes grünes Gebilde aus Holz und Ranken und Grün und Zinnen und Türmen und kühn geschwungenen Bögen, Fenstern und Toren, Wehrgängen und Brücken. Ipcearn war keine Burg, keine Festung. Nicht Heimat der Könige, sondern selbst König, Herrscher über die schweigende dunkle Heerschar des Waldes, wie seine Bewohner die Menschen Cearns beherrschten.

»Gefällt es dir?« fragte Mergell leise neben ihm.

Skar nickte, ohne den Blick von der phantastischen Erscheinung zu nehmen. Ipcearn mochte sich über ein Oval von vielleicht hundertfünfzig Metern Länge erstrecken, doch es wirkte in diesem Moment auf ihn beeindruckender als die mächtigste Festung, die er je gesehen hatte.

»Ipcearn ...«, flüsterte er. »Was ... bedeutet es?«

»In eurer Sprache?« Mergell lächelte. »Hoffnung, Skar. Aber auch Trost, Zuflucht . . . es gibt kein Wort, das seine Bedeutung wirklich erfassen würde.« Er schwieg sekundenlang und gab sich dann einen sichtlichen Ruck. »Komm«, murmelte er. »Wir müssen weiter. Es wird dunkel. Hier in der unmittelbaren Nähe der Festung sind wir zwar sicher, aber ich bin müde von dem langen Ritt, und die Tiere brauchen Ruhe.« Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt langsam über die sanft ansteigende Lichtung auf die Waldfestung zu. Skar und die anderen folgten ihm, nunmehr ohne feste Formation, sondern in einer weit auseinandergezogenen Kette.

Auf der untersten Ebene Ipcearns glomm ein greller, weißer Funke auf und erlosch. Mergell hob die Hand und winkte. Der Funke glühte noch einmal auf und erlosch wieder, aber dafür entstand an der von wogenden braunen Schatten eingehüllten Unterseite der Festung Bewegung. Eine Falltür wurde geöffnet, und während sich die Männer Ipcearn näherten, schwebte eine quadratische, von Dutzenden kräftiger Taue gehaltene Plattform hernieder.

Skar stieg steifbeinig aus dem Sattel, betastete sein schmerzendes Kreuz und legte den Kopf in den Nacken. Sie waren unterhalb Ipcearns, und die Festung schien wie ein titanischer fliegender Berg über ihnen am Himmel zu hängen, ein ovaler schwarzer Schatten, unter dem bereits die Nacht hereingebrochen war. Der Boden war hier, wo niemals Sonne und Licht hingelangten, staubig und trocken und erinnerte an die Wüste, die hier vielleicht jahrmillionenlang geherrscht hatte, ehe der Wald von Cearn auf seiner phantastischen Wanderung an diesem Ort vorbeizog.

Mergell deutete mit einer einladenden Kopfbewegung auf die Plattform und trat selbst auf das hölzerne Rechteck, als Skar zögerte. Auch die anderen Männer traten neben ihn, und Skar folgte nach wenigen Sekunden. Die Plattform setzte sich mit leichtem Rucken in Bewegung. Der Boden fiel unter ihnen zurück und versank schließlich im anonymen Grau der Dämmerung. Skar fiel auf, wie still es war. Die Gespräche der Männer waren verstummt, und von oben drang das leise Knarren und Quietschen der Winde, die den Aufzug bewegte, herab. Die Plattform schwebte in gleichmäßigem Tempo höher, näherte sich dem Boden Ipcearns und verschmolz schließlich mit ihm. Ein sanfter Ruck ging durch die hölzernen Balken zu ihren Füßen, als irgendwo unter ihnen eine unsichtbare Halterung einrastete und sie sicherte.

Sie standen in einer weiten, von dämmerigem, rotem Fackelschein erleuchteten Halle, von deren Decke unzählige Taue und Stricke herabhingen. Die Plattform, auf der sie hinaufgekommen waren, war nicht die einzige. Ipcearn war durchaus darauf eingerichtet, mehr Besucher gleichzeitig aufzunehmen - oder hinauszulassen.

Skar sah sich neugierig um. Er hielt vergeblich nach einem Empfangskomitee oder irgendeinem anderen Zeichen menschlichen Lebens Ausschau. Der Raum war - mit Ausnahme von Mergells Gruppe und ihm selbst - vollkommen leer. Die Stricke verschwanden in kleinen runden Löchern unter der Decke, und als er genau hinhörte, glaubte er hoch über seinem Kopf das Geräusch leiser Schritte wahrzunehmen. Offenbar befanden sich die Winden, mit denen die Aufzüge bewegt wurden, dort oben.

Mergell berührte ihn an der Schulter und deutete auf einen bogenförmigen Durchgang am hinteren Ende der Halle. Skar nickte, trat von der Aufzugsplattform herunter und ging zögernd durch den Raum. Sie gingen durch das Tor, einen kurzen, niedrigen Gang entlang, von dem zahlreiche Türen nach rechts und links abzweigten, und anschließend eine ebenso schmale und niedrige Treppe hinauf. Überall in den Wänden gewahrte er schmale, nach oben spitz zulaufende Öffnungen, Schießscharten wahrscheinlich, und Boden und Decke waren mit einem Muster dunkler, regelmäßiger Linien überzogen, als verberge sich hinter ihrem scheinbar massiven Aussehen ein wahres Labyrinth von Falltüren und Klappen. Wer immer versuchen würde, Ipcearn auf diesem Wege zu stürmen, würde einen grausamen Blutzoll bezahlen müssen. Ipcearn mochte in seinem Äußeren an ein Märchenschloß erinnern, aber es war eine nahezu uneinnehmbare Festung.

Mergell geleitete ihn über ein wahres Labyrinth von Treppen und verzweigten Gängen tiefer ins Innere der Burg. Die Gruppe ihrer Begleiter schmolz allmählich dahin, und als Mergell schließlich stehenblieb und mit einer Kopfbewegung auf ein einfaches, hölzernes Tor deutete, war er mit Skar und Chaime allein. »Geh, Skar«, sagte er auffordernd. »Die Könige erwarten dich.«

Skar wandte überrascht den Kopf. »Jetzt gleich?« sagte er.

Mergell lächelte. »Warum nicht?«

»Aber ich dachte ...«, murmelte Skar verwirrt. »Wir sind schmutzig und abgerissen von der langen Reise, und ...«

»Äußerlichkeiten interessieren uns hier nicht, Skar«, fiel ihm Chaime ins Wort. Es war das erste Mal, daß Skar ihn überhaupt reden hörte. Seine Stimme war dunkler als die Mergells und schien auf unbestimmbare Art mehr Autorität und Ruhe auszustrahlen. »Du kannst dich später säubern und ausruhen. Nun geh.«

Skar zuckte die Achseln und trat langsam auf die Tür zu. Mergell und Chaime blieben zurück, warteten jedoch, bis er den Riegel zurückgeschoben und die Tür halb geöffnet hatte, ehe sie sich umwandten und gingen.

Skar trat langsam in den dahinterliegenden Raum und schob die Tür mit dem Fuß ins Schloß. Das Zimmer war kleiner, als er erwartet hatte, und entbehrte jeglicher königlicher Pracht - ein niedriger, rechteckiger Raum ohne Fenster, dessen gesamte Einrichtung aus einem Tisch und einer Anzahl dreibeiniger Hocker bestand. Eine einzelne Fackel verbreitete flackerndes rotes Licht, und in der Luft lag ein kaum wahrnehmbarer Duft, der ihn an Blumen und frisch gemähtes Gras erinnerte. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es eine zweite, durch einen in schweren roten Falten fallenden Vorhang verschlossene Tür.

»Du bist also Skar«, sagte eine Stimme.

Skar fuhr erschrocken herum und gewahrte erst jetzt den Mann, der auf einem Hocker in einer Ecke des Raumes saß.

»Ich ... bin Skar«, antwortete er überrascht. »Und Ihr ...«

»Ich bin Seshar, der König von Ipcearn«, antwortete der Mann. Er stand auf, lächelte flüchtig und kam mit gemessenen Schritten auf ihn zu. Er war nur wenig älter als Skar, aber kleiner und von gebeugter Statur. Sein Haar war grau und dünn und ebenso mühsam wie vergeblich so gekämmt, daß es die beginnende Stirnglatze verbergen sollte.

»Einer der Könige«, schränkte er ein, nachdem er vor Skar stehengeblieben war und ihn eine Weile gemustert hatte. »Meine Gemahlin läßt sich entschuldigen, für den Moment. Sie wird dich später begrüßen.« Er deutete einladend auf einen der Stühle. »Setz dich, Skar. Du mußt müde von der anstrengenden Reise sein. Ich hoffe, ihr seid nicht behelligt worden?«

Skar schüttelte den Kopf und ging zögernd hinter Seshar her. Der König ließ sich mit einem leisen Seufzer auf einen der Stühle sinken, stützte die Unterarme auf der Tischplatte auf und legte die Hände übereinander.

»Du hast dich gut erholt, wie ich sehe«, sagte er. »Und auch deinem Kameraden geht es besser?«

»Er ist gesund«, bestätigte Skar. »Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft und die Hilfe, die Euer Volk ...«

Seshar blinzelte unwillig und machte eine rasche, ungeduldige Handbewegung. »Morgen«, sagte er, »werden wir dir zu Ehren ein Bankett geben. Dann kannst du dich bedanken, soviel du willst. Im Augenblick haben wir Dringenderes zu besprechen.« Er lächelte, als er den überraschten Ausdruck auf Skars Miene sah. »Es wird dich vielleicht verwundern, wenn ich so direkt und ohne Umschweife zur Sache komme«, fuhr er fort, »doch ich möchte, daß du alle Einzelheiten kennst, ehe du dich entscheidest.«

Skar wollte etwas sagen, aber Seshar schüttelte erneut den Kopf und sprach weiter: »Ich weiß, was wir von dir verlangen, Skar. Und ich kenne auch deine Antwort. Du bist nicht der erste, der den Weg nach Cearn findet.« Er stand auf, sah Skar für die Dauer von drei, vier Herzschlägen durchdringend an und winkte dann mit der Hand. »Komm mit mir, Skar.«

Skar erhob sich und folgte Seshar in den Nebenraum. Das Zimmer war größer als das, in dem sie bisher gewesen waren, und reichhaltiger möbliert. Kisten und schwere, geschnitzte Truhen reihten sich entlang der Wände, und links von der Tür stand ein gewaltiger, ovaler Tisch mit einer safranbraunen Platte und einem grünen, unregelmäßig geformten Aufbau. Seshar deutete darauf und hieß Skar mit einer auffordernden Geste näherzutreten.

Skar warf dem König einen verblüfften Blick zu, als er erkannte, was er vor sich hatte. Es war ein miniaturisiertes, mit unendlicher Geduld angefertigtes Modell Cearns. Das braune Material der Tischplatte stellte die Nonakesh dar, komplett mit der vorgelagerten, ringförmigen Düne, die Cearn wie ein natürlicher Wall vor dem Ansturm der Wüste und des Windes beschützte. Skar trat langsam näher und blickte fasziniert auf das winzige Modell des Waldes. Jeder einzelne Baum, jeder Tümpel und jeder Teich schienen vorhanden zu sein, jeder Fußbreit Boden war mit unendlicher Geduld und Kunstfertigkeit nachgebaut. Es gab ein Modell Wents, in dem er bei genauem Hinsehen sogar die Häuser Coars und Thorandas wiederzuerkennen glaubte.

»Das ist ... phantastisch«, murmelte Skar.

Seshar nickte. »Aber es ist mehr als ein Spielzeug«, sagte er, Skars Frage vorwegnehmend. »Und ich habe es dir nicht nur gezeigt, um dich zu beeindrucken.« Er trat näher und strich mit der Hand dicht über den Wipfeln des Miniaturwaldes durch die Luft. »Was du hier siehst, Skar«, sagte er, »ist ein Plan. Der Plan unseres Lebens, unserer Vergangenheit und unserer Zukunft. Das Leben unseres Volkes, wenn du so willst. Es hat Jahrtausende gedauert, Cearn in seiner jetzigen Form erstehen zu lassen. Und es liegt in deiner Hand, es zu retten oder zu zerstören.«

»In... meiner Hand? Wie meint Ihr das?«

Seshar zögerte sichtlich. Sein Blick bohrte sich in Skars Augen, aber es schien, als sehe er etwas ganz, ganz anderes. »Ich habe dich nicht hierhergebeten, um dich zu überreden, in unseren Dienst zu treten, Skar«, sagte er leise.

»Aber Mergell sagte doch ...«

»Ich weiß, was Mergell gesagt hat«, lächelte Seshar. »Doch es gibt Dinge, die ich nicht einmal meine engsten Vertrauten wissen lassen darf - oder denen, die sich dafür halten. Hat man dir die Geschichte unseres Volkes erzählt?«

Skar nickte.

»Du wirst sie nicht geglaubt haben«, vermutete Seshar. »Doch sie stimmt. Cearn ist nicht unsere Heimat. Unser Volk stammt ursprünglich aus eineue Land, das sehr, sehr weit im Westen liegt. Weiter, als ihr gewandert seid, um zu uns zu gelangen, vielleicht weiter, als überhaupt ein Mensch zu gehen imstande ist.«

»Ich glaube Eure Geschichte, Seshar«, sagte Skar ruhig. »Ich habe gesehen, wie Ihr den Wald von Cearn pflegt, und ich sah die Dünen und den neuen Wald.« Er deutete auf die kaum fingerbreite Mulde, die den westlichen Rand von Cearn wie ein nach vorne gerichteter Keil einfaßte. »Aber wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte ... es ist unglaublich.«

»Vielleicht«, bestätigte Seshar. »Doch es war der einzige Weg für unser Volk, zu überleben. Wir wurden in die Nonakesh getrieben, und die einzige Möglichkeit zu überleben war die, das Unmögliche möglich zu machen.«

»Aber warum?« fragte Skar. »Warum dieses ungeheure Vorhaben? Warum habt Ihr Euch nicht damit zufriedengegeben, in Cearn zu leben und -?«

»Weil wir es nicht können«, sagte Seshar. »Du machst dir ein falsches Bild von uns, Skar. Du hältst uns für friedlich, für ein Volk von Gärtnern und Blumenzüchtern, aber das sind wir nicht. In jedem einzelnen von uns brennt das Feuer der Rache. Nur der Gedanke, eines Tages die fruchtbaren Ebenen Urcs zurückzuerobern, gab uns die Kraft, die Wüste zu besiegen und diesen Wald zu erschaffen. Cearn war nicht immer so groß wie heute. Als wir unsere Wanderung begannen, war es nicht mehr als eine kümmerliche Oase, ein winziger Fleck fruchtbarer Erde, durch eine Laune der Natur inmitten der tödlichen Wüste erhalten geblieben. Kannst du dir vorstellen, Skar, welche Kraft, welch unbeugsamer Wille unser Volk beseelt haben muß, dies alles zu erschaffen und zu erhalten?«

Skar nickte stumm. Der Gedanke betäubte ihn fast. Er blickte auf den Tisch mit dem Modell - dem Plan - Cearns herab, und für einen winzigen Moment stieg eine Vision in ihm empor, wie es gewesen sein mußte, damals. Ein Volk, vertrieben und gejagt, die Handvoll Überlebender, die der Verfolgung eines grausamen Feindes entronnen war und die tödliche Hitze der Wüste überstanden hatte. Irgendwann, nach Tagen oder vielleicht Wochen einer Wanderung, auf der die meisten von ihnen einen grausamen Tod gestorben waren, hatten sie eine Oase gefunden. Und sie hatten Cearn geschaffen, vielleicht das größte Wunder, das es auf ganz Enwor gab. »Ja«, sagte er leise. »Ich glaube, ich weiß, was Ihr mir sagen wollt ...«

»Ich habe dich hierhergebeten, um dich um deine Hilfe zu bitten«, fuhr Seshar fort, »doch auf eine andere Art, als du vielleicht denkst. Wir möchten, daß du gehst. Du und dein Freund.«

Skar war für einen Moment wie vor den Kopf geschlagen. »Ihr wollt«, stammelte er, »daß ... daß wir ...?«

»Natürlich nicht sofort«, sagte Seshar sanft. »Ihr könnt bleiben, bis ihr euch kräftig genug fühlt, der Nonakesh ein zweites Mal die Stirn bieten zu können, egal, wie lange es dauert. Ich kann deine Verwirrung nachfühlen, Skar. Mergell kam mit der Bitte zu dir, dich in unseren Dienst zu stellen, und nun stehe ich hier und bitte dich um gerade das Gegenteil. Doch du wirst verstehen, warum, wenn ich meine Geschichte zu Ende erzählt habe.«

»Ich begreife nur nicht, warum Ihr mich erst ...«

»Geduld, Skar«, bat Sehsar. »Meine Gemahlin und ich mögen die Könige dieses Landes sein, doch wir sind nicht seine unumschränkten Herrscher.«

»Das ... verstehe ich nicht«, gestand Skar.

Seshar lächelte. Er wandte sich um, ging zu einem Schrank und nahm einen Tonkrug und zwei einfache Becher hervor. »Setz dich, Skar, und trink einen Becher Wein mit mir.«

Skar warf einen letzten Blick auf das Modell neben sich und setzte sich dann zögernd in Bewegung. Seshar schenkte die beiden Becher voll, nahm selbst einen kleinen Schluck und wartete, bis Skar seiner Bitte gefolgt war und Platz genommen hatte. »Ich habe lange überlegt, ob ich dir die Wahrheit sagen soll, doch ich glaube, du bist kein Mann, den man auf Dauer belügen kann. Du und Del, ihr seid nicht die ersten, die den Weg zu uns gefunden haben.«

»Ich weiß«, nickte Skar. »Was geschah mit den anderen?«

»Sie starben«, antwortete Seshar ruhig. »Manche überlebten die Entbehrungen nicht, die sie auf dem Weg hierher überstehen mußten. Andere wieder gingen nach kurzer Zeit, um den Rückweg zu suchen. Keiner von ihnen fand ihn. Und wieder andere wurden getötet, von mir oder denen, die vor mir die Verantwortung für Cearn innehatten.«

Seine Stimme war zu einem leisen Flüstern herabgesunken, während er sprach, und obwohl er in entspannter Haltung neben Skar saß und scheinbar desinteressiert mit seinem Becher spielte, lag auf seinen Zügen ein lauernder, angespannter Ausdruck. Aber seine Worte überraschten Skar kaum noch. Er hatte gewußt, daß ihn auf lpcearn eine Überraschung erwarten würde.

»Warum?« fragte er ruhig.

»Warum«, wiederholte Seshar nachdenklich. »Die Antwort auf diese Frage ist auch die Antwort auf die Frage, weshalb ich dich rufen ließ, Skar. Ich glaube, ich kann dir vertrauen, und ich will ehrlich zu dir sein. Du hast viel für unser Volk getan, und du hast es verdient, die Wahrheit zu wissen. Vielleicht hilft sie dir bei deiner Entscheidung. Nicht alle, die den Weg zu uns fanden, kamen in Frieden. Manche kamen, um zu stehlen, doch sie mußten bald erkennen, daß es bei uns nicht viel zu holen gibt. Cearn ist ein armes Land, was materielle Güter angeht. Aber andere kamen, um zu herrschen. Cearn ist klein, und einem Mann wie dir mag es durchaus gelingen, die Macht an sich zu reißen. Unser Volk ist leicht zu beeinflussen, Skar. Wir sind isoliert, und unsere Unkenntnis von der Welt und dem, was in ihr vorgeht, macht uns verwundbar.«

»Wenn das Eure Sorge ist, kann ich Euch beruhigen«, sagte Skar. »Ich habe nie nach irgendwelcher Macht gestrebt. Sie ist es nicht wert.«

»Das stimmt«, sagte Seshar. »Macht bedeutet Verantwortung und Last, zumindest hier bei uns. Aber ich glaube auch nicht, daß du zu jenen Männern gehörst. Meine Sorge ist eine andere. Du hast, als du Cearn betreten hast, etwas getan, über dessen Folgen du dir vielleicht bis jetzt noch nicht im klaren bist.«

»Die Hoger?«

Seshar nickte und stellte seinen Becher ab. Skar fiel auf, daß seine Finger mit kleinen, nervösen Bewegungen über seinen Rand fuhren.

»Unser Volk lebt von der Erinnerung«, sagte Seshar. »Der Erinnerung, der Hoffnung und den Legenden. Und ihr seid eine Legende.« Er lächelte wehmütig, hob den Kopf und sah eine Zeitlang schweigend aus dem Fenster. Über den Wipfeln von Cearn war Dunkelheit hereingebrochen, und gleich den finsteren Schatten schienen auch Kälte und ein Gefühl der Beklemmung in den Raum zu kriechen. »Das Volk von Cearn konnte nicht überleben, ohne Zuflucht zu Mythen, zu Legenden zu nehmen, Skar. Und eine dieser Legenden besagt, daß irgendwann ein mächtiger Held aus dem Nichts auftauchen und unser Volk in die Heimat zurückführen wird. Der Beh'ent.« Er stockte, als er das nachdenkliche Lächeln auf Skars Zügen entdeckte. »Du findest es dumm und naiv, nicht?«

Skar schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nur logisch. Ich mußte nur daran denken, daß Del gestern beinah die gleichen Worte wie Ihr benutzte. Auch er warnte mich, mich nicht in eine Rolle hineindrängen zu lassen, der ich nicht gewachsen bin.«

»Ich fürchte, daß dies bereits geschehen ist, Skar«, sagte Seshar nach kurzem Zögern. »Die Menschen in Went glauben, daß mit dir der lang erwartete Befreier gekommen ist. Der Mann, der sie zurück nach Urcöun führen wird.«

»Aber das bin ich nicht!« widersprach Skar. »Del und ich sind nichts weiter als zwei Satai, die durch eine Laune des Zufalls den Weg zu Euch gefunden haben.«

»Gegen Legenden«, murmelte Seshar mit einem milden, verzeihenden Lächeln, »kämpfen selbst Könige vergebens. Du magst dich wundern, daß ich Mergell mit der Bitte um Hilfe zu dir sandte und nun das genaue Gegenteil von dir verlange, doch ich hatte keine andere Wahl. Wenn es einen Mann gibt, der den Menschen in Went und Ipcearn sagen kann, daß er nicht der ist, den sie in ihm sehen, so bist du es selbst. Aber du mußt behutsam vorgehen, Skar. Unser Volk lebt von der Hoffnung. Ohne sie müßte es zugrunde gehen. Nimm sie ihm nicht. Du würdest es vernichten.«

Skar schwieg betreten. Er wußte nicht, was er erwartet hatte, als er Seshar gegenübertrat - Hochmut und Überheblichkeit, vielleicht auch einen Herrscher, der mit strenger Güte regierte -, aber kaum einen traurigen alten Mann, der ihn um Hilfe bat, ihn beinahe anflehte. Seshars Worte hatten ihn tief erschüttert, mehr, als er zugeben wollte. Plötzlich glaubte er zu spüren, wie schwer die Last war, die Seshar tragen mußte. Cearn war kein gewöhnliches Königreich, und die Veranwortung, die er trug, war nicht die eines gewöhnlichen Königs. Auf seinen Schultern lastete mehr als das Schicksal eines Volkes; er mußte sich weniger um Politik als um die Seelen seiner Untertanen sorgen, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Bei ihm - nur bei ihm - lag die Aufgabe, seinem Volk immer wieder neuen Mut zu vermitteln, ihm zu helfen, an einem Werk zu arbeiten, dessen Erfüllung weder sie noch ihre Kinder oder Kindeskinder jemals erleben würden.

»Du möchtest also, daß ich Mergells Ansinnen abschlage«, sagte er.

Seshar nickte. »Ja. Vielleicht hättest du auch ohne meine Bitte so entschieden, doch ich will, daß du weißt, was von deiner Entscheidung abhängt. Bernec und seine Anhänger glauben, nicht mehr länger warten zu können. Vielleicht haben sie recht, Skar. Vielleicht können sie Urcöun erreichen, und vielleicht würde es ihnen gelingen, es zurückzuerobern. Vielleicht.«

»Ihr wißt es nicht?« fragte Skar.

Erneut blickte Seshar lange und schweigend aus dem Fenster, ehe er antwortete, und erneut hatte Skar das Gefühl, daß seine Worte weniger Erklärung, sondern vielmehr Bitte waren. »Ihr habt die Wüste kennengelernt«, sagte er. »Ihr wißt, wie grausam sie ist. Wir haben Patrouillen nach Westen geschickt, immer und immer wieder, doch keine von ihnen hat jemals Urc erreicht.«

Seshar zögerte einen Moment, und Skar hob seinen Becher und trank mit langsamen, ruhigen Schlucken. Er war sich der Tatsache bewußt, daß Seshar ihm viel anvertraute, vielleicht mehr als gut war. Und trotzdem spürte er, daß er ihm noch nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte.

»Vielleicht würden sie Urc finden und den Kampf gegen die Invasoren gewinnen«, fuhr Seshar nach einer endlos anmutenden Pause fort. »Aber dieses Vielleicht ist mir nicht sicher genug, Skar. Unser Volk hat jahrtausendelang gehofft und gekämpft, zu lange, um alles aufs Spiel zu setzen. Vielleicht würden sie Urcöun finden, aber vielleicht auch nicht. Es wird von Generation zu Generation schwerer, unseren Kindern neue Hoffnung zu geben. Wenn Bernec sein Vorhaben verwirklichen könnte und wenn er dann versagen würde, würde es mehr als ein paar hundert Menschenleben kosten, Skar. Es würde das Ende unserer Hoffnungen bedeuten. Das Ende Cearns.«

»Und welche Rolle spielen Del und ich dabei?« fragte Skar.

Seshar lächelte traurig. »Eine größere, als uns beiden recht sein kann, Skar. Dirobliegt es, den Menschen Cearns zu sagen, daß du nicht der lang erwartete Befreier bist. Ich kann dir nicht dabei helfen.«

Stille legte sich über den Raum; eine Stille, die etwas ungemein Bedrückendes mit sich zu bringen schien. Das also war das Geheimnis Cearns, beinahe enttäuschend auf der einen Seite, aber auch beklemmend und furchteinflößend. Ohne daß er irgend etwas Besonderes getan oder auch nur etwas davon gemerkt hätte, war ihm die Verantwortung für das Schicksal eines ganzen Volkes zugefallen. Seshar hatte recht - er konnte ihm nicht helfen, so gerne er es gewollt hätte. Er und Del waren von einem Tag auf den anderen zu Göttern geworden. Aber es war nicht leicht, ein Gott zu sein.

Er nippte erneut an seinem Wein und drehte den Becher unschlüssig in den Händen, froh, etwas zu haben, an dem er sich festhalten konnte. »Wenn Bernec wirklich der führende Mann der... ›Ungeduldigen‹ ist«, sagte er betont, »warum bittet Ihr ihn dann nicht zu Euch und erklärt ihm alles. Er ist vielleicht jung und aufbrausend, aber ich glaube, daß er vernünftig genug ist, Euch zuzustimmen.«

»Sicher«, sagte Seshar. »Doch es wäre sinnlos, Skar. Ein neuer Bernec würde heranwachsen, und die Probleme wären die gleichen. Auch ich war einst jung, auch wenn es schon lange her ist, und ich kann gut verstehen, was in Bernec und seinen Freunden vorgeht. Auch ich habe einmal zu denen gehört, die nicht länger warten wollten, und wäre ich nicht zufällig als Sohn eines Königs aufgewachsen, wäre ich vielleicht selbst zu einem zornigen jungen Mann wie Bernec geworden. Vielleicht«, fuhr er mit veränderter Betonung fort, »ist es ein Privileg der Jugend, ungeduldig zu sein, und vielleicht ist es an jedem anderen Ort wichtig und sogar notwendig, daß die Jugend sich gegen Bestehendes auflehnt. Aber so, wie die übrige Welt von der Veränderung lebt, so lebt Cearn von der Ruhe. Verändere dieses System, Skar, und du vernichtest es.«

Am nächsten Morgen wurde er noch vor Sonnenaufgang von einem Diener geweckt. Er war nicht mehr lange bei Seshar geblieben. Der scharfe Ritt hatte ihn mehr ermüdet, als er anfangs geglaubt hatte, und nachdem die Spannung nach und nach von ihm abgefallen war, war er rasch müde geworden. Seshar hatte ihm angeboten, zusammen mit ihm zu Abend zu essen, doch Skar hatte abgelehnt und statt dessen darum gebeten, auf sein Zimmer geführt zu werden. Seshar mußte gespürt haben, daß Skars Müdigkeit nicht mehr als ein vorgeschobener Grund war und er in Wirklichkeit nur allein sein wollte, um über das Gehörte nachzudenken, aber er hatte seinen Wunsch akzeptiert und ihn von einem Diener in den westlichen Teil der Festung geleiten lassen. Skar hatte lange wach gelegen und keinen Schlaf gefunden, und seine Gedanken waren immer und immer wieder um die gleichen Fragen gekreist, ohne einer Lösung auch nur nahe zu kommen. Seshars Worte, das war ihm trotz aller Freundlichkeit und der offenen Art, in der der König mit ihm geredet hatte, zweifelsfrei klar, waren mehr als nur Erklärung oder Bitte gewesen. Er hatte ihn auch wissen lassen, daß er ihn töten würde, wenn kein anderer Ausweg blieb. Und Skar nahm ihm diese kaum verhüllte Drohung noch nicht einmal übel. Ihm blieb keine andere Wahl, und wenn er den Befehl geben würde, die beiden Fremden, die das Gleichgewicht Cearns störten, zu töten, dann nicht aus Bosheit, sondern weil er es mußte.

Er stand auf, wusch sich gründlich und wollte gewohnheitsmäßig nach seinen Kleidern greifen, die er neben dem Bett zu Boden geworfen hatte. Sie waren nicht mehr da. Statt dessen entdeckte er, sauber zusammengefaltet über einem Stuhl direkt neben der Tür, knielange braune Hosen, wie sie in Went getragen wurden, Stiefel und eine offene Bluse, dazu einen dunkelroten, prachtvoll bestickten Umhang. Einzig Harnisch und Waffengurt waren von seinen eigenen Kleidern übriggeblieben. Für einen winzigen Moment war er verärgert, dann zuckte er resignierend die Achseln und begann sich anzuziehen. Er konnte wohl kaum in den Lumpen, die er bisher getragen hatte, vor einen König treten. Sekundenlang betrachtete er sich kritisch in dem polierten Metallschild, das als Spiegel von der Wand hing, strich dann glättend über den Stoff des Umhanges und lächelte zufrieden. Obwohl die Kleider für seinen Geschmack ein wenig zu geckenhaft und herausgeputzt wirkten, war er doch zum ersten Mal seit Wochen wieder wie ein Mensch gekleidet, nicht wie ein Bettler. Und fast als hätte diese äußerliche Veränderung auch seinem Körper spürbar gutgetan, fühlte er sich frisch und kräftig wie schon lange nicht mehr. Erging ein paar Schritte im Raum auf und ab, machte ein paar vorsichtige Kniebeugen und zog dann rasch mehrmals hintereinander das Schwert aus der Scheide. Die Waffe fühlte sich vertraut und gut in seiner Hand an, und für einen Moment juckte es ihm in den Fingern, einfach hinauszustürmen und einen Soldaten zu einem freundschaftlichen Kampf herauszufordern.

Der Gedanke ließ ihn lächeln.

Nein. Cearn war kein Land für ihn. Es wurde Zeit, daß sie hier wegkamen. Ein zaghaftes Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenfahren und hastig die Waffe zurückstecken. Er ordnete eilig seine Kleider, strich sich mit der Hand über das Haar und öffnete die Tür.

Auf dem Gang stand Mergell. Er hob die Augenbraue, als er Skars Aufmachung sah, trat zurück und machte eine einladende Handbewegung. »Die Könige wünschen dich zu sprechen, Skar«, sagte er. »Wenn du bereit bist, heißt das.« Skar trat auf den Gang hinaus und ging provozierend langsam in die Richtung, die Mergell ihm gewiesen hatte. Ipcearn war jetzt nicht mehr so ruhig wie am vorigen Abend. Schritte und die Geräusche murmelnder Stimmen hallten über den Gang, und mehr als einmal begegneten sie Gruppen eilig dahinhastender Diener oder Soldaten, die respektvoll vor ihnen zur Seite wichen und dem sonderbaren Fremden teils bewundernde, teils mißtrauische und fast feindselige Blicke hinterherwarfen.

Sie gingen nicht in den gleichen Raum wie am vergangenen Abend. Mergell führte ihn weiter hinauf bis zur obersten Ebene Ipcearns. Je weiter sie über Treppen und sanft ansteigende Rampen hinaufstiegen, desto mehr Menschen begegneten ihnen, Edelleute und ranghohe Offiziere, ihren Uniformen nach zu schließen, und die Blicke, die Skar trafen, wurden zunehmend forschender und taxierender. Skar bemühte sich, möglichst kühl und unbeteiligt zu wirken, aber er begann sich mit jedem Schritt weniger wohl zu fühlen. Der Seshar, der ihn heute erwarten würde, würde nicht der gleiche wie gestern sein. Heute würde er dem Herrscher Ipcearns gegenübertreten, einem Mann, der seine wahren Gedanken und Gefühle über Jahrzehnte hinweg zu verbergen gelernt hatte.

Sie traten auf die oberste Etage Ipcearns hinaus, gingen einen kurzen, offenen Wehrgang entlang und betraten schließlich einen halbrunden, hölzernen Turm, der selbst die höchsten Wipfel des Waldes um mehr als zehn Manneslängen überragte. Hinter dem niedrigen Eingang lag ein halbrunder, mit kostbaren Teppichen und Läufern ausgelegter Raum. An den Wänden hingen Bilder und schwere, in Stein gemeißelte Reliefarbeiten, die mit massiven Ketten an den Deckenbalken verankert waren. In der Mitte des Raumes stand ein schwarzer, steinerner Tisch, der wie eine vergrößerte Ausgabe des Tisches aussah, den er schon in Logars Haus gesehen hatte. Rings um die polierte schwarze Platte gruppierte sich ein gutes Dutzend geschnitzter Stühle, auf denen eine Anzahl ernst dreinblickender, in Uniformen und metallene Rüstungen gekleideter Männer saßen. Seshar selbst thronte am Kopfende der Tafel. Neben ihm saß eine grauhaarige, vollständig in Weiß gekleidete Frau - seine Gemahlin Ylara. Skar hatte sie bisher nicht kennengelernt, aber Mergell hatte ihm auf dem Weg hierher erklärt, daß König und Königin sich die Macht über Went zu gleichen Hälften teilten. Skar hoffte inständig, daß Ylara über die Zukunft ihres Volkes ebenso dachte wie ihr Gatte. Er warf Seshar einen raschen, fragenden Blick zu, doch das Gesicht des Königs blieb unbewegt und starr.

Mergell schloß die Tür hinter ihm, eilte mit raschen Schritten zum Tisch hinüber und nahm auf dem einzigen verbliebenen freien Stuhl Platz. Für Skar gab es keine Sitzgelegenheit. Offensichtlich hatte er als Besucher zu stehen.

Seshar winkte Skar auffordernd mit der Hand, näherzutreten. »Willkommen, Satai Skar«, sagte er förmlich. »Ich hoffe, du hast dich gut erholt. Ipcearn ist stets für jeden Gast geöffnet, doch wir haben nicht oft Gelegenheit, Fremde zu bewirten.« Skar nickte ebenso kühl, wie Seshars Worte gewesen waren. »Ich bin zufrieden, Majestät«, sagte er.

Seshar lächelte flüchtig und wurde sofort wieder ernst. »Nun, da wir dem Protokoll Genüge getan haben, können wir vielleicht gleich zum eigentlichen Anlaß deines Besuches kommen, Satai Skar. Die Männer, die du hier versammelt siehst, sind die höchsten Würdenträger Cearns. Die Männer, die uns zur Seite stehen, um die Geschicke dieses Landes zu leiten.« Er stand auf, deutete nacheinander auf das Dutzend Männer rechts und links des Tisches und nannte ihre Namen. Skar rang sich ein halbherziges Lächeln ab und nickte den Würdenträgern der Reihe nach zu. Aber er machte sich nicht einmal die Mühe, sich ihre Namen zu merken. Er würde kaum lange genug auf Ipcearn bleiben, um mit irgendeinem von ihnen zu reden. Wenn alles so verlief, wie er es sich vorgestellt hatte, dann würde er das Schloß spätestens am nächsten Morgen verlassen; vielleicht schon heute.

»Du weißt, warum ich dich rufen ließ«, begann Seshar, nachdem er die Vorstellung beendet hatte. »Ich habe dir bereits gestern abend unser Angebot - unsere Bitte - unterbreitet, doch ich ließ dir absichtlich Zeit bis heute, über deine Antwort nachzudenken. Hast du es getan?«

»Ja, Seshar«, sagte Skar ruhig. »Das habe ich.«

Eine spürbare Welle der Spannung schien durch den Raum zu laufen. Es war mit einem Male so still, daß er das dumpfe Pochen seines eigenen Herzens zu hören glaubte.

»Wie lautet deine Antwort?« fragte Seshar. »Willst du bei uns bleiben und uns helfen, ein Volk von Kriegern zu werden?«

Erneut versuchte Skar, auf Seshars Miene irgendein Zeichen seiner Gefühle zu entdecken, doch das Antlitz des alten Königs wirkte in diesem Moment wie aus Stein gemeißelt.

»Das will ich«, sagte Skar.

Jemand keuchte. Seshars Lippen zuckten überrascht, und seine Hände umklammerten die Lehnen seines Stuhles für einen Moment so fest, als wolle er sie zerbrechen. Mergell fuhr halb von seinem Sitz hoch und sank mit einem überraschten Laut wieder zurück, und der Ausdruck auf den Gesichtern der anderen wandelte sich von einem Moment zum nächsten von Mißtrauen und Abneigung in Bestürzung und Schreck.

»Du ... willst bleiben?« fragte Seshar stockend.

Skar nickte. »Ja. Ich weiß, daß ich gestern anders geredet habe, doch das war vor meiner Unterhaltung mit Euch. Ich habe mir ein falsches Bild von Eurem Volk gemacht, König. Ein Fehler, den ich zu entschuldigen bitte.« Er stockte für einen Moment und sprach dann mit leicht veränderter Stimme weiter. Nicht lauter, aber mit einem kaum merklichen Unterton und mühsam zurückgehaltener Verachtung, eine Art zu sprechen, die der Mergells sehr nahekam. »Ich hielt Euer Volk für ein Volk von Bauern und Blumengärtnern«, wiederholte er Seshars Formulierung vom Vortage, »doch ich habe mich getäuscht. Was Ihr geleistet habt, ist einmalig in der Geschichte Enwors. Ein Volk, das es unter diesen Bedingungen geschafft hat, zu überleben und zu wachsen, kann nicht schwach sein. Und doch seid Ihr Narren zu glauben, mit einem übermächtigen Feind wie dem, der Euch aus Eurer Heimat vertrieben hat, fertig werden zu können. Ihr mögt tapfer sein, doch ich habe gesehen, wie Ihr kämpft. Selbst ein Kind aus meiner Heimat würde Eure besten Krieger besiegen können.«

»Hüte deine Zunge, Skar«, knurrte Mergell drohend. »Du sprichst mit unserem König.«

Seshar schüttelte den Kopf. »Laß ihn, Mergell. Er hat recht.« Er seufzte, blickte einen Moment zu Boden und legte dann langsam, als bereite ihm die Bewegung unendliche Mühe, den Kopf in den Nacken. »Sprich weiter, Skar«, sagte er mühsam. Trotz seiner ungeheuren Selbstbeherrschung gelang es ihm nicht mehr ganz, seine Enttäuschung zu verbergen.

»Es lag nicht in meiner Absicht, Euch zu beleidigen, Hoheit«, fuhr Skar spöttisch fort. »Doch allein die Tatsache meines Hierseins beweist, daß Ihr ebensogut wie ich wißt, daß ich recht habe. Ihr seid kein Volk von Kriegern und werdet es niemals werden. Ihr lebt in einer Welt ohne Feinde und Herausforderungen, und nur wer gezwungen ist, um sein Überleben zu kämpfen, wird wirklich stark. Wir werden bleiben, und wir werden in wenigen Jahren ein Volk von Kriegern aus euch machen, wenn dies wirklich Euer Wunsch ist. Wenigstens«, fügte er mit einem abfälligen Lächeln hinzu, »werden wir es versuchen.«

»Du ... weißt, wie schwer die Aufgabe ist, der du dich stellst«, sagte Seshar stockend.

Skar nickte. »Ich bin ein Satai, König, und Eure Worte sagen mir, wie wenig Ihr doch über uns wißt. Kein Krieger Enwors kann es mit einem Satai aufnehmen.«

»Wenn du wirklich so stark bist, wie du tust, Skar«, murmelte Mergell, »dann beweise es.«

Skar lachte leise. »Das wird nicht nötig sein, Mergell. Ihr werdet es früh genug erfahren. Wenn du willst, kannst du mein erster Schüler sein.«

Mergell wollte auffahren, doch Seshar brachte ihn mit einer raschen Handbewegung zur Ruhe. »Wir sind nicht hier zusammengekommen, um zu streiten«, sagte er streng. »Wie wird dein Kamerad zu deiner Entscheidung stehen?«

Skar zuckte die Achseln. »Del ist mein Schüler. Er wird tun, was ich ihm befehle. So wie alle meine Schüler. Das ist eine meiner Bedingungen, wenn ich die Aufgabe annehme. Ich verlange Gehorsam. Absoluten Gehorsam. Ich habe in den letzten Tagen viel von Eurem Volk gesehen. Das erste, was Ihr lernen müßt, ist Disziplin.«

Mergells Selbstbeherrschung schien nun vollends erschöpft zu sein. Er sprang so heftig auf, daß sein Stuhl rücklings umkippte, trat mit einem raschen Schritt auf Skar zu und legte die Hand auf den Schwertgriff. »Ich glaube, ich muß dir zuerst einmal Benehmen beibringen, Barbar!« zischte er.

»Mergell!« Seshar sprang ebenfalls auf, aber Skar hielt ihn mit einem raschen Kopfschütteln zurück.

»Laßt ihn, Seshar«, sagte er kühl. »Vielleicht ist es am besten, wenn ich ihm jetzt gleich seine Grenzen zeige.«

»Mergell ist einer unserer besten Krieger«, warnte Seshar.

»Um so besser.« Skar grinste provozierend, verschränkte die Arme vor der Brust und baute sich breitbeinig vor Mergell auf. »Dann nehmt diesen Kampf gleich als Demonstration. Hinterher könnt Ihr Euch entscheiden, ob Ihr mich wirklich wollt.«

Mergell keuchte wütend, sprang mit einem Satz auf Skar los und riß seine Waffe hervor. Skar duckte sich blitzschnell zur Seite weg, umklammerte Mergells Handgelenk und verbog es. Mergell schrie vor Schmerz auf und ließ die Waffe fallen.

»Willst du wirklich mit dem Schwert kämpfen?« fragte Skar ruhig. Er verbog Mergells Hand noch ein wenig mehr und versetzte ihm einen Stoß, der ihn gegen den Tisch taumeln und auf die Knie sinken ließ.

»Hund!« kreischte Mergell. »Dafür stirbst du!« Er fuhr hoch, bückte sich nach seiner Waffe und ging gleich darauf stöhnend zu Boden, als Skars Fuß ihn mit der Gewalt eines Hammerschlages in die Seite traf. Diesmal dauerte es Sekunden, bis er wieder auf die Füße kam.

Skar deutete mit einem spöttischen Lächeln auf den Säbel, der zwischen ihnen auf dem Boden lag. »Heb ihn auf«, sagte er, »wenn du dich nicht traust, unbewaffnet gegen mich anzutreten.« Er wich einen Schritt zurück, löste seinen Waffengurt und warf ihn mit einer beiläufigen Bewegung von sich. »Ich brauche kein Schwert«, sagte er.

Mergells Gesicht verzerrte sich vor Haß. »Wenn du es so willst«, flüsterte er mit bebender Stimme. »Aber verlange keine Gnade von mir, Skar. Du hast mich gefordert, nicht ich dich!« Er duckte sich, stieß einen krächzenden Schrei aus und kam mit weit ausgebreiteten Armen auf Skar zugestürmt.

Skar wartete, bis er dicht vor ihm war, federte aus dem Stand hoch und setzte mit einem eleganten Salto über Mergell hinweg. Sein Ellbogen stieß zurück und landete mit grausamer Wucht in Mergells Rücken. Mergell schrie auf, krümmte sich und stürzte auf die Knie. Skar riß ihn mit einer brutalen Bewegung hoch, schlug ihm drei-, viermal hintereiander die flache Hand ins Gesicht und versetzte ihm einen Fauststoß vor die Brust, der ihn meterweit zurücktaumeln ließ. Sein Fuß kam hoch, beschrieb einen blitzschnellen Halbkreis und krachte gegen Mergells Brust. Mergell brüllte, diesmal nicht vor Zorn, sondern vor Schmerz. Er taumelte gegen die Wand, rang keuchend nach Atem und riß in einer instinktiven Bewegung die Arme hoch, als Skar mit einem gellenden Kampfschrei nachsetzte. Skars Faust durchbrach seine Dekkung und traf seine Schläfe. Mergells Kopf flog mit dumpfem Krachen gegen die Wand. Er stöhnte. Seine Augen wurden glasig. Skar packte ihn beim Kragen, riß ihn von der Wand zurück und versuchte ihm die Arme auf den Rücken zu drehen.

Aber diesmal war Mergell schneller. Er bäumte sich auf, entschlüpfte Skar mit überraschender Gewandtheit und duckte sich unter einem nachgesetzten Fausthieb weg. Seine Faust zuckte hoch und traf Skar in den Magen. Skar stöhnte, taumelte einen halben Schritt zurück und fing einen zweiten wütenden Hieb mit dem Unterarm ab. Mergell knurrte wie ein verwundetes Tier, warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf ihn und trieb ihn allein durch die ungestüme Wucht seines Angriffes zurück. Seine Finger tasteten nach Skars Hand und suchten die Schlagader.

»Idiot!« zischte Skar so leise, daß nur Mergell das Wort verstehen konnte. »Kämpf endlich richtig! Schlag zu!« Er sprenge Mergells Griff mit einer wütenden Bewegung, trat ihm die Beine unter dem Leib weg und warf sich auf ihn, als er zu Boden stürzte. Seine Handkante krachte gegen Mergells Hals und lähmte ihn für Sekunden. Er rollte herum, riß den schlaffen Körper vom Boden hoch und schmetterte ihn wuchtig vor die Wand. Mergell stöhnte gequält. Skar setzte blitzschnell nach und fing ihn auf, ehe er erneut zu Boden stürzen konnte. Er preßte ihn gegen die Wand, griff mit einer Hand nach seinem Hals und versuchte ihn mit der anderen zu stützen, ohne daß einer der anderen es bemerkte. »Wehr dich endlich!« flüsterte er gehetzt. »Ich kann dieses Theater nicht ewig spielen, ohne daß sie es merken!«

Ein Ausdruck unendlicher Verblüffung trat in Mergells Augen. Seine Hände kamen in einer schwächlichen Abwehr hoch und tasteten ziellos über Skars Gesicht. Skar knurrte wütend, wich zurück und hackte mit der Handkante nach Mergells Hals. Mergell wehrte den Hieb kraftlos ab und tauchte zur Seite weg. Er wankte und schien kaum mehr kräftig genug, sich auf den Füßen zu halten. Skar setzte ihm nach, packte ihn und warf ihn noch einmal vor die Wand. Mergell schrie auf, brach in die Knie und ließ sich vornüberfallen. Seine Arme schlangen sich um Skars Fußgelenke und rissen ihn aus dem Gleichgewicht. Skar keuchte überrascht, kämpfte einen Herzschlag lang mit wild rudernden Armen um seine Balance und fiel schwer auf den Rücken. Sekundenlang blieb er benommen liegen, dann rollte er sich zur Seite, stemmte sich auf Hände und Knie hoch und stand schwankend auf.

Mergell kam im gleichen Augenblick auf die Füße wie er. Er keuchte. Aus seiner Nase lief Blut über Gesicht und Kinn, und auf seiner Stirn prangte eine dunkel unterlaufene Beule. Er täuschte mit der Faust an, ließ sich dann zur Seite kippen und trat Skar wuchtig in den Leib. Skar schrie auf und wankte zurück. Zwei, drei Fausthiebe trafen ihn an Brust und Kopf, dann versetzte Mergell ihm einen wütenden Stoß und sprang mit einem verzweifelten Satz nach seiner Waffe. Er kam mit einer Rolle wieder auf die Füße, schwang seinen Säbel und drang mit einem gellenden Schrei auf seinen vermeintlich wehrlosen Gegner ein.

Skar sprang zurück, als Mergells Säbel niedersauste. Die Klinge schnitt mit häßlichem Geräusch dicht vor seinem Gesicht durch die Luft und hackte in den Boden. Skar trat Mergell in die Kniekehlen, flankte zur Seite und riß seinen Waffengurt vom Boden hoch. Das Tschekal schien ihm regelrecht in die Hand zu springen. Er warf Mergell die leere Scheide ins Gesicht, parierte einen Säbelhieb und setzte mit einem wütenden Schrei nach. Ihre Waffen krachten aufeinander und rutschten funkensprühend ab. Mergell wurde von der Wucht des Hiebes zurückgetrieben und prallte gegen den Tisch. Aber er erwies sich als hervorragender Fechter. Immer wieder zuckte sein Säbel hoch und parierte Skars Schläge, und Skar mußte mehr als nur einmal zur Seite springen oder sich blitzschnell ducken, um nicht von der dünnen, gekrümmten Klinge verletzt oder getötet zu werden. Seine Arme begannen allmählich zu erlahmen, aber auch Mergell schien die Wirkung seiner mit brutaler Kraft geführten Hiebe zu spüren. Er schwankte, und seine Konter und Finten waren längst nicht mehr so elegant wie zu Beginn des ungleichen Kampfes. Schließlich endete der Kampf so abrupt, wie er begonnen hatte. Skar holte zu einem mächtigen, beidhändig geführten Schlag aus und sprang vor, aber Mergell verzichtete auf eine Abwehr und duckte sich statt dessen blitzschnell zur Seite weg. Seine Klinge ruckte hoch und riß eine lange, blutige Schramme in Skars Seite. Skar schrie überrascht auf, verlor das Gleichgewicht und stürzte auf den Tisch. Mergells Klinge sauste herab, krachte gegen seinen Handschutz und prellte ihm die Waffe aus der Hand.

»Hört auf!«

Seshars Stimme schnitt hart und befehlend durch den Raum, und Mergell erstarrte mitten in der Bewegung. Das Schwert in seiner Hand zitterte, und seine Brust hob und senkte sich in schnellen, hektischen Stößen. Skar richtete sich langsam auf, massierte seine schmerzenden Handgelenke und wich rückwärtsgehend vor Mergell zurück. Der Säbel folgte jeder seiner Bewegungen, die tödliche Spitze nur mehr wenige Millimeter von Skars Kehle entfernt. »Laß ihn, Mergell«, sagte Seshar. »Das reicht.«

Einen Moment lang hatte Skar beinahe den Eindruck, als ob Mergell den Befehl ignorieren und ihm kurzerhand das Schwert in den Leib rammen wollte; dann drehte er sich mit einer ruckhaften Bewegung, hob seinen Stuhl vom Boden auf und ließ sich erschöpft darauf niedersinken.

Skar blieb sekundenlang reglos gegen die Wand gelehnt stehen. Seshar starrte ihn aus brennenden Augen an. Sein Gesicht war nun nicht mehr so unbewegt wie zu Anfang, aber der Ausdruck darauf war jetzt nur noch bloße Verachtung. »Vielleicht«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme, »ist es besser, wenn du jetzt gehst, Skar.«

Skar rieb sich über die schmerzenden Rippen, reckte trotzig das Kinn vor und trat auf Seshar zu. »Begeht jetzt keinen Fehler«, sagte er. Seine Stimme schwankte, vor Aufregung oder Anstrengung, ganz wenig nur, aber doch so, daß jeder der im Raum Versammelten es bemerkte. »Der Kampf war nicht fair, und Ihr wißt es. Ich hatte praktisch schon gewonnen. Hätte er nicht zur Waffe gegriffen ...«

»Genug«, unterbrach ihn Seshar. »Ich will nichts mehr hören, Skar. Es ist nicht gerade ein Zeichen dafür, ein großer Krieger zu sein, wenn man einen Mann zusammendrischt, der fünfzig Pfund weniger wiegt und zwei Handspannen kleiner ist.«

»Aber es war ein Zufall!« begehrte Skar auf. »Ich ...«

»Schweig, Skar!« donnerte Seshar. »Ich will nichts mehr hören! Wir haben uns getäuscht. Du bist nicht der Mann, auf den wir gewartet haben. Verzeih, wenn ich falsche Hoffnungen in dir geweckt habe, doch auch ein König ist nur ein Mensch und kann sich irren. Du kannst auf Ipcearn bleiben, solange du willst, doch im Augenblick bitte ich dich, dich zurückzuziehen und uns allein zu lassen.« Skar schluckte mühsam. Für den Bruchteil einer Sekunde verzerrte sich sein Gesicht vor Haß. Seine Hände begannen zu zittern. Er bückte sich, hob seine Waffe und den Gurt auf und band beides mit wütenden Bewegungen um. Dann riß er den Umhang von seiner Schulter, knüllte ihn zusammen und fuhr sich damit über den blutigen Kratzer an der Seite. »Wie Ihr wollt, König«, sagte er in einer Art, die ihn an einem anderen Ort leicht den Kopf hätte kosten können. Er warf den Umhang wütend zu Boden, fuhr herum und stapfte aus dem Raum. Die Tür fiel hinter ihm so wuchtig ins Schloß, daß der gesamte Turm für einen Augenblick zu beben schien.

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