2.

Aber da war nichts.

Skar brauchte endlose Sekunden, um sich wieder zu erinnern, wo er war. Über ihm glitzerte die kalte, sternenübersäte Pracht des Wüstenhimmels. Das Sternenlicht überschüttete die Hügel, die jetzt bei Nacht seltsam flach und tiefenlos wirkten, mit fließendem Silber und Grau in allen denkbaren Schattierungen. Das Geräusch, das er gehört hatte - oder sich eingebildet hatte zu hören -, war das Winseln des niemals verstummenden Windes, und die Berührung war die der sanften, einschmeichelnden Hand des Sandes, der bereits begonnen hatte, seinen Körper in einen weichen, warmen Kokon einzuspinnen.

Er öffnete vollends die Augen und setzte sich mit einem Ruck auf. Er fühlte sich seltsam ausgeruht und kräftig. Seine Muskeln schmerzten noch immer, und sein Rücken brannte, als hätte er auf einem Nadelkissen gelegen, aber es war ein Schmerz ganz anderer Art, als er ihn vorher verspürt hatte.

Der Durst machte sich wieder bemerkbar, wenn auch nicht mehr so unerträglich wie zuvor. Er nahm die Hand vom Schwertgriff, ballte die Finger vor dem Gesicht zur Faust und sah sich aufmerksam um. Langsam kroch die Erinnerung an das, was er getan hatte, in sein Bewußtsein zurück. Er wußte nicht mehr, wie lange ihr grausames Mahl angedauert hatte, aber Del und er waren wie zwei riesige menschliche Vampir-Fledermäuse über den geschundenen Leib des Tieres hergefallen.

Sein Blick blieb einen Moment am Kadaver des Pferdes haften. Die Dunkelheit ließ ihn zu einem schwarzen, formlosen Umriß werden, aber er bildete sich immer noch ein, den anklagenden Blick der dunklen Pferdeaugen zu spüren. Ein vages Gefühl der Schuld machte sich in ihm breit. Das Tier hatte ihnen gedient bis in den Tod und darüber hinaus. Zum Dank hatten sie ihm das einzige genommen, was es noch besessen hatte - sein Leben. Sie hatten seinen Körper regelrecht ausgesaugt, Schluck für Schluck der bitteren roten Flüssigkeit getrunken, bis das Blut bereits zu gerinnen begann und als klebrige, zähe Masse ihre Münder verstopfte. Erst dann hatten sie von ihm abgelassen und waren erschöpft zurückgesunken.

Er stand auf, säuberte - mehr aus Gewohnheit denn aus Reinlichkeit - seine Kleider, so gut es ging, und betrachtete angewidert seine Hände. Sie waren schwarz von geronnenem Blut und Schmutz und erinnerten an verkrümmte, abgestorbene Baumstrünke, taub und ohne Gefühl und kaum zu irgend etwas zu gebrauchen. Seine Hände waren mit Wunden und Abschürfungen übersät, und etwas von dem Blut daran war sein eigenes. Aber er spürte keinen Schmerz. Eine Zeitlang stand er schweigend da und starrte ins Leere, dann drehte er sich um und umrundete langsam den Pferdekadaver, instinktiv Abstand zu dem leblosen Leib haltend. Ein schwacher, süßlicher Geruch hing in der Luft. Der Kadaver begann bereits zu verwesen. In diesem mörderischen Klima würde es nicht lange dauern, bis er zu einem pergamentartigen, verkohlten Etwas zusammengeschmort war, eine stumme Warnung für jeden, der vielleicht gleich ihnen irgendeines Tages am Ende seiner Kraft dieses Hügeltal erreichen würde, um darin zu sterben. Del bewegte sich unruhig. Aus seiner Brust drang ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen, und die Augäpfel hinter den geschlossenen Lidern bewegten sich hektisch hin und her.

Skar berührte ihn sanft an der Schulter, und Dels Augen sprangen mit einem Ruck auf. »Was ...!«

»Schon gut«, murmelte Skar. »Du hast geträumt.« Seine eigene Stimme erschien ihm in der Stille der Nacht unnatürlich laut; ein Sakrileg, eine Schmähung dieses übernatürlichen Schweigens, die nicht ungesühnt bleiben würde.

Del nickte nach kurzem Überlegen. »Ja. Es ...« Er brach ab, hustete trocken und versuchte sich aufzurichten. Ein schnelles, schmerzhaftes Zucken lief über sein Gesicht.

»Danke«, murmelte er nach einer Weile. Er versuchte abermals aufzustehen, und diesmal gelang es. Er schwankte zwar, aber er stand.

»Wofür?« fragte Skar.

»Daß du mich geweckt hast. Ich hatte einen Alptraum, weißt du. Einen von der schlimmen Sorte. Ich ... ich wollte aufwachen, aber es ging nicht.«

»Zeit, daß wir weiterkommen«, murmelte Skar anstelle einer direkten Antwort. Aber innerlich wußte er, daß sie nirgendwo mehr hingehen würden. Weder in dieser noch in irgendeiner anderen Nacht.

»Wir ... haben keine Pferde mehr«, fügte er nach einer Weile hinzu.

Del starrte sekundenlang den Kadaver des Pferdes an. Erst jetzt schien ihm wieder aufzugehen, was geschehen war.

»Wo ist das andere?«

Skar zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich davongelaufen, als es gesehen hat, was seinem Kollegen zugestoßen ist«, antwortete er in dem schwachen Versuch, einen Scherz zu machen. Aber der Durst verzerrte seine Stimme zu einem schrillen Krächzen und verdarb ihm den Effekt gründlich.

Del reckte sich. Seine Gelenke knackten leise. Vorsichtig tastete er nach dem Verband über seiner linken Schulter und verzog dann das Gesicht. »Noch nicht Mitternacht«, murmelte er nach einem Blick in den Himmel. »Wenn wir gleich aufbrechen, schaffen wir noch ein schönes Stück, ehe die Sonne wieder aufgeht.« Skar verzichtete auf eine Antwort. Del wußte ebensogut wie er, wie sinnlos es war, sich noch ein paar Meilen weiterzuquälen. Aber er sprach den Gedanken nicht laut aus, sondern drehte sich wortlos um und begann die nächstgelegene Düne emporzusteigen. Schließlich war es egal, wo sie starben. Die Wüste war großzügig in dieser Beziehung. Sie hatte Millionen Gräber für sie bereit, und eines war so gut wie das andere.

Del folgte ihm in wenigen Schritten Abstand. Der Schlaf und das Blut, das er getrunken hatte, schienen ihm sichtlich gutgetan zu haben. Sein Gesicht wirkte noch immer grau und eingefallen, und das Pferdeblut war auf seinen Zügen zu einem skurrilen Muster geronnen, was ihm das Aussehen eines barbarischen Tempelpriesters gab. Seine Schritte waren schleppend und mühsam wie die eines alten Mannes, aber vor wenigen Stunden wäre er noch nicht einmal fähig gewesen, die Düne auf Händen und Knien etnporzukriechen.

Sie erreichten den Kamm, blieben einen Moment lang stehen und wandten sich schließlich nach Norden. Eine Richtung war so gut wie die andere. Sie waren von Süden her in die Wüste eingedrungen, aber wahrscheinlich hatten sie sich in den letzten Tagen im Kreis bewegt und waren vollkommen vom Kurs abgekommen. Selbst wenn sich diese höllische Wüste nur noch ein paar Meilen weit streckte, war es zuviel. Sie bewegten sich im Schneckentempo voran, eine, höchstens anderthalb Meilen pro Stunde, schätzte Skar. Irgendwo vor ihnen, verborgen hinter dem monotonen, welligen Horizont, lagen Thbarg und Elay, Thbarg mit seinen saftigen grünen Prärien und Elay, das Ziel, zu dem sie - wann eigentlich? Vor zwei Wochen? Der Gedanke erschien ihm mit einemmal lächerlich - aufgebrochen waren. Zum ersten Mal, seit sie die Nonakesh betreten hatten, kam ihm die grausame Ironie ihrer Lage zum Bewußtsein. Sie waren aufgebrochen, um mit den Heeren Kohons gegen die Quorrl zu ziehen, zu kämpfen und zu brennen, aber sie hatten kämpfen müssen, lange bevor sie ihrem Ziel auch nur nahe gekommen waren, sie wurden langsam bei lebendigem Leibe verbrannt, und sie würden sterben, ohne die Zinnen Elays auch nur zu Gesicht bekommen zu haben. Vielleicht, dachte Skar in einem Anflug von bitterem Galgenhumor, rettete ihr Tod das Leben von ein paar Dutzend Quorrl, gegen die sie hatten ziehen sollen. Sie marschierten schweigend und monoton nach Norden, dicht beieinander und doch unendlich isoliert, jeder allein mit sich und seinen Gedanken und Gefühlen, und Skar begann zu begreifen, daß sie jetzt wirklich starben. Und daß keiner dem anderen helfen konnte. Der Tod, das begriff er plötzlich, war einsam. Und es gab eine Grenze, an der nicht nur das Leben endete, sondern auch alle Begriffe von Freundschaft und Zuneigung. Del und er waren ihr Leben lang beisammen gewesen, aber sterben würde jeder für sich allein.

»Weißt du«, sagte Del plötzlich, »woran ich schon die ganze Zeit denken muß?«

»Nein.«

»Daß wir vielleicht seit Tagen dicht am Rande dieser Wüste entlangmarschieren, ohne es zu merken.« Er lachte rauh und humorlos und fuhr sich mit einer fahrigen Geste über die Stirn. »Irgendwo muß diese verdammte Wüste doch aufhören.«

»Muß sie das?« antwortete Skar.

»Natürlich. Es muß ...« Er brach ab, blieb mitten im Schritt stehen und umklammerte Skars Handgelenk so fest, daß dieser schmerzhaft aufstöhnte.

»Was zum Teufel -«

Skar verstummte, als er den Ausdruck auf Dels Gesicht sah. Langsam, beinahe widerwillig, als hätte er Angst vor einer weiteren Enttäuschung, einer neuen Hoffnung, der doch nur grausame Ernüchterung folgen konnte, drehte er den Kopf und folgte Dels Blick.

Vor ihnen, allerhöchstens noch zwei-, dreihundert Schritt entfernt, erhob sich die massive grüne Mauer eines Waldes.

»Sag mir, daß ich nicht träume!« bat Del mit zitternder Stimme. »Bitte, Skar, sag es mir!«

»Wenn du träumst, dann träumen wir beide den gleichen Traum. Ich sehe es auch«, murmelte Skar.

»Bäume!« stieß Del ungläubig hervor. »Mein Gott, Skar - das sind Bäume!« Skar nickte mühsam. Er war unfähig, zu denken, irgend etwas zu sagen oder zu tun. Von einer Sekunde auf die andere fühlte er sich leer und erschlagen, und absurderweise erfüllte ihn der Anblick der Rettung nicht mit Freude oder Erleichterung, sondern mit einem Gefühl dumpfer, schleichender Verzweiflung. Ist es das? dachte er. Das Ende? Der Wahnsinn? Werde ich verrückt? Aber irgend etwas sagte ihm, daß er nicht verrückt war. Daß er all dies wirklich erlebte und nicht irgendwo im Sand lag und starb. Daß er wirklich hier stand und die dunkle, gewellte Linie am Horizont sah.

Del drehte sich langsam herum. Seine Bewegungen wirkten hölzern und kaum mehr menschlich, und sein Gesicht war eine Maske starren Entsetzens. »Du ... du siehst es auch, nicht?« flehte er.

Skar nickte mühsam.

Del stand noch sekundenlang reglos da. Dann erwachte er mit einem schrillen Schrei aus seiner Erstarrung und rannte los. Skar folgte ihm einen Sekundenbruchteil später.

Seine Gedanken überschlugen sich, als er mit weit ausgreifenden Schritten hinter Del herhetzte. Was sie sahen, war vollkommen unmöglich! Bei der klaren Luft und der ungehinderten Sicht über der Wüste hätten sie den Wald schon vor Tagen sehen müssen!

Aber er schob den Gedanken von sich und lief schneller, um Del einzuholen. Magie, Hexenkunst oder was immer es sein mochte - alles war besser als der Tod in der hitzeflirrenden Luft und der Glut des Tages. Selbst wenn dieser Wald das Werk eines bösen Zaubers war und den Tod beherbergte, so war er dem langsamen Verdursten in der Wüste vorzuziehen.

Del rannte mit weiten, kräftezehrenden Schritten vor ihm her. Das bleiche Sternenlicht ließ seinen Körper zu einer flachen, schwarzen Silhouette werden, die durch den unförmigen Verband seltsam buckelig und ungelenk wirkte. Der Anblick der Rettung mußte noch einmal alle Kraftreserven in ihm mobilisiert haben.

Wie oft noch? dachte Skar. Wie groß mochte das geheime Reservoir an Kraft noch sein, aus dem Del immer wieder schöpfte, sich immer wieder gegen das Unvermeidliche stemmte? Irgendwo in ihm begann die Stimme wieder zu flüstern, die lockende, drohende, wispernde Stimme, alles, was noch von seinem klaren Verstand übriggeblieben war. Der Wald dort mochte die Rettung bedeuten, aber wahrscheinlicher war, daß er von Feinden wimmelte, Dämonen, Zauberern, Monstern oder - schlimmer noch - Quorrl. Aber er lief trotzdem weiter, schneller als zuvor. Der Gedanke an einen Pfeil, der aus der Dunkelheit heranzischte und seiner Qual ein Ende bereitete, schreckte ihn nicht mehr.

Del stolperte, taumelte noch ein paar Schritte mit wild rudernden Armen weiter und prallte schließlich gegen ein Hindernis, das warnungslos aus der Dunkelheit vor ihm aufgetaucht war. Mit einem dumpfen Schmerzlaut ging er zu Boden. Skar verlangsamte seine Schritte und blieb keuchend neben Del stehen. Der Boden war hier nicht mehr so glatt und eben wie bisher. Es war immer noch Wüste, der gleiche feinkörnige Sand, aber jetzt mit einem Netzwerk dunkler Linien und Striche durchzogen. Skar mußte unwillkürlich an ein halb im Sand verborgenes Spinnennetz denken, eine heimtückische Falle, die dicht vor dem rettenden Wald ausgelegt war, um jeden, der sich mit letzter Kraft hierhergeschleppt hatte, zu fangen und dem Verderben preiszugeben.

Er sah mißtrauisch auf, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß Del nichts Ernsthaftes zugestoßen war, und kniete schließlich nieder. Seine Finger tasteten über den Sand.

Der Boden war mit einem dichten Netzwerk aus abgestorbenen Wurzeln und Ästen durchzogen, das wie ein Labyrinth heimtückischer Fallstricke und Gruben dicht unter der trügerisch glatten Oberfläche verborgen war. Skar sah auf und gewahrte jetzt mehr Einzelheiten. Das Geflecht verdichtete sich vor ihnen, wuchs gleichermaßen in Tiefe wie in Höhe und Breite. Vor ihnen lag etwas, das früher einmal ein Wald gewesen sein mußte: abgestorbene Reste von Bäumen, schwarze, von der unbarmherzigen Wut der Sonne verkohlte Strünke, deren Netz dichter wurde, je weiter es sich dem eigentlichen Waldrand näherte. Es war, als läge hier, vor der lebendigen grünen Mauer des Waldes, der Leichnam eines zweiten Waldes, ein verbranntes, skelettiertes Opfer der unbarmherzig näherrückenden Wüste. Der Anblick hatte etwas Unheimliches und zugleich Ernüchterndes. Obwohl gegen alle Logik, überzeugte er Skar doch endgültig, daß dieser Wald echt und nicht bloß Fata Morgana oder grausames Trugbild seiner überreizten Nerven war. Durch eine Laune der Natur hatte sich dieser Wald gegen die stumme Macht der Wüste behauptet, aber der Kampf hatte Opfer gefordert. Wie die vordersten Reiter einer Verteidigungslinie waren diese Baumreihen gefallen, langsam und vielleicht über Jahrzehnte hinweg, aber unbarmherzig, und hatten mit ihrem Opfer dem Wald Gelegenheit gegeben, sich auf den Ansturm der Wüste vorzubereiten.

Er drehte sich um und half Del beim Aufstehen. Der junge Satai kam schwankend auf die Beine. Eine dünne, hellrot schimmernde Linie hatte die Kruste aus getrocknetem Blut auf seinem Gesicht durchbrochen, aber er schien den Schmerz gar nicht zu spüren. »Weiter«, keuchte er. »Wir müssen ... weiter.«

Skar nickte wortlos. Er ertappte sich dabei, wie seine Hand instinktiv zum Schwertgriff glitt. Ohne einen konkreten Grund dafür nennen zu können, spürte er einfach, daß hier irgend etwas nicht stimmte. Es war nicht nur dieser tote Wald, der ihm Unbehagen und Furcht einflößte. Da war noch etwas anderes, etwas, das mit Worten nicht zu beschreiben, aber von fast greifbarer Intensität war, beinahe, als wäre zwischen ihnen und der dunklen Wand des Waldes noch etwas, eine unbestimmbare, stumme Bedrohung, die schlimmer als der Tod war. Del versetzte dem Wurzelstück, über das er gestolpert war, einen wütenden Fußtritt und ging weiter. Skar folgte ihm. Del ging jetzt merklich langsamer und sah sich immer wieder nach rechts und links um. Seine Hände fingerten nervös am Griff des Tschekal, des zweischneidigen Satai Schwertes, das von seinem Gürtel hing. Er spürte es also auch.

Das Geflecht aus abgestorbenen Bäumen und ineinander verwachsenen Ästen wurde dichter, je weiter sie sich der Baumgrenze näherten. Die anfangs nur einzeln dastehenden, verkohlten Baumstrünke rückten enger zusammen. Die Stämme ragten wie große, skurril geformte Hände rings um sie aus dem Sand; Hände mit dünnen, gierigen, vielfach gegliederten Fingern, die nach ihnen griffen, über ihre Harnische schrammten, ihre Haut zerrissen und sich um ihre Beine zu winden suchten, so daß ihr Marsch mehr und mehr zu einem mühsamen Vorwärtsstolpern wurde. Schließlich sahen sie sich gezwungen, mit den Schwertern eine Gasse durch das wild wuchernde Unterholz zu hauen.

Skar war nicht sonderlich wohl dabei. Das Splittern und Krachen des trockenen Holzes mußte meilenweit zu hören sein. Wenn dieser Wald Bewohner hatte, dann waren diese spätestens jetzt über ihr Kommen informiert. Aber sie hatten beide weder Zeit noch Kraft, umzukehren und nach einem leichteren Weg zu suchen. Er warf Del einen besorgten Blick zu. Der Jüngere hielt sich dicht neben ihm und hieb mit verbissener Wut auf Wurzeln und Äste ein. Seine Klinge fuhr splitternd durch das Holz. Er legte mehr Kraft in seine Hiebe, als nötig gewesen wäre. Mehr, als er sich leisten konnte, dachte Skar besorgt. Dels Muskeln spannten sich bei jedem Schlag, als gelte es, die Rüstung eines schwergepanzerten Gegners zu durchschlagen anstelle ein paar dünner Luftwurzeln.

Aber er sagte nichts. Er verstand Del nur zu gut. Für ihn war der tote Wald in diesem Moment mehr als eine Ansammlung abgestorbener Holzstücke und Wurzeln. Es war ein Feind; ein böses, vieltausendfach gegliedertes Ungeheuer, ein Netz gierig ausgestreckter Fangarme und Krallen, das ihn vor der zum Greifen nahe gerückten Rettung abzuhalten suchte.

Dann, von einem Augenblick zum anderen, waren sie durch. Der letzte Baumstrunk fiel unter einem wütenden Hieb, und vor ihnen lag eine vielleicht fünf Meter breite, sorgsam gerodete Fläche schwarzverbrannten Bodens. Dahinter erhob sich eine mannshohe, ebenmäßig geformte Düne, hinter der der eigentliche Wald begann.

Del rammte sein Schwert in die Scheide zurück und gab ein erleichtertes Seufzen von sich. Er wollte die Düne hinaufstürmen, aber Skar hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück. »Warte!«

Del grunzte etwas Unverständliches. Seine Lippen formten Worte des Protestes, aber die ausgedörrte Kehle und die unförmig angeschwollene Zunge ließen ein unverständliches Gebrabbel daraus werden. Er versuchte sich loszureißen, aber Skar hielt ihn mit eisernem Griff zurück.

»Mach jetzt keinen Fehler«, sagte er warnend. Unwillkürlich senkte er die Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern. Das Gefühl der Gefahr, des Fremden, Bedrohlichen, wurde mit jeder Sekunde stärker. Die Wüste und die Dunkelheit hinter ihnen waren nicht so leer, wie es den Anschein hatte. Skar hatte plötzlich den Eindruck, von unzähligen winzigen, boshaften Augen beobachtet zu werden. Er sah Del durchdringend an und deutete mit der Waffe auf den Kamm der Düne. »Der Wald ist bewohnt«, sagte er bestimmt. »Wir müssen vorsichtig sein. Möglich, daß man uns erwartet. Diese Düne wurde künstlich angelegt.«

Dels Blick folgte widerwillig der mit mathematischer Präzision angelegten Kammlinie. In seinem Gesicht arbeitete es. Er schwankte, machte einen zögernden Schritt und blieb erschöpft stehen. »Wir müssen hinüber«, sagte er leise. »Wir müssen, Skar!«

Skar nickte. »Ja. Und das werden wir auch. Aber vorsichtig. Ich habe keine Lust, so kurz vor dem Ziel noch in eine Falle zu laufen.«

Vorsichtig setzten sie sich in Bewegung. Der Sand und der krumige, zu schwarzer Asche verdorrte Boden schienen überlaut unter ihren Sandalen zu knirschen, als sie den steil ansteigenden Hang erklommen. Nach dem Höllenlärm, den sie vorher gemacht hatten, kam Skar ihre übertriebene Vorsicht schon beinahe albern vor. Irgendwie war es lächerlich, sich zuerst wie eine Herde tollwütiger Wasserbüffel durch das Unterholz zu hauen und dann auf Zehenspitzen zu gehen und möglichst flach zu atmen, um nur ja kein unnötiges Geräusch zu verursachen. Aber ihre über Jahrzehnte hinweg antrainierten Reflexe behielten die Oberhand.

Auf dem Kamm des Hügels blieben sie stehen. Der Wald lag scheinbar in Armeslänge vor ihnen - eine massive, dunkelgrüne Mauer, aus der ein Gemisch leiser Geräusche und das unbeschreibliche Aroma feuchter Erde und frischen Grüns zu ihnen hinaufwehten. Skar hatte nie gewußt, wie süß frische Walderde riechen konnte. Aber er sah auch noch mehr. Zwischen der Baumgrenze und der Düne schlängelte sich ein schmaler, sorgfältig von Unkraut und Wurzelwerk befreiter Fußpfad entlang. Und die diesseitige Steigung der Düne war nicht einfach ein Sandhügel wie die gegenüberliegende, sondern eine künstliche Anlage. Jemand hatte sie mit großer Mühe begradigt und mit einem raffinierten System von Balken und engmaschigen, einander überlappenden Netzen gesichert. Wenn er noch einen Beweis für seinen Verdacht, daß der Wald bewohnt war, benötigt hätte - hier war er.

Del bewegte sich unruhig. Sein Schwert glitt schabend aus der Scheide.

»Verschwinden wir von hier«, sagte er. »Wir bieten eine prachtvolle Zielscheibe.« Skar nickte stumm, duckte sich und sprang mit einem federnden Satz den Hang hinunter. Der weiche Boden dämpfte seinen Aufprall, und die Dunkelheit schien das Geräusch zu verschlukken wie ein Schwamm, der nach langer Trockenheit wieder ein paar Tropfen Wasser aufsaugt. Del folgte ihm wenige Sekunden später etwas langsamer. Seine verwundete Schulter zwang ihm ein mäßigeres Tempo auf. Einen Moment lang blieben sie geduckt nebeneinander stehen, sahen sich aufmerksam um und huschten dann lautlos über den Weg. Der Wald war nicht so dicht, wie es von oben den Anschein gehabt hatte. Die Bäume standen fast auf Manneslänge auseinander, und es gab überraschend wenig Unterholz. Eigentlich, verbesserte sich Skar in Gedanken, gar keines, wenn man von einigen wenigen, für einen natürlichen Bewuchs schon fast zu regelmäßig stehenden Büschen absah. Er ließ sich auf das rechte Knie niedersinken, fuhr mit den Fingerspitzen über den moosbedeckten Boden und stand vorsichtig wieder auf. Der Wald gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht.

Neben ihm ließ sich Del schweratmend gegen einen Baum sinken. Sekundenlang starrte er aus roten, entzündeten Augen vor sich hin, dann verkrallte er die Linke in einen tiefhängenden Ast, riß ein Büschel Blätter ab und stopfte es in den Mund. Er schmatzte genüßlich und verzog das Gesicht, als hätte er niemals etwas Köstlicheres gegessen. Dann hustete er, krümmte sich zusammen und übergab sich würgend.

Skar schüttelte mißbilligend den Kopf. »Du solltest das lassen«, sagte er lakonisch. »Irgendwo hier muß es Wasser geben. Komm.«

Nebeneinander drangen sie in den Wald ein. Hinter ihnen blieben die nächtliche Wüste und ihre Stille zurück, aber dafür schienen sie plötzlich von einer anderen Art des Schweigens umgeben. Der Wald war erfüllt von Geräuschen - das Knacken von Ästen, ein dumpfes Rauschen und Heulen, mit dem sich die mächtigen Baumkronen der Kraft des Windes beugten, die vielfältigen Geräusche der Tiere, die in dieser schattigen Oase lebten - aber im gleichen Maße, in dem sie weiter in den Wald vordrangen, schienen die Laute vor ihnen zu erlöschen, als marschiere mit ihnen ein unsichtbarer Keil des Schweigens, eine dunkle, unsichtbare Schleppe, das Schweigen der Wüste, das sie gleich einem anstekkenden schleichenden Gift in ihre Körper aufgenommen hatten und nun in diesen stillen, friedlichen Wald hineintrugen. Mehr als alles andere machte dieser sonderbare, sicher nur in seiner Einbildung stattfindende Effekt Skar deutlich, daß sie Fremde waren, Eindringlinge, unwillkommene Eindringlinge dazu, die in diesem Wald nichts zu suchen hatten.

Er schüttelte unwillig den Kopf, um die bedrückenden Gedanken zu verscheuchen, und konzentrierte sich ganz auf seine Umgebung. Ihm fiel auf, wie regelmäßig die Bäume wuchsen. Es gab keinen Weg oder Pfad, aber sie kamen trotzdem gut voran. Die Bäume standen in präzisen, schräg gegeneinander versetzten Reihen, die wie die Linien eines tiefgestaffelten natürlichen Zaunes wirkten und zwischen denen genügend Platz zum Durchkommen blieb. Und noch etwas fiel ihm auf. Die Bäume wuchsen nicht nur regelmäßig, sondern sie glichen einander auch auf verblüffende Weise. Die Stämme waren gerade, sauber und makellos. Sie waren gesund, alle. Es gab keine verkrüppelten Äste, keine zerborstenen Wurzeln oder abgestorbenen Zweige, keine Stämme, die Wind und Jahreszeiten erlegen oder vom Blitz gespalten waren. Dieser Wald, das begriff er mit einem Male, war kein Wald, sondern ein Park, sorgfältig gehegt und behütet und von unvorstellbarer Größe.

Del blieb plötzlich stehen. »Wasser«, keuchte er atemlos.

Vor ihnen schimmerte es hell durch die Baumreihen. Skar hörte ein leises Plätschern, dann brachte ein Windstoß den unbeschreiblichen Geruch von Wasser mit sich.

Sie rannten los. Selbst Skar vergaß alle Vorsicht. Nach allem, was hinter ihnen lag, gab es keine Zeit mehr für Mißtrauen oder Angst. Dort vorne war Wasser. Wasser! Dann lag der See vor ihnen - ein flacher, runder Tümpel voller grünem Wasser, das zum Himmel stank und unter dessen Oberfläche es von schleimigem Leben wimmelte. Aber davon sahen weder Skar noch Del etwas. Sie brachen aus dem Wald, schleuderten ihre Waffen im hohen Bogen von sich und warfen sich kopfüber in den Schlamm.

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