20.

»Bleib liegen«, murmelte eine Stimme. »Bleib liegen und bewege dich nicht. Wir sind in Sicherheit.«

Skar versuchte die Hand zu heben, aber die Bewegung wurde von einem so unerträglichen Schmerz begleitet, daß er es vorzog, lieber still liegenzubleiben und zu tun, was die Stimme befahl. Er blinzelte. Zum dritten Mal in kurzer Zeit erwachte er aus tiefer Bewußtlosigkeit, und zum dritten Mal war Coars Gesicht das erste, was er sah.

»Ihr seid in Sicherheit«, sagte sie noch einmal. »Und wir auch. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

Skar wollte auffahren, aber Coar schob ihn mit sanfter Gewalt zurück. Er lag auf einem weichen, angenehm warmen Lager, und irgend etwas kitzelte an seinen Füßen. »Was ...«, murmelte er verwirrt, »ist passiert? Was ist mit Del?«

»Er ist unverletzt. Seine Schulter ist verrenkt, mehr nicht.«

»Und ihr?« Skars Erinnerungen kamen nur langsam und bruchstückweise zurück. »Die ... die Khtaäm!« keuchte er erschrokken. »Was ist geschehen? Ihr ...« Coar hob besänftigend die Hand. Irgendwo hinter ihr loderte ein Feuer, und ihr Haar war vom hellen Widerschein der Flammen eingerahmt wie von einer sanften, halbtransparenten Aura. »Sie sind fort«, sagte sie. »Zwei von uns sind tot. Aber wir wären alle gestorben, wenn du uns nicht rechtzeitig gewarnt hättest.«

Skar setzte sich nun doch auf und schob ihre Hand beiseite. Er lag dicht am Feuer auf einem Lager aus zusammengerollten Mänteln. Seine Arme waren bis zu den Ellbogen hinauf bandagiert, und sein Körper schien nur noch aus blauen Flecken und Prellungen zu bestehen.

»Ihr Satai seid wirklich großartige Krieger«, stellte Coar mit einem spöttischen Lächeln fest. »Aber mir scheint, ihr müßt immer jemanden bei euch haben, der euch hinterher wieder gesundpflegt.«

»Was ist geschehen?« fragte Skar, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.

Coar zuckte die Achseln. »Das weiß ich ebensowenig wie du. Wir sind geflohen, als die Bestien aus dem Tunnel kamen. Sie verschwanden irgendwo in einem Seitengang, glaube ich. Seitdem hat sich da oben nichts mehr gerührt.«

»Wie lange war ich bewußtlos?«

»Nicht lange. Eine Stunde vielleicht. Bernec wollte hinaufsteigen und oben im Tunnel nach dem Rechten sehen, aber Del war dagegen. Er fürchtet wohl, daß noch mehr dieser Ungeheuer dort oben lauern.« Sie setzte sich auf, schüttelte mit einer unbewußten Bewegung eine Haarsträhne aus der Stirn und sah über die Schulter zum Feuer zurück. »Wir werden hier warten, bis du dich erholt hast. Es ist sowieso Zeit zum Rasten. Draußen muß bald wieder Tag sein. Du solltest versuchen, ein wenig zu schlafen.«

»Schlafen?« echote Skar. »Jetzt?«

»Wir haben Wachen aufgestellt«, antwortete Coar. »Und das Feuer wird die Bestien abhalten, falls sie zurückkommen sollten.«

»Wie habt ihr es gemacht?«

»Das Feuer?« Coar deutete mit einer Kopfbewegung auf das schwarzglänzende Gewebe über ihren Köpfen. »Das Zeug brennt sehr gut. Es läßt sich schwer abtrennen, aber es brennt besser als Reisig. Wir wissen zwar immer noch nicht, was es ist, aber es scheint ganz nützlich zu sein. Kannst du dir erklären, woher die K6ataäm plötzlich kamen? Ich habe noch nie eine so große Menge von ihnen versammelt gesehen«, fragte sie, plötzlich das Thema wechselnd.

Skar zögerte einen Moment. Er schüttelte den Kopf, nickte, schüttelte noch einmal den Kopf und grinste verlegen, als er Coars erstaunten Blick bemerkte. »Erklären nicht«, murmelte er undeutlich. »Aber ich habe eine Vermutung, schon seit wir ihre Spuren in der Wüste gefunden haben.«

»Und welche?«

»Erinnerst du dich, was du mir über die Hoger erzählt hast, als wir üns das erste Mal getroffen haben?« fragte Skar anstelle einer direkten Antwort. »Ich habe dich gefragt, warum ihr sie verbrennt, und du hast geantwortet, daß tote Hoger sich verwandeln.«

»Das stimmt«, nickte Coar verblüfft. »Sie werden zu ...«

»Ich weiß«, fuhr Skar leise fort. »Aber damals habe ich gedacht, es sei irgendein Aberglaube.« Er lachte leise und hart. »Aber es ist wirklich so, nicht? Die Hoger werden wirklich zu Khtaäm, wenn sie sterben.«

»Natürlich. Sie ... diese Bestien müssen irgendwie in ihren Körpern sein.«

»Ihre Jungen«, nickte Skar. »Sie pflanzen sich auf diese Weise fort. Sie legen keine Eier oder gebären lebendige Junge, sondern Khtaäm. Ich ahnte es im gleichen Moment, in dem ich die Ungeheuer auf dem Weg hierher sah. Das heißt«, fügte er leiser hinzu, »eigentlich schon früher.«

Coar verzog nachdenklich die Lippen. »Wie meinst du das?«

Skar zuckte mit den Achseln. »Ich weiß, daß es sich verrückt anhört«, sagte er widerwillig, »aber ich kenne diese Höhlen, Coar. Ich war noch niemals hier, aber ich erinnere mich daran. Ich kenne sie, seit ich im Wald von einem der Ungeheuer angefallen wurde. Ich glaube, ihr wißt gar nicht, wie zutreffend der Name ist, den ihr ihnen gegeben habt. Ich wurde von einem Khtaäm gebissen, und die Erinnerungen, die in meinem Gedächtnis sind, sind seine Erinnerungen, Coar. Sie töten ihre Opfer nicht mit Gift, sondern fressen ihr Bewußtsein. Seelen-Vampire, wenn du so willst. Für einen Moment war mein Bewußtsein mit dem des Khtaäm verschmolzen, und wenn Thoranda mir nicht geholfen hätte, hätte das Ungeheuer meinen Geist aufgesaugt wie die Wüste einen Wassertropfen. Was ich in diesem Moment gesehen habe, war die Erinnerung an seinen Geburtsort, den Platz, an dem es erschaffen wurde und zu dem es wieder zurückkehren wollte.«

»Natürlich«, fuhr er nach einer kurzen, erschöpften Pause fort, »ist das nur eine Theorie. Ich kann mich täuschen. Vielleicht ist es in Wirklichkeit ganz, ganz anders. Aber ich glaube, daß sie hierher zurückkommen, um sich fortzupflanzen. Vielleicht spinnen sie sich wie Raupen ein, um als Hoger wieder aufzuwachen. Vielleicht spielt auch dieses schwarze Zeug eine Rolle. Ich bin sicher, wir würden ihr Geheimnis lüften, wenn wir die Zeit hätten, länger hierzubleiben und sie zu beobachten.«

»Wenn du recht hast«, murmelte Coar nach einer Weile, »dann können wir sie besiegen, Skar. Wir können sie töten, wenn sie den Wald verlassen und durch die Wüste ziehen.«

»Sie sind immer noch gefährlich«, wandte Skar ein. »Wir haben bereits einen Mann verloren, vergiß das nicht.«

»Aus Unwissenheit«, entgegnete Coar. »Hätten wir geahnt, was sich unter dem Sand verbirgt, wäre es nicht dazu gekommen. Wirklich gefährlich sind sie nur dort, wo sie sich verbergen und aus dem Hinterhalt angreifen können, wie im Wald. In der offenen Wüste können wir sie ohne großes Risiko töten. Wenn deine Vermutung stimmt«, schloß sie, »dann war Cornec das letzte Kind, das von einem Hoger gerissen wurde.«

»Aber dazu müssen wir erst einmal hier herauskommen«, sagte eine Stimme hinter ihr. Skar sah auf und erkannte Bernec, der lautlos herangetreten war und einen Teil ihrer Unterhaltung mit angehört hatte. Er lächelte flüchtig, ließ sich neben Coar auf den Boden sinken und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich war mit Behren ein Stück weit in der Höhle«, erklärte er. »Aber es sieht nicht gut aus. Ich fürchte, die Gänge führen alle in die gleiche Richtung. Nach unten.«

»Wenn es nicht anders geht«, sagte Coar, »müssen wir es riskieren. Wenn wir flußaufwärts gehen, müssen wir früher oder später nach Cearn zurückkommen. Es muß eine Verbindung zur Oberfläche geben.«

Bernec lächelte traurig. »Sicher. Aber bis wir sie gefunden haben, sind wir längst verhungert oder den Hogern zum Opfer gefallen. Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl, als es noch einmal dort oben zu versuchen.« Er senkte den Kopf, starrte niedergeschlagen zu Boden und spielte mit den nackten Zehen im losen Erdreich. »Wir werden schlafen und es anschließend noch einmal versuchen. Wenn Seshars Männer wirklich dort oben auf uns gewartet haben, sind sie jetzt entweder den Khtaäm zum Opfer gefallen oder geflohen und halten uns für tot.« Er sah auf, lächelte flüchtig und betrachtete Skar mit einem seltsamen, abschätzenden Blick. »Ohne dich wären wir es auch«, sagte er.

Skar winkte ab. »Vielleicht«, sagte er. »Aber vielleicht wärt ihr ohne mich auch nie in diese Situation geraten. Wir können uns später gegenseitig beglückwünschen oder Vorwürfe machen. Im Moment müssen wir hier heraus, das ist alles.« Er ließ sich auf die Ellbogen zurücksinken und seufzte hörbar. »Ich habe schon fast vergessen, wie Tageslicht aussieht«, murmelte er.

Bernec lachte leise und stand umständlich auf. »Ruh dich aus«, sagte er. »Ich lasse dich wecken, wenn wir aufbrechen. Versuch jetzt zu schlafen. Wir werden morgen unsere Kräfte brauchen.« Er nickte noch einmal, fuhr dann auf dem Absatz herum und ging mit schnellen Schritten zum Feuer zurück. Seine Gestalt verschmolz mit den dunklen Schatten der anderen.

Skar starrte ihm lange und nachdenklich hinterher. Schließlich richtete er sich wieder auf, hob die Hand und berührte Coar scheu am Arm. »Weiß er ...?« begann er leise.

»Er weiß, wie es zwischen uns steht«, flüsterte Coar. Sie ergriff seine Hand, führte sie an ihre Lippen und küßte sie. »Er weiß es, und es macht ihm nichts aus.« Plötzlich war ihm ihre Berührung unangenehm. Er zog die Finger zurück und gab ein leises, unglückliches Geräusch von sich. Obwohl er sich Mühe gab, gelang es ihm nicht, ihrem Blick standzuhalten.

»Es ist nicht so, wie du denkst«, erklärte Coar geduldig. »Er duldet es nicht nur, weil er weiß, daß du früher oder später wieder gehen wirst, oder weil er Angst vor dir hätte. Bernec und ich, wir ... wir haben uns einmal geliebt, und wir sind immer noch gute Freunde, aber das ist alles. Du brauchst nicht zu glauben, daß er dir etwas schenkt.« Sie rückte ein Stück näher und umschlang ihn behutsam mit den Armen, wobei sie sich Mühe gab, nicht an die bandagierten und aufgeschürften Stellen an seinem Körper zu stoßen.

Ein warmes, verlockendes Gefühl stieg in Skar empor. Er versuchte, sich dagegen zu wehren, aber es ging nicht. Trotz des Aberwitzes der Situation, in der sie sich befanden, trotz Bernecs Nähe und der Beinahe-Gewißheit des Todes erregte ihn Coar, vielleicht stärker als jemals zuvor. Vielleicht gerade, weil es so war. Ihre Hände glitten an seinen Schultern empor, tasteten über sein Gesicht und fuhren in einer unendlich zarten Bewegung über seine Lippen.

»Nicht«, flüsterte er. »Nicht ... hier.«

Er stemmte sich hoch, raffte sein provisorisches Lager zusammen und kroch ein Stück weit in die Dunkelheit hinein.

In dieser Nacht liebten sie sich dreimal, wild und mit intensiver, beinahe wütender Kraft.

Und sie wußten beide, daß es das letzte Mal war. Aber es machte nichts. Es war gut so.

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