14.

Er träumte, und er wußte es. Aber im Gegensatz zu all den anderen Alpträumen, die er bisher erlebt hatte, wachte er nicht auf, als ihm die Tatsache klarwurde, daß das, was er erlebte, nicht die Realität war. Er war wieder in der Wüste, aber es war nicht die Nonakesh, sondern eine gigantische schwarze Ebene aus schwarzem Glas, flach wie ein Brett und poliert, so daß sich sein Körper wie ein verzerrter Schatten in ihrer Oberfläche spiegelte. Trotzdem wußte er, daß es Wüste war, ebenso zweifelsfrei, wie er wußte, daß er träumte. Ein kalter Wind strich aus unbestimmbarer Richtung über die spiegelnde Ebene und ließ ihn frösteln. Er hatte Angst, aber sie kam nicht zum Durchbruch, sondern brodelte irgendwo unter der Oberfläche seiner Gedanken, als würde sie noch geduldig warten, wie ein unsichtbares, gefährliches Raubtier, das genau wußte, wann seine Chance gekommen war.

Er hatte auf dem Rückengelegen, als er erwacht war. Eigentlich hätte er als erstes den Himmel sehen müssen, aber es gab keinen, fast als befände er sich in einergewaltigen Höhle, deren Decke zu hoch war, als daß er sie sehen oder auch nur ahnen konnte. Jetzt stand er auf, drehte sich einmal um seine Achse und ging mit langsamen Schritten los. Die Richtung spielte keine Rolle, weil es keine Richtung gab. Erging, aber er wußte nicht, ob er sich wirklich von der Stelle bewegte. In seiner Umgebung war nichts, woran er sich orientieren könnte. Die Ebene war glatt und flach und verlor sich in der Unendlichkeit. Es gab keinen Horizont, so wie es keine Richtung und keine echte Bewegung gab. Vielleicht würde er Tage um Tage laufen können, ohne wirklich von der Stelle zu kommen. Bewegung war Illusion, wenn es keinen Ort gab, zu dem man gehen konnte.

Als ihm dieser Gedanke kam, blieb er stehen. Wieder kam Wind auf und ließ ihn frösteln; Wind, gefolgt von einergroßen, schwarzen Leere, einer Leere ganz anderer Art, als er sie bisher gekannt hatte. Bisher war ihm Leere immer als Abwesenheit von Menschen oder Licht oder Geräuschen, als das Nichtvorhandensein bestimmter, vielleicht aller Dinge begegnet. Diese Leere war anders: stofflich und existent. Ein großes, unsichtbares und schweigendes Ding, das dort, wo es war, alles andere verdrängte.

Er stöhnte. Das Geräusch verhallte nicht wie gewohnt, sondern brach sich irgendwo in der Unendlichkeit, kam, vielfach verzerrt und gebrochen, zurück, hüllte ihn in einen Mantel aus hallenden, kichernden, geckernden Echos und wuchs zu einem ohrenbetäubenden, qualvollen Dröhnen an, ehe es, langsam, unendlich langsam, verklang.

Lange Zeit saß er reglos da, schweigend und beinahe ängstlich darum bemüht, auch nicht das geringste Geräusch zu verursachen. Dann stand er auf, sah sich hilflos um und ging weiter. Vielleicht ging er auch nicht, sondern bewegte nur die Beine, und die Ebene glitt unter ihm weg. Es blieb sich gleich. Irgendwann tauchte etwas vor(?) ihm auf, das ernichtgenau erkennen konnte. Eine Wand, vielleicht, ein Irgend etwas, eines jener namenlosen Dinge, die immer wieder in Alpträumen auftauchten und sich jedem Versuch, sie in Worte oder auch nur Gedanken zu kleiden, entzogen. Es war groß und finster und drohend, das erkannte er, mehr aber auch nicht. Er blieb stehen, bewegte sich aber weiter darauf zu. In ihm regte sich etwas. Die Angst klopfte mit dürren, knochigen Fingern an seine Seele. Er begann zu schwitzen, trotz der Kälte und des unsichtbaren Eisklumpens, der in seinem Inneren heranwuchs.

Er mußte aufwachen.

Aufwachen!

In der schwarzen Wand vor ihm entstand Bewegung. Ein Tunnel. Etwas wie ein riesiger, gierig aufgerissener Schlund, spiralig verengt in der Tiefe, mit einem hellen, trüb schimmernden Fleck an seinem hinteren Ende. Er versuchte schneller zu gehen, aber er schien keinen Einfluß auf das zu haben, was um ihn herum - oder mit ihm - geschah. Langsam wuchs die Öffnung heran, erweiterte sich von einem Gang zu einem Stollen, Tunnel, bis er durch eine gewaltige, auf unmögliche Weise in sich gekrümmte Halle schritt.

Ich muß erwachen! dachte er verzweifelt. ERWACHEN!!

Aber es ging nicht. Je mehr er kämpfte, desto enger schienen sich die Fesseln des Traumes um seinen Geist zu schließen.

Der helle Fleck am Ende des Tunnels war ein wenig größer geworden, nicht viel, aber doch genug, um ihm Hoffnung zu machen. Der Boden unter seinen Füßen zuckte und bebte, als wäre er ein lebendes Wesen. Er konnte aufwachen, wenn er dorthin gelangte. Er wußte es. Er konnte diesem schrecklichen Traum entfliehen. Er mußte nur jenen hellen Fleck erreichen.

»Skar!«

Die Stimme war nur ein leises, kaum wahrnehmbares Flüstern, das im Geräusch des Windes und dem dumpfen Hämmern seines eigenen Herzens beinahe unterging.

Ich muß erwachen! dachte Skar.

ICH MUSS!

Der helle Fleck kam näher, doch mit jedem Schritt, den er in seine Richtung tat, schien der Boden stärker zu zucken und zu beben. Ein mühsames Pulsieren schien durch die Wände zu laufen. Für einen Moment setzte sich die irrsinnige Vorstellung, sich im Schlund eines phantastischen Monsters zu befinden, in seinen Gedanken fest, dann hatte er sich wieder in der Gewalt.

»Skar!«

Wieder die Stimme, näher diesmal und deutlicher moduliert, so daß er den Unterton von Furcht darin erkennen konnte. Nicht Furcht um den Besitzer der Stimme, sondern um ihn.

Der Boden und die Wände zuckten jetzt stärker, zogen sich zusammen, pulsierten, führten mühsame, schluckende Bewegungen aus, eine optische Welle, die irgendwo hinter ihm begann und auf den hellen Fleck zulief. »Lauf, Skar! Lauf zurück! Geh nicht dorthin!«

Aber fast, als wären diese Worte irgendein Signal gewesen, beschleunigte sich sein Vorankommen. Die Wände des Tunnels glitten rascher an ihm vorüber, und schon bald wurde dergraue Fleck größer.

»Nein, Skar! Zurück! Komm zurück!!«

Ein Schatten schob sich zwischen ihn und den hellen Fleck, ein treibender Nebelschleier, formlos und tanzend, auf- und abwogend, als wäre er von einer inneren Kraft, einer unsichtbaren Spannung erfüllt. Etwas wie eine Hand wollte sich bilden, zerfaserte und formte sich neu, verwehte wieder. Und plötzlich wußte Skar, daß dort vorne nicht das Leben, sondern der Tod wartete - nein, nicht der Tod, sondern etwas Schlimmeres, etwas viel Schlimmeres. Etwas, das sich seinem Vorstellungsvermögen so vollkommen entzog, wie sich dem Bewußtsein eines Blinden Farben verschließen mußten. Er versuchte stehenzubleiben, aber es ging nicht. Seine Beine bewegten sich ohne sein Zutun, als wäre er eine Puppe, an deren Fäden ein unsichtbarer, gnadenloser Spieler zog. Er schrie, aber wie in einer grausamen Umkehrung seines ersten Erlebnisses wurde der Laut von seinen Lippen gerissen und ins Nirgendwo gesogen. »Wehre dich, Skar! Kämpfe! Du darfst nicht dorthin gehen! Kämpfe! Ich helfe dir!«

Der Nebelschleier begann sich zu verdichten, wurde zu einem länglichen grauen Umriß. Ein menschlicher Körper schien sich bilden zu wollen, schmal, gebeugt, in ein knöchellanges graues Gewandgehüllt. Aber da war noch eine andere Kraft, etwas, das - ohne daß er hätte sagen können, wieso - mit jener schrecklichen präsenten Leere auf der schwarzen Ebene verwandt schien und ihn mit unbändiger Gewalt weiterzerrte. Er sah, wie sich die Gestalt zusammenkrümmte, wie unter einem fürchterlichen Hieb taumelte. Für einen Augenblick erkannte er ihr Gesicht, aber der Name entfiel ihm sofort wieder. »Lauf, Skar! LAUF!!!«

Er spürte, wie der Sog für Momente nachließ. Die Gestalt vor ihm taumelte. Ihr Gesicht verzerrte sich, und Skar begriff plötzlich, daß er einem phantastischen Kampf zusah, einer Auseinandersetzung zweier ebenso unverständlicher wie gewaltiger Kräfte. Ein dumpfer, hallender Laut vibrierte durch den Gang, der Ton eines gewaltigen höllischen Gongs, Gesang aus den Kehlen hunderter schwarzer Mönche, die unter ihren Kapuzen ein Totenlied anstimmten, der Wutschrei eines gigantischen schwarzen Gottes, heraufgetragen aus den tiefsten Schlünden der Hölle.

»LAUF! SKAR! FLIEHE!!!«

Und Skar wandte sich um, drehte dem flackernden grauen Nichts am Ende des Stollens und der verkrümmten, stummen grauen Gestalt den Rücken zu und lief, lief, lief, lief...

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