Während der nächsten Tage lernte er den Wald von Cearn und seine Bewohner besser kennen als jemals ein Land zuvor. Coar und er verbrachten jede Minute des Tages miteinander. Seit jenem ersten Morgen lebte er bei ihr, ohne daß es eines weiteren Wortes der Erklärung bedurft hätte, und so, wie sie beide ihr neugewonnenes Verhältnis wie selbstverständlich hinnahmen, schienen es auch die anderen Bewohner Wents zu akzeptieren, ohne jemals in seiner Gegenwart auch nur ein Wort darüber zu verlieren.
Auch Dels Genesung machte rasche Fortschritte. Die Narbe an seiner Schulter verheilte zusehends, und seine Haut nahm allmählich wieder eine gesunde, kräftige Farbe an, wenn er auch noch immer hager und ausgemergelt wirkte. Trotzdem beharrte Thoranda darauf, ihn in seinem künstlichen Schlaf zu belassen, und Skar wagte es nicht, ihr offen zu widersprechen. Auf ihre stille, sanftmütige Art besaß die Heilerin eine Autorität, gegen die nicht einmal er sich aufzulehnen wagte, und so beließ er es dabei, Del mehrmals täglich zu besuchen und sich nach seinem Zustand zu erkundigen - so lange, bis Thoranda seine ständigen Fragen auf die Nerven gingen und sie ihn kurzerhand hinauswarf.
Aber die Wirklichkeit holte ihn rasch ein; schneller, als ihm lieb war. Am dritten Morgen nach der Beerdigung weckte ihn ein Trompetensignal, ein heller, nicht einmal sonderlich lauter Ton, der aber so durchdringend war, daß er erschrocken von seinem Lager hochfuhr und neben sich griff, an die Stelle, wo er normalerweise seine Waffen aufbewahrte.
Coar hob verschlafen den Kopf. »Was ist los?« murrte sie. Sie blinzelte, richtete sich unsicher in eine halb liegende, halb sitzende Stellung auf und gähnte ungeniert. Skars unsanfte Berührung hatte sie geweckt, aber sie schien für einen Moment Schwierigkeiten zu haben, in die Wirklichkeit zurückzufinden.
Skar wollte antworten, aber in diesem Moment wiederholte sich das Trompetensignal, und jenseits der dünnen Wände wurden hastige Schritte laut. »Was bedeutet das?« fragte er.
Statt einer Antwort schlug Coar die dünne Decke zurück, stand auf und schlüpfte hastig in ihr Kleid. »Zieh dich an«, sagte sie. »Rasch.«
Skar drehte verwundert den Kopf. Vor den schmalen Fenstern lastete noch graue Dämmerung, aber den Geräuschen nach zu schließen mußte Went bereits erwacht sein. »Was ist los?« fragte er noch einmal. »Werden wir angegriffen?«
Coar zog den Gürtel um die Taille zusammen, band ihr Haar im Nacken zu einem Knoten und schöpfte sich hastig ein paar Hände voll Wasser ins Gesicht. »Das Signal«, sagte sie prustend. »Hast du es nicht gehört?«
»Doch«, erwiderte Skar. »Vor dir, wenn ich dich erinnern darf. Aber ich hätte auch ganz gerne gewußt, was es bedeutet.«
»Reiter«, erklärte Coar, während sie sich ungeduldig nach seinen Kleidern bückte und ihm Lendenschurz, Wams und Sandalen vor die Füße warf. »Reiter aus Ipcearn. Die Boten der Könige. Du solltest dich besser beeilen.«
Skar runzelte verwundert die Stirn und bequemte sich endlich dazu, aufzustehen und zur Waschschüssel hinüberzuschlurfen. Das eisige Wasser vertrieb den dumpfen Druck hinter seiner Stirn ein wenig. Er wusch sich gründlich, fuhr sich anschließend in Ermangelung eines Kammes mit den gespreizten Fingern durch das Haar und zog sich dann unter Coars ungeduldigen Blicken an.
Sie verließen das Haus und schlossen sich der Menge an, die ungeduldig dem westlichen Tor entgegenströmte. Halb Went schien sich bereits vor der Dornenbarriere versammelt zu haben, und die Handvoll Soldaten, die das Tor abschirmten, hatten alle Mühe, die aufgeregte Menge zurückzudrängen und eine Gasse freizuhalten. Coar rief etwas, aber ihre Worte gingen im Lärm der Menge unter. Schließlich versetzte sie dem Mann vor sich einen derben Rippenstoß und drängte sich mit purer Gewalt durch die dichtgedrängt stehenden Menschen. Logar und ein knappes Dutzend Berittener erwarteten sie ungeduldig, als sie sich endlich zum Tor durchgeschubst und gedrängelt hatten. »Endlich«, sagte er mit einer ungeduldigen Geste auf zwei zusätzliche reiterlose Pferde deutend, die - aufgescheucht und nervös gemacht durch die lärmende Menschenmenge ringsum - an ihrem Zaumzeug zerrten und von einem schwitzenden Soldaten nur mehr mit Mühe gehalten werden konnten. »Sitzt auf. Sie müssen gleich hier sein.«
Skar wollte eine Frage stellen, aber Logar hatte sich bereits umgewandt und brüllte Befehle. Er zuckte die Achseln, griff nach dem Zaumzeug und schwang sich in den Sattel. Das Tier schnaubte erregt, aber er brachte es mit sanftem Schenkeldruck und ein paar leisen, gemurmelten Worten zur Ruhe.
Wieder erscholl das Trompetensignal, und als Skar im Sattel herumfuhr, erkannte er jenseits des Tores eine Gruppe von vielleicht drei Dutzend Berittenen, die in scharfem Tempo näher kam. Selbst auf die große Entfernung glaubte er zu erkennen, daß Menschen und Tiere erschöpft und am Ende ihrer Kräfte waren. »Sie scheinen es verdammt eilig zu haben«, murmelte Coar neben ihm.
»Was soll dieser Auftritt eigentlich?« fragte Skar halblaut.
Logar warf ihm einen warnenden Blick zu, und Coar legte den Finger über die Lippen. »Nicht«, flüsterte sie. »Sag jetzt nichts. Ich hätte dich vorbereitet, aber sie sind eher gekommen, als ich geglaubt habe. Ich dachte, es wäre noch genügend Zeit.«
Skar zuckte resignierend mit den Schultern und konzentrierte sich wieder auf die näherkommenden Reiter. Die Kolonne zog sich auseinander, als sie sich dem Tor näherte. Die Reiter preschten mit unvermindertem Tempo durch die schmale Öffnung in der Dornenhecke, jagten durch den Verteidigungsgürtel und galoppierten weiter. Ein letzter Trompetenstoß erklang, und für einen kurzen Moment schien die Erde zu beben, als die Männer ihre Tiere unnötig hart und brutal zum Stehen brachten. Staub wallte hoch, und nicht nur ein Tier stieg, vor Schmerz und Unmut kreischend, auf die Hinterläufe, als die Trense in sein Maul biß.
Skar runzelte mißbilligend die Stirn. Die Szene mochte auf die Cearner beeindruckend wirken, aber für ihn war sie nicht mehr als eine überflüssige und zudem dumme Machtdemonstration, die ihn höchstens wütend machte. Er schluckte die spitze Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, hinunter und beließ es statt dessen bei einem abfälligen Lächeln.
Logar straffte sich. Seine schmalen Hände umklammerten die Zügel so stark, daß die Knöchel weiß hervortraten, und sein Gesicht schien von einem Augenblick auf den anderen zu Stein zu Vierstarren. Er ritt langsam vor und hob die Hand zum Gruß.
»Was soll das Ganze eigentlich?« wiederholte Skar seine Frage. »Ist irgend etwas passiert?«
»Nein«, antwortete Coar im Flüsterton. »Sie kommen wegen dir.«
»Meinetwegen?« entfuhr es Skar so laut, daß ein paar der Reiter unwillig zu ihm herübersahen. Er fuhr zusammen, musterte die verstaubte Kolonne mit neu erwachtem Interesse und fragte noch einmal, wenn auch wesentlich leiser: »Sie sind meinetwegen hier?«
Coar nickte. Sie schien es aufgegeben zu haben, ihn zur Ruhe ermahnen zu wollen. »Wegen dir und Del«, wiederholte sie. »Ich sagte dir doch, daß die Könige daran interessiert sind, euch ken;nenzulernen. Schweig jetzt. Sie kommen.«
Logar hatte mittlerweile sein Pferd herumgedrängt und kam im Schrittempo zu ihnen zurück. In seiner Begleitung befanden sich zwei der neu angekommenen Reiter. Sie unterschieden sich in Kleidung und Aussehen kaum von den Bewohnern Wents - braune, bis über die Waden reichende Hosen, offene Sandalen und lose fallende Hemden, die über der Taille mit dünnen schwarzen Gürteln geschnürt waren, dazu zerbrechlich wirkende Lederhelme, die eher der Zierde als dem Schutz zu dienen schienen. Ihre Bewaffnung bestand aus schmalen, leicht gekrümmten Säbeln, die ohne Hülle im Gürtel steckten. Skar konnte nichts Königliches an ihnen entdecken; im Gegenteil. Das einzige, was ihre Haltung auszudrücken schien, war Hochmut.
Trotzdem neigte er den Kopf, als Logar mit seinen beiden Begleitern dicht vor ihm stehenblieb.
»Das sind Mergell und Chaime, die Herolde Ipcearns«, erklärte er mit einer entsprechenden Geste. »Mergell, Chaime - Skar.«
Skar lächelte unverbindlich und kühler, als notwendig gewesen wäre. Logar warf ihm einen fast flehenden Blick zu. Er schien genau zu spüren, was hinter Skars Stirn vorging.
»Du bist also dieser Skar«, sagte Mergell nachdenklich. Sein Blick tastete mit schon fast unverschämter Neugierde über Skars Gestalt. Was er sah, schien seinen Erwartungen nicht zu entsprechen, und er gab sich keine Mühe, seine Gefühle zu verbergen. »Ich hatte mir dich größer vorgestellt«, sagte er.
Skar hob beiläufig die Schultern. »Wenn du einen Riesen erwartet hast, muß ich dich enttäuschen, Mergell.«
Logar begann nervös an der Mähne seines Pferdes zu zupfen. »Ich ... muß für Skar um Vergebung bitten«, sagte er hastig. »Er kennt unsere Umgangsformen noch nicht, und ...«
Mergell brachte ihn mit einer beiläufigen Geste zum Verstummen. »Schon gut, Logar«, sagte er. »Ich bin nicht gekommen, um mich über Fragen der Etikette zu unterhalten.« Er lächelte, aber auf eine Art, die Skars vorgefaßte Meinung über ihn noch bestärkte. »Wo ist der andere?«
Logar wollte antworten, aber diesmal war Skar schneller. »Wenn du mit dem anderen meinen Kameraden meinst«, sagte er spitz, »muß ich dich abermals enttäuschen, Mergell. Del ist noch ohne Bewußtsein. Ich hielt es nicht für notwendig, ihn zu wekken.«
Logar erbleichte. Er schluckte mühsam, schloß die Augen und wirkte plötzlich wie ein Mann, der sich am liebsten in irgendeiner finsteren Ecke verkrochen hätte. Aber Mergell schien auch diese Bemerkung nicht übelzunehmen. Er seufzte, tauschte einen raschen Blick mit seinem Begleiter und schüttelte den Kopf. »Ich sehe, man hat mich nicht umsonst vor dir gewarnt«, sagte er.
Skar lächelte herausfordernd. »Hat man das?«
Mergell nickte. »Man sagte mir, ich würde einen Barbaren vorfinden«, antwortete er ernsthaft. »Ich habe es nicht geglaubt, aber ich fürchte, ich muß mich eines Besseren belehren lassen. Bist du immer so freundlich deinen Rettern gegenüber?« Skar grinste noch breiter. »Normalerweise nicht«, sagte er. »Doch da, wo ich herkomme, gibt es ein Sprichwort, Mergell: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es hinaus. Kennst du es?«
Mergell lächelte. »Nein. Aber ich verstehe es trotzdem. Doch ich bin nicht gekommen, um mich mit dir zu streiten und Sprichworte auszutauschen, Skar. Ich kam, euch die Grüße unserer Könige auszurichten. Auch in lpcearn ist bekanntgeworden, was du unserer Garde getan hast, und die Könige von Cearn verwehn keinem, der sein Leben für ihre Untertanen riskiert, ihre Dankbarkeit. Ich soll dir ihre Grüße ausrichten und dich wissen lassen, daß ganz Cearn tief in deiner Schuld steht.« Er neigte spärich das Haupt, senkte den Blick und tätschelte versonnen den Hals seines Tieres.
Skar sah, daß die Flanken des Tieres zitterten und seine Haut an zahlreichen blutigen Kratzern bedeckt war. »Ihr habt einen scharfen Ritt hinter euch«, sagte er. Mergell sah auf. »Das stimmt. Du bist ein aufmerksamer Beobchter, Skar. Wir wurden angegriffen, auf halbem Wege zwischen Hier und Ipcearn.«
»Angegriffen!« keuchte Logar erschrocken.
»Hoger?« Mergell nickte. »Ein einzelnes Tier, aber es griff uns aus dem Hinterhalt an, bevor wir die Gefahr bemerkten. Ein paar meiner Männer wurden verletzt. Aber nicht ernsthaft.«
»Unsere Heilerin wird sich darum kümmern«, sagte Logar hastig.
Mergell winkte ab. »Das ist nicht notwendig, Logar. Es ist nur in Kratzer. Gebt den Männern und ihren Tieren Verpflegung und ein Lager, wo sie bis morgen ausruhen können, das reicht.«
»Selbstverständlich.« Logar wandte sich hastig um und rief ein paar halblaute Befehle.
»Selbstverständlich sind wir nicht nur gekommen, um Freundlichkeiten auszutauschen«, wandte sich Mergell wieder an Skar. »Dazu wäre der Weg von Ipcearn hier heraus zu weit und zu gefährlich. Ich habe mit dir und deinem Kameraden zu reden, Skar.«
»Del ist noch ohne Bewußtsein«, warf Coar ein.
»Nach so langer Zeit? Sie sind fast eine Woche hier.«
»Thoranda besteht darauf«, sagte Logar. »Ihr kennt sie doch - sie läßt einen Kranken so lange schlafen wie möglich, um ihm Schmerzen und Entbehrungen zu ersparen.«
Mergell lächelte flüchtig. »Ah ja, die alte Thoranda«, murmelte er. »Aber vielleicht reicht es auch, wenn ich mit Skar rede. Doch nicht hier. Wir sind die ganze Nacht geritten, und ich fühle mich müde. Außerdem bin ich durstig. Ist Euer Wein noch so gut, wie er war, Logar?«
»Sicher, Mergell. Es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr mich in mein Haus begleiten und meine Gastfreundschaft beanspruchen würdet.«
»Brich dir keine Verzierungen ab, Logar«, sagte Mergell ruhig.
Logar schluckte, nickte dann übertrieben hastig und zwängte sein Pferd zwischen den ihren durch, um zu seinem Haus zurückzureiten. Mergell, Chaime, Skar und Coar folgten ihm, während die übrigen Reiter - mit Ausnahme Bernecs, der sich ihnen nach kurzem Zögern ebenfalls anschloß - beim Tor zurückblieben. Sie ritten in scharfem Tempo zu Logars einfacher Residenz und betraten das Haus ohne weitere Formalitäten. Mergell schien den Weg bestens zu kennen. Er scheuchte den Posten an der Tür mit einer ärgerlichen Handbewegung beiseite, stürmte durch den Vorraum und den Gang und ließ sich ohne ein weiteres Wort hinter Logars steinernen Tisch sinken. Diener brachten zusätzliche Stühle und Krüge mit Wein.
Mergell griff nach einem Becher und leerte ihn mit einem Zug. »Es ist nicht übertrieben, was man von Eurem Wein behauptet«, sagte er zufrieden. »Es ist der beste in ganz Cearn. Ich werde ein Faß davon mitnehmen, um es den Königen als Geschenk zu überbringen - wenn Ihr gestattet.«
Logar beeilte sich zu versichern, daß es ihm eine Ehre wäre, den Herren Ipcearns ein Geschenk zu übergeben, aber Mergell schien seine Worte schon gar nicht mehr zu beachten. Er leerte einen weiteren Becher, wartete geduldig, bis die Diener nach und nach den Raum verlassen hatten, und beugte sich dann vor. Der Ausdruck auf seinem Gesicht änderte sich schlagartig.
»Satai Skar«, begann er nachdenklich. »Ich kann mir denken, daß du ein wenig verwirrt bist, deshalb komme ich ohne Umschweife zur Sache. Kannst du für deinen Kameraden sprechen?«
Skar zuckte die Achseln. »Del entscheidet selbst, was er tut«, sagte er. »Ich kann nicht über ihn bestimmen, wenn du das meinst. Aber ich denke, ich weiß, wie er handeln würde. Meistens«, schränkte er ein.
Mergell lächelte flüchtig und fuhr dann fort, ohne auf Skars Worte einzugehen. »Die Könige schicken mich mit einer Botschaft zu dir und deinem Freund Del, doch die Kunde ist nicht für jedermanns Ohren bestimmt. Deshalb bat ich dich hierher. Der Ruhm eurer Taten ist bis nach Ipcearn vorgedrungen, und ...«
»Mergell«, unterbrach ihn Skar, »bevor du weiterredest, gestatte mir eine Bemerkung.«
»Bitte.«
»Seit ich hierherkam«, sagte Skar, vorsichtig und jedes Wort genau überlegend, »ist etwas geschehen, was mir unangenehm ist, und ich möchte es erklären. Du - und nicht nur du, sondern alle Bewohner Wents, und, wie ich fürchte, selbst Ipcearns - scheinst etwas in uns zu sehen, das wir nicht sind. Ich bin nicht der große Held, den ihr in mir seht, sondern ein Mensch wie du. Ich habe ein paar von diesen Bestien getötet, aber das hätte jeder in meiner Lage getan.«
Mergell lächelte. »Deine Bescheidenheit ehrt dich, Skar«, sagte er kühl, aber auch mit einer Spur von Ungeduld, als ärgere er sich darüber, daß Skar es gewagt hatte, seine Rede zu unterbrechen. »Doch sie ist unbegründet. Wir wissen mehr von euch, als ihr glaubt. Wir kennen die Satai und ihren Ruf.«
»Ihr kennt die Satai? Woher?«
Mergells Gesicht nahm wieder den gewohnten überheblichen Ausdruck an. »Du hast mich gebeten, dich nicht zu überschätzen«, sagte er. »Aber nun begehe du nicht den Fehler, uns zu unterschätzen. Cearn mag weitab vom Geschehen in der Welt liegen, doch selbst die Nonakesh ist nicht undurchdringlich, und von Zeit zu Zeit erreichen uns Nachrichten. Wanderer wie du fanden schon früher den Weg zu uns, und in Ipcearn ist man begierig, alles zu erfahren, was in der Welt vor sich geht. Wir hörten von den Satai, schon vor langer Zeit, wenn ich auch zugeben muß, daß wir die Geschichten, die man über sie erzählt, für übertrieben hielten. Doch jetzt, da ich einem leibhaften Satai gegenübersitze, glaube ich fast, daß wir uns getäuscht haben. Ihr scheint wirklich so große Krieger zu sein, wie man behauptet.«
»Vorhin war ich dir noch zu klein«, sagte Skar spitz. Aber trotzdem mußte er zugeben, daß ihm Mergells Worte schmeichelten. »Aber du bist doch nicht nur gekommen, um mir ein Kompliment zu machen, oder?« fuhr er fort.
»Natürlich nicht. Die Könige übersenden dir ihren Dank und lassen dich bitten, mich zu ihnen zu begleiten und für eine Weile ihr Gast zu sein.«
»Das ... wird nicht gehen«, antwortete Skar überrascht. »Jedenfalls nicht im Moment. Del ist noch lange nicht kräftig genug für einen solchen Ritt.«
»Es reicht vollkommen, wenn du uns begleitest«, sagte Mergell. »Vorerst zumindest. Dein Freund mag sich entscheiden, wenn er genesen ist und Wents Gastfreundschaft kennengelernt hat, so wie du.«
»Entscheiden?« Skar wurde plötzlich hellhörig. Mergells Worte waren nicht so belanglos, wie es den Anschein hatte. »Worüber entscheiden?«
Mergell wirkte überrascht. Er sah erst Logar, dann Coar an, runzelte mißbilligend die Stirn und verschränkte die Hände auf der Tischplatte. »Hat man dir nichts gesagt?« fragte er.
»Wir ... dachten, es wäre noch Zeit«, sagte Coar hastig. »Wir haben nicht so rasch mit Euch gerechnet.«
Mergell seufzte. »Es geht um dein weiteres Leben hier, Skar«, . sagte er. »Ich will nicht drumherumreden. Wir brauchen Männer wie dich. Wie dich und deinen Freund, Skar.«
»Barbaren?« fragte Skar mit mildem Lächeln.
»Männer, die uns lehren, mit Waffen umzugehen und jeder Bedrohung Herr zu werden«, fuhr Mergell unbeeindruckt fort. »Die Könige lassen dir folgendes ausrichten: Du kannst in Cearn bleiben, wenn du willst. Dir wird der Posten eines Kommandanten der Königlichen Leibgarde angeboten, und du kannst in lpcearn leben. Natürlich nur, wenn es dein Wunsch ist. Du kannst auch in Went bleiben.« Er brach ab, sah Coar, die neben Skar Platz genommen hatte, einen Herzschlag lang an und lächelte dann dünn und berechnend. »Wenn du es befiehlst, wird Coar dich begleiten. Als persönlicher Adjutant.«
Skar sog scharf die Luft ein, aber Mergell sprach weiter, ehe Skar Gelegenheit zu einer Entgegnung hatte. »Ich erwarte natürlich jetzt noch keine Entscheidung von dir«, sagte er. »Du hast Zeit, darüber nachzudenken, bis wir in Ipcearn sind. Vielleicht ist es sogar besser, wenn du jetzt nichts sagst. Begleite uns und sprich mit den Königen, bevor du dich endgültig entscheidest.«
»Wenn die Antwort auf deine Frage«, sagte Skar, wie Mergell das vertrauliche Du auf eine provozierende Weise benutzend, »der einzige Sinn meines Besuches in Ipcearn ist, so kann ich mir den Ritt sparen. Ich habe nicht vor, hierzubleiben. Ich werde warten, bis Del sich erholt hat. Dann gehen wir.«
»Bist du sicher?« fragte Mergell. »Du kennst die Wüste. Du bist ihr einmal entronnen, aber du solltest das Schicksal nicht unnötig herausfordern. Die Nonakesh ist launisch. Sie hat dich einmal am Leben gelassen, doch das nächstemal wird sie dich töten.«
»Vielleicht«, sagte Skar mit erzwungener Ruhe. »Doch wir können nicht bleiben. Bei dem, was man euch über die Satai erzählt hat, scheint man etwas Wesentliches vergessen zu haben. Satai verkaufen sich nicht. Für keinen Preis.«
»Niemand spricht von verkaufen«, sagte Mergell.
»Es ist uns sogar strengstens untersagt, das Wissen weiterzugeben, das den Satai eigen ist«, fuhr Skar unerschütterlich fort. »Und selbst wenn wir es wollten, wäre es unmöglich. Es dauert ein Menschenleben, ein Satai zu werden. Mehr Zeit, als wir haben.«
»Niemand verlangt, daß ihr eure Geheimnisse preisgebt«, erklärte Mergell geduldig. »Aber du hast unser Volk kennengelernt. Wir sind keine Kämpfer wie ihr. Mit einem Mann wie dir an der Spitze ...«
Skar schüttelte entschieden den Kopf. »Es ist sinnlos, Mergell. Du verschwendest deine Zeit. Wir würden Jahre brauchen, um auch nur eine Handvoll eurer Leute auszubilden. Und auch dann wäre es nur Stückwerk. Euer Krieg, Mergell, ist nicht der unsere. Ich weiß nicht, gegen wen ihr kämpfen wollt, aber es ist euer Kampf. Ihr werdet ihn allein bestehen müssen.«
Mergells Miene schien zu Eis zu gefrieren. »Ich werde deine Worte nicht zur Kenntnis nehmen, Skar«, sagte er steif. »Wir brechen morgen bei Sonnenaufgang auf. Du hast einen Tag und eine Nacht Zeit, dich zu entscheiden.«
»Die brauche ich nicht«, sagte Skar verärgert. Er stand auf, nickte Mergell und seinem Begleiter kühl zu und verließ mit raschen Schritten den Raum. Er wirkte noch immer ruhig und gelassen, aber unter dieser Maske brodelte es. Er hatte den Raum verlassen müssen, um nicht aufzuspringen und Mergell zu ohrfeigen. Er stürmte aus dem Haus, warf die Tür hinter sich zu und stapfte ein paar Meter in den Wald hinein, ehe er stehenblieb und wütend die Fäuste ballte. Nach allem, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, versetzte ihn Mergells Benehmen mehr in Rage, als er selbst zugeben wollte.
Das Geräusch leiser Schritte ließ ihn aufblicken. Es war Coar. Sie hatte das Gebäude hinter ihm verlassen und blieb nun unschlüssig stehen. Ein besorgter Zug lag um ihre Mundwinkel.
»Was ... was ist mit dir los?« fragte sie stockend. »So wie gerade kenne ich dich gar nicht.«
Skar lachte humorlos. »Dafür kenne ich Menschen wie Mergell leider viel zu gut, solche Typen sind mir ein paarmal zu oft begegnet«, gab er zurück. »Sind alle Bewohner Ipcearns so wie er?«
Coar schüttelte den Kopf, trat einen Schritt auf ihn zu und griff nach seiner Hand. Skar zog trotzig den Arm zurück.
»Nicht alle«, sagte sie. »Aber du mußt ihn verstehen. Er ist ein sehr mächtiger Mann und kommt gleich nach dem König.« Selbst jetzt schien noch so etwas wie Ehrfurcht in ihrer Stimme mitzuschwingen, und Skar mußte sich beherrschen, um nicht abfällig zu lachen.
»Er scheint es zu wissen«, sagte er säuerlich.
»Aber er hat dir nur die Wünsche der Könige ausgerichtet«, meinte Coar. »Ipcearn ist nicht Went. Die Könige tragen die Verantwortung für unser ganzes Volk. Du kannst ihnen nicht verübeln, wenn sie alles unternehmen, was ihm nutzt.«
»Das tue ich auch nicht«, gab Skar schärfer, als nötig gewesen wäre, zurück. »Aber Mergell hat mir nicht die Wünsche eurer Könige ausgerichtet. Er hat mir eine Rechnung präsentiert. Auf eine schmutzige und unfaire Art.«
»Das hat er nicht.«
»Doch, das hat er«, schnappte Skar wütend. »Oder hast du nicht begriffen, was er damit gemeint hat, daß du mich begleiten kannst. Wie er gesagt hat, daß wir eure Gastfreundschaft genossen haben? Verdammt, Coar - er hat alles, was euer Volk für Del und mich getan hat, in den Schmutz getreten. Mit ein paar Sätzen hat er eure Freundschaft zu reiner Berechnung und dich zu einer billigen Kurtisane gemacht. Und da erwartest du, daß ich höflich bleibe?!!« Coar sog erschrocken die Luft ein. »Du ... du glaubst, was du da sagst, nicht?« flüsterte sie.
»Ich glaube es nicht, ich weiß es«, sagte Skar ruhig. »Ich weiß nicht, ob er auf Geheiß der Könige so handelt, oder ob er sich vielleicht gar nichts dabei denkt. Aber er ist kein so großer Diplomat, wie er sich einbildet, wenn er wirklich glaubt, mich auf diese Weise kaufen zu können.«
»Vergib ihm, Skar«, bat Coar. »Ich bin sicher, er hat seine Worte nicht so gemeint. Er... er hat sich ein falsches Bild von dir gemacht. Aber du hilfst nicht, es zu korrigieren, wenn du so reagierst.«
»Er hält mich für einen Barbaren«, knurrte Skar. »Vielleicht sollte ich ihm zeigen, wie ein Barbar auf eine Beleidigung wie diese reagiert.«
»Du solltest ihn nach Ipcearn begleiten und mit den Königen Freden«, sagte Coar leise. »Niemand hier mag Mergell, aber er ist kein schlechter Mann. Er hat nur das Wohl unseres Volkes im Auge, genau wie ...«
»Genau wie jeder hier«, unterbrach sie Skar. »Seit ich hierhertgekommen bin, habe ich diesen Satz ein paarmal zu oft gehört, Coar. Jedermann hat nur das Wohl des Volkes im Auge! Habt ihr eigentlich auch so etwas wie ein Leben? Für euch, meine ich? Ich ... ich muß allmählich an einen Ameisenstaat denken, wenn ich euch sehe. Cearn mag ein Paradies sein, aber ihr erkauft dieses Paradies mit Selbstaufgabe.«
»Aber das stimmt doch nicht!«
Skar schwieg einen Moment. »Vielleicht nicht«, sagte er leiser. »Vielleicht mußtet ihr so werden, um zu überleben. Ich weiß es nicht. Aber das ist es gerade, was ich versucht habe, Mergell zu sagen, Coar. Del und ich können nicht hierbleiben, selbst wenn wir es wollten.« Er stockte, nahm Coar sanft in die Arme und preßte sie an sich. »Es geht nicht«, fuhr er im Flüsterton fort. »Was gerade geschehen ist, beweist mir, daß ich recht habe. Ihr und wir, das sind Vertreter zweier verschiedener Welten, Coar. Ich habe Mergell belogen, als ich behauptet habe, euch nicht ausbilden zu können. Ich könnte in wenigen Jahren ein Volk von Kriegern aus euch machen, aber der Preis, den ihr dafür zahlen müßtet, wäre es nicht wert. Ich kann aus einem Cearner keinen Satai machen, ohne daß er sich verändert. Wir sind mehr als zwei Menschen, die zufällig an zwei verschiedenen Orten geboren sind, Coar. Ich habe dir von Enwor erzählt, und nicht ein Wort von dem, was ich sagte, war unwahr. Die Welt ist hart, hart und voller Gewalt und Brutalität und Unmenschlichkeit. Ihr würdet ebenso werden, würde ich Mergells Wünschen folgen. Die Männer, die ich ausbilden würde, wären keine Cearner mehr, hinterher. Eure Kultur würde zugrunde gehen.«
»Ich glaube es dir nicht«, sagte Coar. »Unmenschlich ... brutal ... bist du es denn?«
Skar zögerte einen winzigen Moment. Er wußte, daß er Coar weh tun würde, wenn er weitersprach, daß er das Bild, das sie sich von seiner Welt - von ihm - gemacht hatte, zerstören würde, aber er wußte auch, daß ihm keine Wahl blieb. Nicht jetzt, nicht in diesem Augenblick. Es war noch nicht einmal so sehr die Wut auf Mergell. Natürlich war er verärgert, aber Coars Reaktion zeigte nur zu deutlich, wie falsch das Bild war, das sie von ihm hatte.
»Ja«, sagte er schließlich. »Den Mann, den du bisher kennengelernt hast, den gibt es nicht, Coar. Es hat ihn nie gegeben, und wenn doch, dann nur für wenige Tage.« Coar verzog die Lippen zu einem trotzigen Lächeln. »Das sagst du nur, um -«
»Du hast mich kämpfen sehen, Coar«, fiel ihr Skar grob ins Wort. »Und du warst beeindruckt davon. Was du nicht gesehen hast, das war die Einstellung, die man braucht, um so zu kämpfen. Ich habe mehr Menschen getötet, als Went Einwohner hat, Coar. Ich habe gemordet und gebrandschatzt, und ich habe Heere kommandiert, die größer waren als euer ganzes Volk. Ich habe lernen müssen, Männer in den sicheren Tod zu schicken und einen Feind zu vernichten, bevor er wirklich zum Feind werden kann. Ich habe mehr Macht gehabt, als sich Männer wie Mergell überhaupt vorstellen können. Ich habe lernen müssen, Frauen und Kinder zu töten und wehrlose Dörfer in Brand zu setzen. Willst du, daß ich euch das zeige? Willst du wirklich, daß eure Männer so werden? Willst du das?« Coar antwortete nicht, aber Skar sah deutlich, wie betroffen sie zwar. Sie sah ihn an, öffnete den Mund, brachte aber nur einen kläglichen, halbwegs wimmernden Ton hervor. Ihre Lippen zuck:ten. Aber Skar wußte, daß sie ihm immer noch nicht glaubte. Obwohl es ihn beinahe mehr schmerzte als sie, mußte er das Messer in der Wunde auch noch herumdrehen. Er ergriff Coars Arm, zog sie grob zu sich heran und drückte zu. Sie wand sich unter seinem Griff, aber er ließ nicht los, sondern drückte im Gegenteil noch fester zu.
»Du tust mir weh!« keuchte sie.
Skar lachte rauh. »Wirklich? Vielleicht macht es mir Freude, jemandem weh zu tun.«
»Skar, bitte! Du ... du ...«
»Schweig!« zischte Skar.
»Du wolltest doch, daß eure Männer so werden wie wir, oder? Oder möchtest du nur einen Helden auf Abruf, eine Kampfmaschine, die sich in einen Märchenprinzen verwandelt, wenn der Feind geschlagen ist?« Er lachte erneut, ergriff mit der anderen Hand Coars Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Den Märchenprinzen, den du dir wünschst, Coar, den gibt es nicht! Es wird ihn nie geben, verstehst du das endlich?«
Coar wand sich verzweifelt unter seinem Griff, aber gegen seine überlegene Kraft kam sie nicht an. Er schüttelte sie wie ein Spielzeug und stieß sie schließlich grob von sich, so daß sie gegen einen Baum taumelte. »Sieh mich an!« schrie er. Er machte einen Schritt auf sie zu, hob die Hände in die Höhe und vertrat ihr blitzschnell den Weg, als sie davoneilen wollte. »Sieh dir diese Hände an! Sie sind zum Arbeiten und Streicheln gedacht, aber Del und ich, wir benutzen sie zum Töten! Ich kann einen Menschen mit bloßen Händen in Stücke reißen, und ich tue es, wenn es sein muß, Coar! Und du willst, daß ich mithelfe, euch ebenso werden zu lassen? Willst du das wirklich?!«
Coar begann leise zu weinen.