5.

Das Gefühl einer weichen, warmen Berührung war auf seiner Stirn; die Berührung zarter Finger, sanft und stark, besorgt und fordernd zugleich. Er erinnerte sich, das Bewußtsein verloren zu haben, aber er wußte nicht, wie lange er so reglos dagelegen hatte - vielleicht nur Augenblicke, vielleicht auch Stunden. Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Er lag einfach da, genoß das zarte Streicheln auf seiner Haut und die wohlige, anschmiegsame Wärme des Grasbettes. Es war lange her, daß er das letzte Mal so dagelegen hatte, viel zu lange, daß sein Körper das bekommen hatte, was er außer Wärme und Schlaf noch brauchte. Zu lange, daß er einem Menschen andere Gefühle als Mißtrauen, Haß oder allerhöchstens geschäftsmäßige Höflichkeit entgegengebracht hatte. Daß er in den Armen einer Frau erwacht war, deren Körper er nicht mit Gold oder seinem Ruf als Satai gekauft hatte.

Aber das Wohlbefinden hielt nicht lange an. Irgendwo an seiner rechten Seite machte sich ein kleiner, häßlicher Schmerz bemerkbar, ein bohrendes Stechen zuerst, mehr ärgerlich und störend als wirklich schmerzhaft, das sich von Pulsschlag zu Pulsschlag steigerte und schließlich zu einem hämmernden Brennen wurde, das ihn aufstöhnen ließ.

Er öffnete die Augen, blinzelte verwirrt und versuchte zu lächeln, als er Coars Gesicht über sich erkannte. Er hatte gehofft, daß es ihre Hände waren, die ihn berührten.

»Skaham tarnt argo«, sagte sie. »Menerath kenerai?«

Skar runzelte die Stirn und deutete ein Achselzucken an. Er verstand die Worte nicht, aber ihr Klang gefiel ihm. Aus dem Munde der jungen Amazone klangen sie seltsamweich und melodisch, weniger wie die Worte einer Sprache als vielmehr Reime eines fremdartigen Gesanges, der gleicherweise schwermütig wie froh stimmte.

»Verzeih«, sagte sie, nun wieder in Tekanda. »Ich habe dich gefragt, wie du dich fühlst.«

Skar stemmte sich ächzend auf die Ellbogen. Coar versuchte, ihn mit sanfter Gewalt zurückzudrängen, aber Skar schob ihre Hand beiseite und schüttelte den Kopf. »Es geht schon wieder«, murmelte er. »Was ist geschehen?«

»Du hast uns gerettet.«

»Ich?« Skar lächelte flüchtig. »Sicher nicht.«

»Ohne dich hätten die Hoger gesiegt.«

Skar blickte die junge Kommandantin unsicher an. Seltsamerweise ließen Coars Worte ein Gefühl der Verlegenheit in ihm aufsteigen - eine Art der Empfindung, die er eigentlich gar nicht kannte. Er war sich seiner Kraft immer bewußt gewesen, und er war es gewohnt, ohne falsche Zurückhaltung darüber zu reden. Coars Worte erweckten in ihm fast so etwas wie Beschämung. Vielleicht lag es daran, daß er sich nicht an alle Einzelheiten des Kampfes erinnern konnte. Er wußte, daß er sein Schwert hochgerissen und sich der Übermacht der schwarzen Bestien entgegengeworfen hatte, aber alles, was danach geschehen war, schien hinter einem Vorhang aus Schreien und Schmerzen und blitzendem Metall verborgen zu sein. »Ich habe ein paar von den Biestern erledigt«, sagte er ausweichend, »aber die meisten sind wohl deinen Männern zum Opfer gefallen.«

Coar schüttelte entschieden den Kopf. »Du hast ihnen Mut gemacht, Skar. Du hast ihnen gezeigt, daß man einen Hoger besiegen kann. Ohne dein Eingreifen wären wir verloren gewesen. Zumindest«, schränkte sie ein, als sie den verlegenen Ausdruck auf seinen Zügen sah, »hätte der Kampf wesentlich mehr Opfer gefordert.«

Etwas an der Stimme, in der sie sprach, irritierte Skar. Ihre Stimme klang anders als zuvor. Skar versuchte, den Unterschied genauer herauszuhören, aber es gelang ihm nicht. Betonung und Wortwahl waren unverändert, und doch war da ein Unterschied. Bisher hatte Coar mit einem Gefangenen geredet. Jetzt sprach sie mit einem Gleichgestellten.

Er setzte sich vollends auf, tastete geistesabwesend nach seinen zerschundenen Ellbogen und sah Coar in die Augen. Einen Moment lang hielt sie seinem Blick stand, dann senkte sie den Kopf und sah verlegen zu Boden.

Skar fiel plötzlich auf, wie attraktiv die Gardeführerin war. Vielleicht lag es an der Beleuchtung, vielleicht an der Taubheit, die noch immer nicht ganz aus seinem Kopf verschwunden war - jedenfalls hatte er plötzlich das Gefühl, die junge Frau zum ersten Mal zu sehen. Dabei war sie keine Schönheit, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Sie entsprach keinem der Schönheitsideale Enwors, und auch er selbst bevorzugte normalerweise einen anderen Frauentyp. Ihre Haut war für seinen Geschmack zu dunkel und grobporig, und die Augen für das schmal geschnittene Gesicht eine Spur zu groß. Es waren Augen, die - mandelförmig, dunkel und leicht schräggestellt - denen der flachgesichtigen gelben Frauen aus dem Osten glichen. Dazu eine schmale Nase und dünne, wie mit einem Federkiel gezogene Augenbrauen, die um mehrere Nuancen heller als das Haupthaar waren und im schwachen Schein der Sterne beinahe weiß schimmerten. Nein - Coar war nicht schön; nicht einmal hübsch. Aber sie besaß etwas anderes - eine natürliche Eleganz, eine Art, sich zu geben, zu reden oder wie jetzt einfach nur stumm dazusitzen und mit unbewegtem Gesicht zu Boden zu starren, die all die kleinen Mängel, mit denen die Natur sie ausgestattet hatte, mehr als nur ausglich. Er sah, wie Coar sich unter seinem forschenden Blick zunehmend unbehaglicher zu fühlen begann, und sah - nun seinerseits verlegen - weg. Plötzlich kam ihm ihrer beider Verhalten albern, ja beinahe kindisch vor. Ihre Rollen waren genau verteilt - sie die selbstbewußte, starke Führerin einer schlagkräftigen Reitertruppe, er und Del nichts als zwei hilflose Gefangene, die einem mehr als ungewissen Schicksal entgegenblickten, Eindringlinge, die, wenn überhaupt, dann höchstens Gnade und ein wohlwollendes Anhören ihrer Geschichte erwarten durften. Und doch unterhielten sie sich jetzt wie zwei Gleichgestellte; Fremde, die voneinander nichts als ihre Namen wußten und sich behutsam an den anderen heranzutasten versuchten. Irgend etwas war mit Coar geschehen, aber Skar konnte sich nicht erklären, was es war. Der Wechsel in ihrem Verhalten konnte nicht allein in seinem Eingreifen in den Kampf gegen die Hoger begründet sein. Schließlich hatte sein Leben genauso auf dem Spiel gestanden wie das der Gardisten. Aber nicht nur mit Coar, das erkannte er plötzlich, war eine Veränderung vor sich gegangen. Auch in ihm schien sich in der kurzen Zeit etwas gewandelt zu haben. Und je intensiver er sich bemühte, gegen diese plötzliche Unordnung in seiner Gefühlswelt anzukämpfen, desto stärker schien sie zu werden. Coars Nähe bewirkte etwas in ihm, das ihn erschreckte. Ein vollkommen neues Gefühl der Unsicherheit.

Er räusperte sich verlegen, erhob sich auf ein Knie und griff dankbar nach Coars Hand. Sie wich seinem Blick aus, aber er ging nicht weiter darauf ein. Wie so viele Fragen, die in den letzten Stunden auf ihn eingestürmt waren, würde er auch sie später klären müssen. Aber er nahm sich fest vor, es wirklich zu tun. Er konnte es sich nicht leisten, sich nicht über seine Gefühle im klaren zu sein.

Auf der Lichtung hatte sich eine rege Betriebsamkeit erhoben. Die Soldaten hatten ihre Pferde am Waldrand angebunden. Zwei der kleinen, in schimmerndes Gold gehüllten Gestalten lagen reglos ausgestreckt neben den Tieren im Gras. Die anderen waren eifrig damit beschäftigt, die monströsen Vogelkadaver in die Mitte der Lichtung zu schleifen und auf einen Haufen zu schichten.

»Warum tun sie das?« fragte Skar.

Coar zögerte. Ihre Gestalt straffte sich, und auf ihren Zügen erschien für Sekunden ein Ausdruck, der irgendwo zwischen Angst und Ekel lag; fast als hätte Skar eine obszöne und schmutzige Frage gestellt. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.

»Damit sie nicht wiederkommen«, antwortete sie. »Wir ... verbrennen sie.«

»Wiederkommen?« fragte Skar verwundert. »Ich verstehe nicht, was du meinst.« Coar lächelte traurig und suchte für ein paar Augenblicke sichtlich nach Worten. »Sie sind ... Khtaäm«, stieß sie schließlich hervor. »Ich weiß das Wort in deiner Sprache nicht. Rückgänger? Nein ... Wiedergänger.«

Skar nickte verblüfft. »Du meinst... diese Bestien sind nicht ... nicht tot?« fragte er stockend.

Coar biß sich auf die Lippen. »Erschlagene Hoger werden zu Khtaäm«, wiederholte sie. »Zu Nachtmahren. Sie sterben nicht. Nicht so wie wir, wie du und ich. Ein Mensch, der von ihnen gerissen wird, erwacht, aber ein Hoger, der im Kampf getötet wird, wird zum Nachtmahr, wenn man seinen Körper nicht vollkommen vernichtet. Deshalb müssen wir sie verbrennen.«

Aber Skar ließ nicht locker. Der Gedanke, daß ein einmal getötetes Lebewesen - gleich welcher Art - Wiederaufstehen und zu neuem Leben erwachen sollte, erschreckte ihn zutiefst. Natürlich gab es Legenden und Mythen über Wiedergänger und lebende Tote bei fast jedem Volk, das er kannte, aber irgendwie paßte ein solcher Aberglaube nicht zu dem Bild, das er sich bisher von Coar und ihrem Volk gemacht hatte.

»Du meinst, ihre Seelen geistern herum und verbreiten Angst und Schrecken?« fragte er unsicher.

»Nicht ihre Seelen. Gibt es dort, wo ihr herkommt, keine Hoger?«

Für einen winzigen Augenblick dachte Skar an die gigantischen schwarzen Daktylen, auf denen die Bewohner der Nordlande ritten. Aber diese gezähmten Flugsaurier hatten kaum eine Ähnlichkeit mit den geflügelten Todesboten, gegen die er gekämpft hatte. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Weder Hoger noch Nachtmahre oder sonstige Alpträume. Erzähl mir davon. Wie sehen sie aus, diese Nachtmahre?« Er wußte nicht, ob Coar das Wortspiel verstanden hatte, aber der besorgte Ausdruck auf ihrem Gesicht blieb.

»Später vielleicht.« Der Ton, in dem sie die beiden Worte aussprach, machte deutlich, daß sie nicht gewillt war, weiter darüber zu reden. Und Skar respektierte diesen Wunsch. Es war niemals ratsam, sich in Sitten und Gebräuche einer Kultur einzumischen, von der man nichts wußte.

»Wurden viele deiner Leute verletzt?« fragte er, um das Thema zu wechseln. »Fast alle. Aber keiner sehr schwer. Keiner bis auf ...« Sie stockte, sah die beiden reglosen Gestalten neben den Pferden an und ballte die Fäuste. »Alle bis auf Maiall und Senja«, stieß sie hervor. »Sie sind erwacht.« Sie warf den Kopf in den Nacken, preßte für einen winzigen Moment die Lider aufeinander und hatte sich dann wieder vollkommen in der Gewalt. Skar bewunderte im stillen die Disziplin dieser jungen Frau. In ihrem Inneren mußte ein wahrer Vulkan toben. »Keiner von den anderen ist so schlimm verletzt wie dein Freund Del. Sein Name war doch Del?« Skar drehte sich unwillkürlich um, um nach dem Jungen zu sehen.

Coar deutete seinen Blick richtig. »Larynn kümmert sich um ihn«, sagte sie. »Sie ist keine Heilerin, aber sie hat geschickte Hände. Sie versorgt meine Mädchen oft, wenn eine verletzt ist. Wir haben ihn in den Wald gebracht. Dort drüben, zwischen den Bäumen.«

Skar blickte in die angegebene Richtung. Die Soldaten hatten Del - genau wie ihn - von der eigentlichen Lichtung heruntergeschafft und im Schutz der ersten Bäume niedergelegt. Eine schmale, in zerbeultes Gold gekleidete Gestalt beugte sich über ihn und machte sich mit vorsichtigen Bewegungen an seiner Schulter zu schaffen. Skar folgte der Kommandantin zum Waldrand hinüber. Del lag lang ausgestreckt im weichen Moos zwischen den Bäumen, halb mit einer grobgemusterten Pferdedecke zugedeckt und ein Büschel Gras als Kissen unter dem Kopf. Sein nackter Oberkörper glänzte vor Schweiß und geronnenem Blut. Die Wunde war erneut aufgebrochen und sah schlimmer aus denn je.

»Nun?«

Larynn erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung, als Coar das Wort an sie richtete.

»Wie geht es ihm?« Sie sprach - wohl aus Rücksicht auf Skar - noch immer Tekanda, das er verstand.

Zwischen Larynns Brauen entstand eine steile Falte. Sie war jünger als Coar; achtzehn, vielleicht - allerhöchstens - zwanzig, schätzte Skar. Ihr Gesicht war hübsch, aber ihr fehlte der energische Zug, der Coar auszeichnete. Ein Mädchen, das sich in Männerkleider gepreßt hatte. Keine Kriegerin.

»Es sieht ... nicht gut aus«, antwortete sie schwerfällig. Ihre Lippen hatten sichtlich Mühe, die ungewohnten Worte der fremden Sprache zu formen. Aber sie beherrschte sie trotzdem erstaunlich gut. »Er muß zu einer Heilerin, oder er wird bald erwachen.« Sie wies mit einer Kopfbewegung auf die bloßgelegte, rissige Wunde, die sich wie ein pulsierendes lebendes Geschwür über Dels Schulter und einen Teil der Brust ausgebreitet hatte, und stieß dann angeekelt mit dem Fuß gegen den schmutzerstarrten Fetzen, der ihnen als Verband hatte dienen müssen. »Er hat Wundbrand, und das schon ziemlich lange, fürchte ich. Wann ist es passiert?«

Skar antwortete nicht sofort. Fünf endlos lange Tage waren sie durch die Nonakesh geirrt, aber das schien bereits Ewigkeiten zurückzuliegen. Sein Zeitgefühl war irgendwo auf dem Weg zwischen dieser Lichtung und dem Waldrand verlorengegangen.

»Vor fünf Tagen«, antwortete er schließlich.

Larynn nickte. »Das habe ich befürchtet. Eigentlich dürfte er schon gar nicht mehr leben. Das Wundgift ist in seine Adern geraten und zerfrißt seinen Körper. Und diese dreckigen Lappen haben alles noch viel schlimmer gemacht.«

»Es war alles, was wir hatten«, gab Skar gereizt zurück. »Ich hätte die Quorrl ja um frischen Verbandsstoff bitten können, als sie auf uns eindroschen.«

Larynn lächelte sanft. »Verzeih, Skar. Es war nicht als Angriff gemeint, nur als Erklärung. Aber wir müssen deinen Freund schnellstens nach Went bringen. Unsere Heilerin wird ihn retten.«

»Seinen ... Arm auch?« fragte Skar hastig.

Larynn antwortete nicht.

»Warum«, fragte Coar leise, »hat er nicht gesagt, wie schwer er verwundet ist?« Skar zuckte die Achseln. Einen Moment lang war er versucht, sie daran zu erinnern, wie unbarmherzig sie sie durch den Wald getrieben hatte, aber ein einziger Blick in ihre Augen sagte ihm, daß das nicht nötig war. Schon ihre Frage war eine unausgesprochene Bitte um Vergebung.

»Vermutlich hat er es selbst nicht gewußt«, sagte er ausweichend. »Oder es nicht wahrhaben wollen. Del ist sehr stolz. Mehr, als gut für ihn ist, manchmal. Er ist noch sehr jung.«

Coar schüttelte den Kopf. »Del ist ein seltsamer Mann. Ihr beide seid seltsame Männer, Skar. Was seid ihr?«

»Satai!«

Coar überlegte einen Moment. »Und was«, sagte sie dann, »sind Satai?«

»Wir sind Krieger. Söldner, wenn du so willst. Aber wir stehen in niemandes Sold.« Coar runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht.«

»Ich verstehe es manchmal selbst nicht. Nimm uns als wandernde Abenteurer, wenigstens vorerst. Später erkläre ich es dir genauer, wenn du dich wirklich dafür interessierst.«

Coar gab sich vorerst mit dieser Erklärung zufrieden, wenngleich Skars Worte ihre Verwirrung wohl eher noch gesteigert hatten, und wandte sich wieder an Larynn. »Versorge ihn, so gut du kannst«, sagte sie. »Und laß eine Trage für ihn bauen. Den Ritt auf einem Pferderücken bis Went würde er nicht überleben.«

Larynn nickte gehorsam, schenkte Skar noch einen undeutbaren Blick und beugte sich dann wieder zu dem Bewußtlosen hinab, um weiter an seiner Wunde zu hantieren.

Coar atmete hörbar ein und wandte sich ab. Sie legte den Kopf in den Nacken und suchte einen Moment lang aufmerksam den Himmel über der Lichtung ab. Dann ging sie steifbeinig zu den Kriegerfinnen hinüber, die die Vogelkadaver mittlerweile auf einen großen Haufen in der Mitte der Lichtung geschafft hatten. Skar folgte ihr. Coars Verhalten verwirrte ihn mit jedem Moment mehr. Sie benahm sich ihm gegenüber jetzt ganz und gar nicht mehr so, wie man es von ihrer Rolle als Siegerin erwarten konnte. Natürlich hatte er sich ein gewisses Recht auf Dankbarkeit erwirkt, doch das, was er jetzt erlebte, ging über jede Logik. Coar blieb stehen und bedeutete ihm mit einer stummen Geste, sich dem Scheiterhaufen nicht weiter zu nähern. Die Kriegerfinnen waren gerade dabei, den letzten toten Hoger auf den Kadaverhaufen zu zerren. Trotz ihrer gewaltigen Größe schienen die Ungeheuer nicht so schwer zu sein, wie ihr monströses Äußeres vermuten ließ. Wären sie es gewesen, hätten sie wahrscheinlich selbst mit ihren gigantischen Schwingen nicht fliegen können. Andere Kriegerfinnen waren damit beschäftigt, Äste, Wurzeln und trockenes Reisig vom Wald herüberzuschaffen und im Kreis um die Kadaver herum aufzuschichten. Ihre Bewegungen waren schnell und fahrig, als täten sie alles in großer Hast, und mehr als einmal hob eine der gepanzerten Gestalten den Kopf und sah nervös nach oben. Skar fiel auf, daß sie trotz der schweren Arbeit sämtlich in voller Rüstung und bewaffnet waren, als rechneten sie jederzeit mit einem neuen Angriff. Die Speere staken unweit des improvisierten Scheiterhaufens im Boden, nahe genug, daß die Kriegerfinnen sie mit einem raschen Sprsng erreichen konnten, und zwei Gardistinnen hielten mit gespannten Armbrüsten Wache. Nach allem, was Skar erlebt hatte, verstand er diese Vorsichtsmaßnahmen nur zu gut. Was ihm um so weniger begreiflich erschien, war, warum die Gruppe nicht so rasch wie möglich das Weite suchte, sondern sich um eines bloßen Aberglaubens willen der Gefahr eines weiteren Überfalles aussetzte. Aber er sprach diesen Gedanken nicht laut aus. Coar würde wissen, was sie tat. Dies war ihr Land, nicht seines. Was ihm absurd und widersinnig vorkam, mochte hier seine Berechtigung haben und umgekehrt. Die Kriegerfinnen beendeten ihr grausiges Werk und traten zurück. Eine Fackel glomm auf; ein winziger, rotgelber Glutpunkt zuerst, der in der samtblauen Dunkelheit wie ein böses Auge funkelte und sich in Sekundenschnelle zu einer knisternden Flamme ausbreitete. Reisig knackte, begann funkensprühend zu brennen. Plötzlich schlug eine hohe, schwefelgelbe Flamme aus dem Reisigkreis, explodierte mit phantastischer Geschwindigkeit nach allen Seiten und griff fast augenblicklich auf die Vogelkadaver über. Die Lichtung erglühte von einer Sekunde zur anderen in grellem, blauweißem Feuer; Helligkeit, die das Grün des Grases und die Farbe der Himmelskuppel verblassen ließ, aus den Umrissen der Soldaten schwarze, tiefenlose Schatten machte und den Wald dahinter wie eine kompakte Mauer erscheinen ließ. Eine intensive Hitzewelle trieb die Kriegerinnen schrittweise zurück.

Skar beschattete die Augen mit der Linken und versuchte, durch den Vorhang aus gleißendem Licht einen Blick auf den eigentlichen Scheiterhaufen zu werfen. Die Flammen hatten bereits auf die Vogelkörper übergegriffen. Die dünnen, ledrigen Flügel verschmorten unter der ungeheuren Hitze zu einem Netzwerk aus häßlichen, ölig schimmernden Fäden und tropften brennend zu Boden. Fettiger schwarzer Qualm stieg auf und verteilte sich über der Lichtung. Für einen Moment schienen sich die dunklen Körper hinter dem Flammenvorhang zu bewegen, fast, als lehnten sich die Bestien selbst im Tode noch gegen ihr Schicksal auf, und mit einem Mal erschien Skar das, was Coar über die Hoger erzählt hatte, gar nicht mehr so lächerlich. Aber es mußte eine Täuschung sein. Die auf- und niederwogenden Flammen und die Hitze gaukelten ihm die Illusion von Bewegung vor.

Er blinzelte noch einen Moment in die tobenden Flammen und sah dann weg. Sein Gesicht brannte, und die Hitze des Scheiterhaufens schlug mit solcher Macht gegen seine nackte Haut, daß er fast glaubte, nur wenige Handbreit von der Flammenwand entfernt zu sein statt eines Dutzends Schritte.

Coar wandte sich um. »Gehen wir.«

Skar verstand die Worte über dem Brüllen der Flammen kaum, aber ihr Blick und die begleitende Geste sagten ihm genug. Coars Gesicht war vom flackernden Feuerschein in grellrotes Licht getaucht. Es sah aus, als wäre es mit Blut übergossen.

Sie gingen zum Waldrand zurück. Trotz des Tosens der Flammen breitete sich eine seltsame, bedrückende Stille über dem Platz aus. Keine der Kriegerfinnen sprach auch nur ein Wort, und selbst ihre Bewegungen waren von dem Bestreben diktiert, so wenige Geräusche wie nur möglich zu verursachen, als fürchteten sie, die Geister der toten Hoger zu wecken. Die beklemmende Stimmung hob sich erst, als sie die Lichtung verlassen hatten und der Feuerschein nur noch gedämpft durch das dichte Blattwerk des Waldes zu ihnen drang. Die Kriegerin neben Skar atmete hörbar auf. Aber es war ein anderes Aufatmen als das, das man nach der Erledigung einer schweren Arbeit tat. Eher ein fast schmerzhaftes Seufzen, ein Laut, als löse sich eine erdrückende Angst, die würgende Faust tiefsitzender Panik. Coar sagte ein paar Worte in ihrer Muttersprache. Die Gruppe begann sich rasch aufzulösen. Zwei Kriegerfinnen begannen die Pferde zu satteln und verstreut herumliegende Ausrüstungsgegenstände aufzusammeln, die anderen eilten zu den Leichen der beiden Erschlagenen hinüber und begannen dicht neben ihnen zu graben.

Skar wandte sich kopfschüttelnd ab. Nach den unübersehbaren Anzeichen von Angst verwirrte ihn das Verhalten der Frauen mehr und mehr. Zuerst eine zeitraubende, zeremonielle Verbrennung, und nun ein Begräbnis. Er schüttelte in stummem Zweifel den Kopf.

Eine Hand berührte ihn zaghaft an der Schulter. Es war Larynn. Sie wirkte erschöpft und müde. Ihre Haut schimmerte wächsern im Widerschein der immer höher aufflackernden Flammen, und die zierlichen, kühlen Finger auf seiner Schulter zitterten spürbar. »Laß mich deine Wunden sehen«, verlangte sie. Skar hatte den Eindruck, daß das Mädchen eher die Dienste eines Heilers brauchte als er, aber er ließ sie trotzdem gewähren. Ihre Finger fuhren geschickt und sachkundig über seinen Arm, prüften die Verletzung auf Art und Gefährlichkeit und zogen sich zurück, ehe die Berührung die Grenze zum Schmerz überschreiten konnte.

»Es ist nichts Ernstes«, sagte sie leise. »Aber der Riß an deiner Seite sieht nicht gut aus. Schmerzt es sehr?«

Skar machte eine wegwerfende Handbewegung. Der beißende Schmerz dicht unter seinen Rippen war immer noch da, aber die Wunde blutete nicht mehr, und nach allem, was er in den letzten Augenblicken erlebt hatte, hatte er sie schon fast vergessen. Außerdem hatte er gelernt, zwischen verschiedenen Arten des Schmerzes zu unterscheiden - Schmerz, der einfach nur wehtat, und solcher Schmerz, der Signal für eine echte Gefahr war. Dieser Schmerz gehörte zur ersten Art.

Larynn gab ein ärgerliches Geräusch von sich und schob seine Hand beiseite, als er nach der Wunde greifen wollte. »Ich trage dir eine Salbe auf, die kühlt und den Schmerz lindert. Mehr kann ich im Augenblick nicht tun.«

»Das ist nicht nötig. Der Kratzer heilt auch so.«

»Hat dein Freund Del das auch gedacht?«

Skar zuckte resignierend die Achseln, hob den Arm in Schulterhöhe und wartete mit zusammengebissenen Zähnen, bis Larynn die Wunde gesäubert und mit einer zähen, breiartigen Paste bestrichen hatte. Ihre Worte waren keineswegs übertrieben gewesen. Die Salbe prickelte und brannte für einen flüchtigen Moment, dann machte sich ein kühles, nicht unangenehmes Gefühl der Taubheit in seiner linken Körperhälfte breit. Der Schmerz ließ beinahe augenblicklich nach und verschwand nach wenigen Sekunden vollkommen.

»Das ist alles, was ich im Moment für dich tun kann«, sagte Larynn noch einmal. »Die Heilerin in Went wird sich um den Rest kümmern müssen.«

»Went ist eure Stadt?«

Larynn lächelte, als habe er etwas unglaublich Dummes gefragt.

»Ist es noch weit?«

»Nicht sehr. Eine Stunde, wenn wir schnell reiten würden. Mit euch anderthalb. Aber wir werden vor Sonnenaufgang dort sein.«

»Eine Stunde?« echote Skar verwundert. »Wie konntet ihr so rasch hier sein, wenn Went eine Stunde weit weg ist?«

»Wir wurden gerufen«, antwortete Larynn. »Der Wald verbreitet Botschaften schnell. Und wir wußten, daß Eile geboten war.«

Skar lächelte spöttisch. »Hattet ihr Angst, wir würden euch davonlaufen?« Statt einer direkten Antwort machte Larynn eine Kopfbewegung auf die Lichtung hinaus, wo der Scheiterhaufen immer höher aufloderte. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe Skar begriff, was das Mädchen mit seiner Geste meinte.

»Du meinst«, sagte er verblüfft, »ihr ... seid gekommen, um uns vor diesen Biestern zu schützen?«

»Ja.«

»Aber ... wir ... wir sind Fremde«, stotterte Skar verwundert. »Eindringlinge, die eure Grenzen und vielleicht eure Gesetze verletzt haben!«

»Aber ihr seid Menschen, oder?« Larynn lachte leise und setzte eine Miene auf, als müsse sie einem verstockten Kind erklären, warum zwei und zwei vier und nicht sieben sind. »Ihr seid fremd, und ihr wußtet nichts von den Gefahren, die hier auf euch lauern. Der Wald scheint friedlich, aber er ist es nicht. Wir mußten euch warnen. Außerdem«, fügte sie mit einem verzeihenden Lächeln hinzu, »hast du natürlich recht. Die Nahrak teilten uns mit, daß Fremdlinge aus der Wüste gekommen waren. Wir mußten wissen, wer ihr seid und was ihr wollt.«

Skar verstand mit jedem Wort weniger. Bis vor wenigen Augenblicken hatte er sich noch eingebildet, ein wenig von diesem Volk und seiner Art, zu denken und zu leben, begriffen zu haben, aber das Gegenteil schien der Fall. Der Gedanke, daß diese Menschen sich bewußt der tödlichen Gefahr einer Begegnung mit den schwarzen Ungeheuern ausgesetzt hatten, erschien ihm unglaublich. Und er sprach seine Verwunderung auch aus.

Larynn sah ihn mit einer seltsamen Mischung aus Unglauben und Erstaunen an. »Aber ihr seid Menschen«, sagte sie verwirrt. »Wir wissen nicht, wer ihr seid. Vielleicht nur zwei harmlose Wanderer, die sich in der Wüste verirrt haben, vielleicht auch Feinde. Aber kein Mensch kann so schlecht sein, daß er den Tod durch einen Hoger verdient hätte.«

»Vor wenigen Augenblicken wolltet ihr uns noch töten«, widersprach Skar. Larynn nickte. »Das stimmt«, sagte sie. »Wir töten. Aber die Hoger ...« Sie brach ab, suchte einen Moment lang sichtlich nach Worten und wandte sich dann mit einer schnellen Drehung ab. Skar hatte den Eindruck, daß sie bereits mehr gesagt hatte, als ihr lieb war.

»Dein Freund ist wach«, murmelte sie, abrupt das Thema wechselnd. »Wenn du mit ihm reden willst ...«

Skar nickte. Del lag mit halb geöffneten Augen auf der provisorischen Bahre, die Larynn gebaut hatte - einem Tragegestell aus zwei geraden, kräftigen Ästen, zwischen denen ein Netzwerk aus dünnen Pflanzenfasern gespannt war. Die Konstruktion wirkte alles andere als stabil, aber Skar erinnerte sich noch lebhaft an die Festigkeit der dünnen Lianen. Die brennenden Linien auf seinen Handgelenken erinnerten ihn mit jeder Sekunde daran.

Del versuchte zu lächeln, als er Skar erkannte, aber der Schmerz und die Erschöpfung ließen eine beinahe furchteinflößende Grimasse daraus werden. Skar kniete neben ihm nieder, legte die Hand auf seine unverletzte Schulter und rang sich zu einem aufmunternden Lächeln durch. Dels Haut fühlte sich heiß und fiebrig an, trocken und rissig wie altes Pergament. Krank. Sein Körper bebte unter den Hieben eines Schüttelfrostes, und Skar konnte die schnellen, arhythmischen Pulsschläge bis in die Schulter hinauf fühlen. Plötzlich verstand er Larynns Besorgnis. Die scheinbar unerschöpfliche Energie, die Del seit ihrem Aufenthalt am See an den Tag gelegt hatte, war nichts als ein kurzes, trotziges Aufbäumen gewesen, dem nun der endgültige Zusammenbruch folgte.

Del bewegte mühsam die Lippen.

»Was ... ist geschehen?« fragte er mit einem Blick auf den lodernden Scheiterhaufen. Die Flammen spiegelten sich in seinen weit aufgerissenen Augen. Es sah aus, als brenne in seinen Augäpfeln ein winziges, doppeltes Feuer. Skar lachte gezwungen. »Du wirst wohl nie ein richtiger Mann, Kleiner«, sagte er spöttisch. Seine Stimme schwankte hörbar, aber er hoffte, daß Del dies nicht bemerkte. »Du hast den spannendsten Teil verschlafen. Wie immer.«

»Ist etwas ... passiert?« fragte Del noch einmal. Er schien Skars Worte gar nicht gehört zu haben.

Skar erzählte ihm in knappen, einfachen Sätzen vom Überfall der Hoger und dem anschließenden Kampf. Er wußte nicht, ob Del seine Worte überhaupt verstand. Sein Blick war starr an Skar vorbei auf den flackernden Feuerberg gerichtet, aber nicht einmal den schien er wirklich wahrzunehmen. Sein Gesicht zuckte im Widerschein der Flammen, und die Hände ballten sich unter der dünnen Decke zu Fäusten. Aber es lag keine Kraft mehr in der Bewegung. Höchstens noch Trotz.

»Schade, daß ich nicht ... dabei war«, sagte er schwach, als Skar fertig war. »Ich hätte gerne ... noch einmal an deiner Seite gekämpft.«

»Dazu wirst du noch mehr Gelegenheit haben, als dir lieb ist«, sagte Skar.

»Glaubst du?«

»Ich weiß es. Wenn du hoffst, dich einfach davonschleichen und mich hier allein zurücklassen zu können, täuschst du dich. Du wirst hübsch gesund werden und mir helfen, hier herauszukommen.« Er brach ab, als er merkte, daß Del seine Worte schon gar nicht mehr wahrnahm. Er war erneut eingeschlafen.

Skar stand auf, überzeugte sich rasch davon, daß die dünnen Ranken, die Del auf der Trage hielten, nicht in sein Fleisch einschnitten, und hielt nach Coar Ausschau. Er gewahrte ihre verbeulte Rüstung zwischen den anderen, zögerte einen Moment und ging dann langsam zu der Gruppe hinüber.

Die Arbeit war bereits überraschend weit fortgeschritten. Die beiden flachen Gruben waren fertig ausgehoben, und zwei Kriegerfinnen waren damit beschäftigt, den Toten Rüstungen und Unterzeug auszuziehen. Skar näherte sich bis auf zehn Schritte und blieb dann stehen. Er wußte aus eigener schmerzlicher Erfahrung, daß es nicht ratsam war, sich in die Gebräuche anderer Völker zu mischen. Zu schnell konnte ein unbedachtes Wort, eine Geste im falschen Moment einen nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichten.

Coar kniete neben den Toten nieder und hielt einen flachen, verzierten Kasten mit metallenem Deckel in den Händen. Ihr Gesicht war zu einer Miene konzentrierter Anspannung erstarrt. Die Lippen bewegten sich unablässig und formten lautlose Worte. Mehr als eine Minute saß sie so stumm zwischen den beiden Erschlagenen und starrte aus blicklosen Augen in die Flammen, ohne auch nur ein einziges Mal mit den Wimpern zu zucken. Dann setzte sie das Kästchen ins Gras und zog einen schmalen Dolch aus dem Gürtel. Ihre Finger glitten suchend über den entblößten Oberkörper des toten Mädchens, strichen beinahe liebkosend über die Brust und verharrten schließlich an einer Stelle dicht unterhalb des Herzens. Der Dolch senkte sich. Skar beobachtete mit wachsendem Entsetzen, wie die rasiermesserscharfe Klinge durch das noch warme Fleisch schnitt und sich tief in den Körper grub. Ein einzelner, schimmernder Blutstropfen quoll hervor und lief über Coars Hand. Sie schien es nicht einmal zu bemerken. Der Dolch hob sich, senkte sich erneut und schnitt noch einmal, diesmal diagonal zur ersten Wunde. Dann versenkte Coar mit einer entschlossenen Bewegung die Finger in den kreuzförmigen Schnitt. Als sie sie wieder hervorzog, hielten sie einen kleinen, runden Gegenstand. Sie schloß die Augen. Für Sekunden trat ein entspannter, beinahe glücklich zu nennender Ausdruck auf ihr Gesicht, ehe es wieder in die gewohnte Starre zurückfiel. Sie richtete sich auf, legte das Messer neben sich ins Gras und klappte den Deckel des Metallkästchens auf. Ein unhörbares Seufzen ging durch die Reihe der Kriegerfinnen, als sie den Gegenstand, den sie der Brust der Getöteten entnommen hatte, hineintat und den Dekkel vorsichtig wieder schloß.

Skar wandte sich schaudernd ab und entfernte sich ein paar Schritte, während Coar sich über den zweiten Leichnam beugte und finit ihm in gleicher Weise verfuhr. Er fühlte, daß er jetzt nur stören würde.

Er ging unschlüssig zu den Pferden hinüber, sah sich einen Moment ratlos um und bückte sich schließlich nach einem Helm, der auf einem ganzen Haufen scheinbar achtlos zusammengetragener Gegenstände lag, weniger aus wirklichem Interesse als aus dem Verlangen heraus, seine Hände und vor allem seine Gedanken zu beschäftigen.

Skar registrierte verblüfft, wie schwer der unscheinbare Helm war. Er selbst hätte ihn auch mit Gewalt nicht über den Schädel bekommen, und auch kein anderer Krieger, den er kannte. Aber trotz seiner Kleinheit war er erstaunlich schwer. Skar drehte sich mehr zum Feuer hin und betrachtete den Helm genauer. Die feinen, mit unglaublicher Geduld in das harte Metall hineinziselierten Blumen- und Tiermuster, die Imitation einer Rattenschnauze auf dem Visier waren so akribisch ausgeführt, daß er in der flackernden Beleuchtung beinahe glaubte, einen echten Rattenschädel in Händen zu halten, komplett mit jedem winzigen Haar, jeder Unebenheit der Haut und den leicht einwärts gebogenen, tödlichen Fangzähnen. Er hatte nie eine schönere Arbeit gesehen, weder in einem weicheren Material noch in diesem schweren, harten Stahl, der fast so dick wie sein kleiner Finger war und auch einem mit aller Kraft geführten Keulenhieb widerstehen mochte. Er legte den Helm zurück und untersuchte Stück für Stück Brustpanzer, Schilde, Arm- und Beinschützer. Das Muster des Helmes wiederholte sich auf jedem Teil, selbst auf den Griffstücken der dünnen, biegsamen Säbel. Die Waldbewohner mußten eine unglaubliche Kunstfertigkeit in der Bearbeitung von Metall erlangt haben.

Die Rüstungen kamen ihm vage bekannt vor. Er war sicher, noch nie eine so phantastische Arbeit zu Gesicht bekommen zu haben, und doch erweckte der Anblick der schmalen Panzer ein beklemmendes Gefühl des Vertrauten in ihm. Aber er wußte nicht, wo er das Gefühl unterbringen sollte.

Das Geräusch leiser Schritte ließ ihn aus seinen Gedanken hochfahren. Er drehte sich um und gewahrte Coar. Die Kommandantin hatte ihre Rüstung wieder vollständig angelegt und den Helm aufgesetzt, so daß von ihrem Gesicht trotz des hochgeklappten Visiers nur ein schmaler, dreieckiger Ausschnitt erkennbar blieb. Der Anblick verwirrte ihn. Das Rattenprofil war von den Schöpfern der Rüstung zweifellos gewählt worden, um Feinde zu erschrecken und von vornherein zu demoralisieren. Aber bei Coar bewirkte es jetzt, da er ihr Gesicht bereits kannte, das genaue Gegenteil. Die harten, aggressiven Linien unterstrichen ihre Weiblichkeit, statt sie zu verbergen. Coar bewegte sich langsam und scheinbar schwerfällig. Bei dem Gewicht der Rüstung schien es Skar erstaunlich, daß sie überhaupt gehen konnte. Sie mußte sehr stark sein, zumindest für eine Frau von ihrer Statur.

Er bemerkte, daß sie seine Sandalen und den Brustharnisch über dem Arm trug. Die Rechte umklammerte den Griff des Schwertes.

Sie näherte sich ihm bis auf Armeslänge, blieb stehen und sah ihn abschätzend an. Auf ihren Zügen spiegelte sich der innere Kampf, den sie durchstand.

»Gibst du mir dein Ehrenwort, nicht zu fliehen?«

Skar nickte wortlos.

Coar legte mit unbewegtem Gesicht Sandalen, Harnisch und Schwert vor ihm ins Moos, wandte sich abrupt ab und ging eilig zu ihren Kriegerfinnen zurück. Skar sah ihr verblüfft nach. Es war nicht zu übersehen gewesen, wie schwer ihr die Entscheidung gefallen war. Um so überraschter war er, daß sie es trotzdem getan hatte. Schließlich war er ein Fremder für sie, ein Mann, der aus dem Nichts aufgetaucht war und dessen Ehrenwort vielleicht nicht mehr galt als der Schmutz unter seinen Fingernägeln. Und trotzdem hatte sie diese Entscheidung gewiß nicht aus Leichtsinn oder übertriebener Dankbarkeit getroffen. Ihr Benehmen hatte nichts mehr mit Dankbarkeit zu tun, auch nichts mit dem Respekt, den man einem Krieger zollt oder der Kameradschaft, die einem gemeinsam ausgefochteten Kampf entspringen mochte.

Er klaubte seine Sachen vom Boden auf und begann sich umständlich anzukleiden. Der Harnisch schien Zentner zu wiegen. Die steinharten Kanten schrammten schmerzhaft über seine geschundene Haut, und die dünnen Nacken- und Rückenriemen schnitten wie winzige Messer ein. Er schlüpfte in seine Sandalen und zog anschließend zwei-, dreimal hintereinander rasch das Schwert aus der Scheide. Seine Muskeln hatten ihre gewohnte Geschmeidigkeit noch lange nicht zurück, und seine Reflexe schienen träge und langsam wie die eines Greises. Aber das vertraute Gewicht der Waffe an seiner Seite gab ihm etwas Sicherheit. Hätte er sie von Anfang an gehabt, dachte er düster, wären die beiden Kriegerfinnen vielleicht noch am Leben.

Die Beerdigungszeremonie - wenn man überhaupt von einer solchen reden konnte - war vorüber. Die Gräber waren schmucklos; zwei flache, lieblos festgestampfte Hügel, als hätte man einen toten Hund oder Abfälle begraben. Skar registrierte irritiert die gelöste, beinahe heitere Stimmung, die mit einemmal von den Amazonen Besitz ergriffen hatte. Sie redeten miteinander, lachten und riefen sich Scherzworte zu, wenn auch leise und verhalten. Es gab keine Spur von Trauer oder Schmerz auf ihren Gesichtern; nichts, was darauf hinwies, daß diese Frauen vor wenigen Augenblicken zwei Kameradinnen begraben hatten.

»Wir können aufbrechen«, sagte Coar leise, als sie seine Annäherung bemerkte. »Es ist nicht mehr weit bis Went, aber wir sollten uns beeilen, schon Dels wegen. Wir haben bereits viel zuviel Zeit verloren. Man wird sich um uns sorgen.«

Skar hielt ihr mit einem spöttischen Lächeln die Hände entgegen. »Wollt ihr mich wieder fesseln?«

»Das wird nicht nötig sein. Du hast mir dein Ehrenwort gegeben.« Coar wies mit einer Kopfbewegung auf die Pferde, die bereits unruhig wurden und offensichtlich genau wie ihre Reiter darauf warteten, endlich nach Hause zu kommen. »Wir haben ein überzähliges Pferd. Wenn du reitest, sind wir schneller. Du kannst reiten?«

Skar verzichtete auf eine Antwort und schwang sich statt dessen mit einer kraftvollen Bewegung in den Sattel. Ein grausamer, stechender Schmerz Schoß durch seinen Rücken und bestrafte die unbedachte Anstrengung, aber er ließ sich nichts davon anmerken.

Coar nickte, ging zu ihrem eigenen Tier hinüber und sprang ebenfalls in den Sattel. Wenige Augenblicke später brachen sie auf.

Sie erreichten Went bei Einbruch der Dämmerung. Während der letzten halben Stunde, die sie durch den Wald geritten waren, war Nebel aufgekommen; feuchte, träge Schwaden, die eine Handbreit über dem Boden lasteten und direkt aus der sumpfigen Erde emporzuquellen schienen. Menschen und Tiere waren schonnach wenigen Augenblicken bis auf die Haut durchnäßt. Die goldschimmernden Panzer der Mädchen glitzerten feucht, und der Dämpfende Nebel verlieh dem Hämmern der Pferdehufe einen seltsam dumpfen, weichen Nachhall, als ritten sie über Moos oder einen weichen, federnden Teppich. Der Boden war hier nicht mehr so fest wie bisher, und wenn Skar durch die wallende Nebeldecke auch nichts erkennen konnte, so war er doch sicher, durch Sumpf oder wenigstens Morast zu reiten. Er fror, aber das hatte nichts mit dem Nebel oder der Feuchtigkeit zu tun. Es war eine Kälte, die langsam aus seinem Inneren hervor und in seine Knochen und Muskeln kroch. Es fiel ihm zunehmend schwerer, aufrecht zu sitzen und die Augen offen zu halten. Sein Körper forderte nun endgültig das ihm Zustehende. Irgendwann, nachdem sie eine Ewigkeit durch eine bizarre Landschaft aus wallenden Nebelfingern und schwarzen Schattenbäumen geritten waren, begann sich der Horizont vor ihnen aufzuhellen. Coar hob die Hand, stieß einen scharfen Befehl aus und brachte ihr Pferd mit einem energischen Ruck am Zügel zum Halten. Auch die anderen blieben stehen. Nur Skar, der weder die Worte noch die begleitende Geste durch den Schleier von Müdigkeit, der sich über seinem Bewußtsein ausgebreitet hatte, richtig deutete, ritt noch ein ganzes Stück weiter und wäre an Coar vorbeigeritten, hätte nicht eine der Kriegerfinnen gedankenschnell nach seinen Zügeln gegriffen und den Kopf des Tieres zurückgerissen.

Skar kämpfte auf dem ungewohnt glatten Sattel eine halbe Sekunde lang um sein Gleichgewicht und nickte der Kriegerin dankbar zu. Sie erwiderte die Geste. Hinter den schmalen Sehschlitzen der Gesichtsmaske blitzte es spöttisch auf. Coar wandte kurz den Kopf, sah Skar an und stieß dann einen hellen, an einen Vogelruf erinnernden Schrei aus. Sekundenlang wartete sie mit schräggehaltenem Kopf, dann wurde der Laut von irgendwo aus dem schattigen Dunkelgrün vor ihnen beantwortet. Wieder verging Zeit, vergingen vier, fünf oder mehr Minuten, in denen die gesamte Gruppe still und ohne den kleinsten Laut zu verursachen abwartete. Dann raschelte es im Unterholz vor ihnen, und eine schmale, in Grün und Braun gekleidete Gestalt erschien links von der Kommandantin. Coar beugte sich im Sattel vor und wechselte ein paar Worte mit dem Mann. Skar verstand nicht, worum es ging, aber die mißtrauischen und feindseligen Blicke, die ihm der Grüngekleidete zuwarf, sagten ihm genug. Coar beendete die kurze Diskussion schließlich mit einem unwillig hervorgestoßenen Befehl. Der Mann zuckte die Achseln, wandte sich um und verschwand genauso rasch, wie er aufgetaucht war. Skar hatte geglaubt, daß der Ritt jetzt weitergehen würde, aber Coar wartete reglos ab. Wieder vergingen Minuten quälenden Schweigens, dann teilte sich das Grün vor ihnen erneut, und eine Abteilung gepanzerter Reiter sprengte auf die Lichtung hinaus. Sie waren - gleich Coar und ihren Kriegerfinnen - in schimmernde goldene Harnische gehüllt, aber auf ihren Helmen prangten große, farbige Federbüsche, und ihre Bewaffnung bestand, soviel Skar erkennen konnte, ausschließlich aus Langbögen und kleinen, goldenen Wurfdolchen, die sie in dünnen Ketten wie barbarische Schmuckstücke um die Hüften trugen. Lange, weit über die Flanken ihrer Pferde fallende Umhänge hüllten die Gestalten ein.

Coar wechselte ein paar Worte mit ihrem Führer und deutete mehrmals abwechselnd auf Skar und Del. Der Mann schwieg einen Moment, sah die beiden Gefangenen nachdenklich an und wandte sich dann um, um - diesmal am Ende der Kolonne - erneut in den Wald einzudringen. Coar und die Garde folgten ihm. Sie ritten, einem scheinbar vollkommen willkürlich gewählten Kurs folgend, weiter nach Norden. Ihre Führer verhielten sich auffallend unsicher und zögernd. Den Grund dafür erkannte er wenig später.

Der Wald war nicht so leer, wie es schien. Große, an riesige Spinnweben erinnernde Netze spannten sich in unregelmäßigen Abständen zwischen den Baumwipfeln, drahtige, mit tödlichen Widerhaken versehene Gewebe, die jeden, auf den sie herabstürzten, zerfleischen mußten. Es gab Fallgruben: jäh aufklaffende, senkrechte Schächte, auf deren Grund tödlich zugespitzte Holzpflöcke lauerten, und mehr als nur einmal glaubte er im dichten Unterholz Metall aufblitzen zu sehen. Del und er hätten nicht einmal die ersten Augenblicke überlebt, wären sie in diesen Teil des Waldes hineingestolpert. Die scheinbare Friedfertigkeit ihrer Umgebung täuschte. Sie mochte Ruhe und Geborgenheit suggerieren, aber zumindest dieser nördliche Teil des Waldes war eine einzige tödliche Falle. Eine gewaltige Verteidigungsanlage, perfekt getarnt und vermutlich stark genug, selbst dem Ansturm einer großen und gut ausgerüsteten Streitmacht zu trotzen. Skar schauderte, als er daran dachte, welches Schicksal ihm und Del beschieden gewesen wäre, wären sie ahnungslos in dieses System tödlicher Fallen hineingetappt.

Sie bewegten sich weiter nach Norden. Der Wald veränderte abermals seinen Charakter. Die Bäume traten auseinander, und das Unterholz verschwand nach wenigen hundert Metern vollends, so daß die Strahlen der soeben aufgegangenen Sonne ungehindert bis zum Waldboden durchdringen und auch die letzten Nebelfetzen verjagen konnten. Der Boden war so eben, als wäre er künstlich geglättet worden.

Nach einer Weile tauchte ein dreifach mannshoher, aus stacheligen Dornbüschen, die mit schräg zueinander versetzten Balken und metallenen Stützen verstärkt waren, gepflanzter Wall auf, an dessen Fuß ein schmaler, sandbestreuter Weg entlangführte. In regelmäßgen Abständen erhoben sich runde, hölzerne Wachtürme über die Krone des natürlichen Bollwerkes. Das Ganze machte einen zugleich zerbrechlichen wie auch äußerst wehrhaften Eindruck. Dem Ansturm eines gepanzerten Reiterheeres würde diese Barriere nur wenige Augenblicke standhalten, aber gegen andere Gegner mochte sie durchaus Schutz bieten. Sie wandten sich nach links und ritten etwas weniger als eine Meile im Schatten der Dornenhecke entlang. Schließlich tauchte ein niedriges, halbrundes Tor vor ihnen auf. Coar wechselte ein paar Worte mit dem Führer der zweiten Reitergruppe, und erneut hatte Skar den Eindruck, daß das Gespräch alles andere als ruhig verlief. Der Reiter - ein schlanker, sehniger Mann, dessen dunkel getöntes Gesicht unter dem wulstigen Helm einen seltsam herrischen und befehlsgewohnten Eindruck machte - deutete wiederholt auf Skar und die zweischneidige Satai Waffe an seiner Seite. Coar beendete das Gespräch schließlich mit einer wütenden Geste, drehte sich halb im Sattel herum und sagte ein paar Worte zu den hinter ihr reitenden Kriegerfinnen. Die beiden wendeten ihre Pferde, ritten in weitem Bogen zu Skar zurück und nahmen ein wenig hinter und rechts und links von ihm Aufstellung. Ihre Säbel glitten scharrend aus den metallenen Scheiden.

Skar bemühte sich, möglichst ungerührt sitzen zu bleiben. Er mußte die Worte nicht verstehen, um zu wissen, worum die Diskussion ging. Offensichtlich teilte der Reiter Coars Vertrauen zu ihrem Gefangenen nicht uneingeschränkt. Skar lächelte sanft, als er dem Blick des Reiters begegnete. Ein flüchtiger Schatten von Ärger huschte über die strengen Züge des anderen, dann wandte er mit einem Ruck den Kopf und deutete wortlos auf das Tor. Zwei seiner Männer stiegen aus den Sätteln und wuchteten den schweren hölzernen Riegel beiseite. Der Sinn eines Riegels, der an der Außenseite eines Tores angebracht war, wollte Skar nicht so recht aufgehen, aber er verschob die Lösung dieses weiteren Rätsels - wie so viele andere - auf später.

Die beiden wuchtigen Torflügel schwangen mit leisem Knarren nach innen, und die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. Das Tor war so niedrig, daß Skar und die anderen sich tief über die Pferde beugen mußten, um nicht mit den Köpfen gegen die dornige Hecke zu stoßen.

Skar sog unwillkürlich die Luft ein, als er Went erblickte.

Er hatte mit etwas Ungewöhnlichem gerechnet, aber die Wirklichkeit übertraf selbst seine kühnsten Vorstellungen. Went war die erstaunlichste Stadt, die er jemals gesehen hatte.

Im ersten Moment zweifelte er fast daran, die Stadt überhaupt schon erreicht zu haben. Hinter der Hecke erstreckte sich ein vielleicht dreißig Meter breiter, vollkommen glatter Streifen festgestampfter Erde, sorgfältig von Unkraut und Steinen gereinigt und mit einer zweiten, nur mehr brusthohen Dornenhecke eingefaßt. Schmale, mit glatten, runden Steinen eingefaßte Wege führten in regelmäßigen Abständen zu den Wachtürmen. Ein zweites Tor - eigentlich nur ein symbolischer Durchgang ohne Sturz, der von zwei schlanken, kunstvoll geschnitzten Pfeilern aus einem dunklen Holz flankiert wurde. Dahinter erstreckte sich ein weiterer, fünfzig Meter breiter Streifen flachen Geländes, und erst dahinter begann die eigentliche Stadt - wenn man Went eine Stadt nennen konnte. Im ersten Augenblick hatte Skar den Eindruck, daß sich der Wald jenseits der doppelten Barriere aus dornigem Gestrüpp einfach fortsetzte. Er erkannte erst nach Sekunden, daß Went keine Stadt im Wald, sondern der Wald selbst war. Nur wenige Gebäude waren nach der Art herkömmlicher Häuser auf dem Boden errichtet worden. Die meisten waren, gleich großen, luftigen Gewächsen, in unterschiedlichen Höhen zwischen den Bäumen aufgehängt, wie Vogelnester in Astgabeln und Kronen verankert oder an einem raffinierten System von Seilen und Netzen gespannt. Skar war nicht in der Lage, die genaue Größe der Stadt abzuschätzen. Der Durchmesser des inneren Dornenkreises betrug vielleicht - wenn sich die Krümmung jenseits der Bäume im gleichen Maße fortsetzte - etwas mehr als eine Meile, aber Went beschränkte sich nicht auf nur eine Ebene. Es war unmöglich, ein System in der Art, wie die Stadt gebaut war, zu erkennen. Die einzelnen Gebäude schienen vollkommen willkürlich gerade da errichtet worden zu sein, wo es ihren Bewohnern in den Sinn gekommen war. Und auch wie es ihnen gerade einfiel. Es gab keine einheitliche Form - jedes Haus unterschied sich in Größe und Ausführung von den anderen, als hätte jeder einzelne Bewohner der Stadt sein Haus speziell nach seinen Wünschen und Bedürfnissen erdacht und erbaut. Es gab eine Unzahl kleiner, vogelnestartiger Hütten, kaum groß genug, um mehr als zwei oder allerhöchstens drei Bewohnern ausreichend Raum zu bieten, aber auch riesige, ineinander verschachtelte Gebilde aus Balken und Sparren und wucherndem Grün, die an gewaltigen Trossen hingen und über breite Rampen mit dem Erdboden und auch untereinander verbunden waren. Eine Reihe von Häusern erstreckte sich über sieben, acht Bäume; titanische Plattformen, die auf gewaltigen natürlichen Pfeilern ruhten. Dünne, zerbrechlich aussehende Hängebrücken verbanden die unterschiedlichen Ebenen Wents miteinander, schwankende Stege, die in zwanzig, dreißig oder mehr Metern Höhe geländerlos über die Tiefe führten. Manche Häuser, stellte Skar überrascht fest, schienen weniger gebaut, als vielmehr gewachsen zu sein; Gebilde aus Ranken und dichten grünen Hekken, deren Wuchs geduldig gelenkt und beeinflußt worden war, bis sie sich zu kugeligen Höhlen mit schmalen Tür- und Fensteröffnungen geformt hatten.

Ihr Führer hielt an, als sie die zweite Dornensperre durchschritten hatten. Erneut wechselte er ein paar Worte mit Coar, riß sein Pferd dann mit einem brutalen Zerren am Zügel herum und sprengte an der Spitze seiner Männer auf die Stadt zu. »Ärger?« fragte Skar knapp, als Coar langsam auf ihn zugeritten kam.

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts, was dich betrifft.«

»Den Eindruck hatte ich nicht«, erwiderte Skar lächelnd.

In Coars dunklen Augen blitzte es verärgert auf. »Bernec spielt sich gerne auf, das ist alles. Kümmere dich nicht um ihn.«

»Bernec? Der ...«

»Der Befehlshaber der Stadtgarde«, sagte Coar. »Er bildet sich ein, unumschränkter Herrscher über Went zu sein.« Sie lächelte abfällig. »Wahrscheinlich wird er jetzt drei Wochen kein Wort mehr mit mir wechseln, aber er beruhigt sich auch wieder. Vorerst bleibt ihr weiter in meiner Obhut. Wir bringen dich und Del zuerst zu unserer Heilerin. Ihr müßt ruhen.«

Skar brannten noch tausend Fragen auf der Zunge, aber Coar wandte sich bereits wieder um und ritt in mäßigem Tempo auf die Stadt zu. Die beiden Kriegerinnen rechts und links von Skar schoben ihre Waffen in die Gürtel zurück und gaben ihren Tieren die Sporen.

Die Nachricht von ihrem Kommen schien sich wie ein Lauffeuer in der Stadt zu verbreiten. Vorhin, als sie durch die Dornenhecke geritten waren, waren nur wenige Menschen außerhalb der Gebäude zu sehen gewesen. Aber jetzt füllten sich die Laufstege und Brücken zunehmend mit Menschen: Männern, Frauen, Kindern und Greisen, die der Garde und ihren beiden Gefangenen neugierig entgegenblickten und aufgeregt miteinander redeten und gestikulierten.

»Die Heilerin wohnt dort hinten.« Coar deutete auf ein annähernd halbkugelförmiges, grünbraun gemustertes Gebäude, das in etwa zehn Metern Höhe zwischen zwei mächtigen Baumstämmen verankert und über eine breite, sanft ansteigende Rampe erreichbar war. Die Reiterin, hinter deren Pferd Dels Trage befestigt war, brach auf einen stummen Blick der Kommandantin aus der geordneten Marschformation aus und ritt auf das Baumhaus zu.

»Fühlst du dich kräftig genug, zuerst mit dem Stadtkommandanten zu reden?« Skar konnte sich im Moment Besseres vorstellen, aber er nickte trotzdem. Trotz seiner Müdigkeit hätte er keine Ruhe gefunden, ehe ihr weiteres Schicksal nicht wenigstens in groben Zügen geklärt war. Coars plötzliche Freundlichkeit hatte ihn beinahe vergessen lassen, daß sie noch immer Gefangene waren.

»So komm.« Coar wandte sich um und sprengte, ohne auf ihre Begleiterinnen zu achten, auf ein niedriges braunes Gebäude am südlichen Rand der Baumstadt zu. Skar preßte seinem Tier die Schenkel in die Seiten und folgte ihr.

Sie stiegen aus den Sätteln, und Coar schlug ein paarmal heftig mit der behandschuhten Faust an die niedrige Holztür. Sekundenlang geschah nichts, dann erklangen von drinnen langsame, schlurfende Schritte. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, und ein alter, in zerschlissene braune Lumpen gekleideter Mann erschien unter der Tür.

Coar deutete auf ihr und Skars Pferd und sagte ein paar schnelle, unverständliche Worte. Der Alte nickte, schlurfte mit hängenden Schultern zu den beiden Pferden und führte sie wortlos ins Innere des Hauses. Offenbar waren Stallungen und Vorratshäuser ebenerdig angebracht.

Coar deutete mit einer Kopfbewegung weiter ins Zentrum Wents hinein. »Gehen wir. Und bleib immer dicht an meiner Seite.«

Es gab keine markierten Wege oder Pfade. Der Boden war mit Moos und Büscheln eines harten, scharfblättrigen Grases bewachsen, und hier und da entdeckte er - scheinbar wie alles in Went willkürlich und ohne erkennbaren Plan angelegt, kleine, gepflegte Blumenbeete oder auch Büsche einer saftigen, palmenähnlichen Pflanze, die nicht in den natürlichen Bewuchs des Waldes zu gehören schien und offenbar künstlich hier angepflanzt worden war - aber Coar führte ihn, einem undurchschaubaren Kurs aus scheinbar willkürlichen Rechts- und Linkswendungen folgend, tiefer in die Waldstadt hinein.

Skar war viel zu müde, um auf seine Umgebung zu achten. Wohin sie kamen, wurden sie von Neugierigen empfangen, aber Skar nahm kaum mehr als Bäume und sonderbar geformte Häuser und ein verwirrendes Spiel von Licht und Schatten und den unterschiedlichsten Grün- und Brauntönen wahr. Schließlich erreichten sie ein ebenerdig gelegenes, wuchtiges Gebäude im Zentrum der Stadt. Es war das erste aus Stein und Holz erbaute Haus, das Skar seit Betreten der Stadt erblickte, und vermutlich auch das einzige. Eine wuchtige, aus schweren, eisenbeschlagenen Balken gezimmerte Tür führte ins Innere des Hauses. Coar gebot ihm mit einer knappen Geste stehenzubleiben und zog an einer Kordel neben der Tür. Kurz darauf wurde in der Tür eine schmale Klappe geöffnet, und ein dunkles Augenpaar blickte mißtrauisch zu ihnen hinaus.

Coar wechselte ein paar Worte mit dem Mann hinter der Tür. Die Klappe wurde geschlossen, und die Kommandantin trat zurück. Ein angespannter, besorgter Zug lag plötzlich um ihre Lippen.

»Logar wird uns empfangen«, sagte sie knapp. »Er wußte bereits von unserem Kommen.« Sie zögerte, sah Skar sekundenlang unschlüssig an und fügte etwas leiser und hastig hinzu: »Er ist ein sehr mißtrauischer Mann. Es wird besser sein, du sagst so wenig wie möglich. Bernec war bereits bei ihm.« Der letzte Satz war in einem Tonfall gehalten, der deutlichmachte, daß dies allein - zumindest für Coar - Grund genug zu der Annahme war, daß sie Schwierigkeiten erwarten mußten. Skar wollte eine entsprechende Frage stellen, aber in diesem Moment wurde die Tür bereits geöffnet, und Coar wandte sich um, um vor Skar das Gebäude zu betreten.

Drinnen war es kühl und überraschend hell. Skar hatte beim Anblick der schmalen, schießschartenähnlichen Fenster unwillkürlich ein finsteres, muffig riechendes Verlies erwartet, aber das Gegenteil war der Fall: Hinter der Tür erstreckte sich ein breiter, hell erleuchteter Flur, an dessen hinterem Ende eine kurze Treppe begann, die zu einem weiteren Gang hinaufführte. Die Wände waren mit Bildern und rankenden Blütengewächsen bedeckt, und auf dem Boden lag ein knöcheltiefer, weicher Teppich, der - ebenso wie Bilder und Vorhänge - Blumen- und Tiermotive zeigte. Von außen mochte das Gebäude eine triste, graue Festung sein, innen war es ein Palast.

Coar ging rasch durch den Gang und blieb am Fuß der kurzen Treppe stehen. »Warte hier«, sagte sie leise. »Ich werde zuerst allein mit Logar reden. Ich lasse dich rufen.«

Skar nickte wortlos und trat einen Schritt zurück. Coar verschwand mit eiligen Schritten im angrenzenden Gang. Augenblicke später hörte er gedämpfte Stimmen, die dann vom Geräusch einer zuschlagenden Tür abrupt abgeschnitten wurden.

Er war allein in dem langen, schmalen Gang. Der Wächter, der sie eingelassen hatte, war verschwunden, ohne daß Skar bemerkt hätte, wohin. Der Gang schien außer der Eingangstür und der Pforte am oberen Ende der Treppe, an der er stand, keinerlei Ausgänge zu besitzen, aber hinter den rankenden Grüngewächsen an den Wänden konnten sich Dutzende von Öffnungen befinden. Wahrscheinlich; überlegte er matt, beobachteten sie ihn in diesem Moment - wer immer sie sein mochten.

Er lehnte sich gegen die Wand, verschränkte die Arme vor der Brust und schloß für einen Moment die Augen. Müdigkeit kroch wie eine dumpfe, betäubende Wolke in ihm empor. Der Waffengurt an seiner Seite wurde plötzlich unerträglich schwer, und der lederne Brustharnisch schien sich von einer Sekunde auf die andere in eine zollstarke Eisenplatte zu verwandeln. Er öffnete die Augen, schüttelte den Kopf und ballte ein paarmal kurz und heftig die Fäuste; ein Trick, der fast immer half, die Müdigkeit zu verscheuchen. Diesmal klappte es nur bedingt. Er war einfach am Ende, ausgelaugt und fertig. Was er brauchte, war Schlaf, einen, vielleicht zwei Tage Schlaf und kräftige Nahrung.

Er stieß sich von der Wand ab, ging ein paar Schritte und betrachtete - weniger aus wirklichem Interesse als vielmehr, um überhaupt irgend etwas zu tun und die immer drängendere Müdigkeit zu überspielen - die Bilder entlang der Wände. Sie schienen alle von der Hand des gleichen Künstlers geschaffen zu sein und zeigten ausnahmslos Tier- und Pflanzenmotive: Vögel, Pferde, Wölfe, aber auch Fabelwesen, wie er sie noch nie zuvor erblickt hatte. Eines der Bilder erregte seine besondere Aufmerksamkeit. Im ersten Augenblick war er sich nicht einmal sicher, was das darauf abgebildete Etwas darstellen sollte - eine schwarze, unangenehm anzuschauende Masse, die an ein Nest sich windender Schlangen, an Spinnenbeine und glitschige Krakenarme erinnerte.

Durch einen genialen Trick hatte der Künstler sogar den Anschein von Bewegung festgehalten: Wenn man nur lange genug auf das unentwirrbare Gekringel schwarzglänzender Linien und Striche starrte, schien das Fabelwesen zum Leben zu erwachen. Es wand sich, wogte hierhin und dorthin und griff mit seinen widerwärtigen Tentakeln nach dem Betrachter, so daß Skar unwillkürlich einen halben Schritt zurückwich, ehe er sich bewußt wurde, wie albern er sich verhielt. Er lächelte, wandte sich ab und betrachtete eines der danebenhängenden Gemälde. Aber der phantastische Anblick ließ ihn nicht so rasch los. Nach einer Weile trat er erneut an das Bild, unterdrückte das dumpfe Ekelgefühl, das aus seinem Magen emporkroch, und zwang sich, jede Einzelheit des Bildes genau zu betrachten. Das Kunstwerk irritierte ihn; weniger wegen seines abscheulichen Inhaltes als vielmehr wegen seiner Andersartigkeit. Es war das einzige, das kein Motiv aus dem Waldleben oder der Stadt zeigte, das einzige Lebewesen, das nicht in die Reihe von Wald- und Fabeltieren paßte, die auf den übrigen Gemälden abgebildet waren. Trotzdem konnte sich Skar mit dem Gedanken, daß der Künstler hier seiner Phantasie einfach freien Lauf gelassen und ein nicht existentes Phantasiemonster geschaffen hatte, nicht anfreunden. Obwohl fremdartig, war das Ding - wie er es in Ermangelung eines passenden Begriffes nannte - von einer bedrückenden Realität. Er versuchte sich vorzustellen, wie es sein mußte, einer derartigen Scheußlichkeit wirklich gegenüberzustehen, aber der Gedanke erfüllte ihn mit Furcht, beinahe Panik. Angeekelt wandte er sich ab.

Coar stand hinter ihm, als er sich herumdrehte. Er hatte nicht gehört, daß sie zurückgekommen war. Trotz ihrer schweren Rüstung und der eisenbeschlagenen Reitstiefel bewegte sie sich lautlos und elegant wie eine Katze. Sie blickte an ihm vorbei auf das Bild, wandte dann ruckartig den Kopf und sah ihm ins Gesicht. »Khraäm«, sagte sie leise.

Skar brauchte endlose Sekunden, um den Sinn dieses Wortes zu begreifen. »Du ... du meinst, das sind ...?«

Coar nickte. »Du hast gefragt, warum wir die Hoger verbrennen«, antwortete sie ruhig. »Nun weißt du es.«

Skar blinzelte verwirrt, wandte sich dann widerstrebend um und starrte noch einmal auf das Bild. Der Eindruck des Lebendigen, Mörderischen verstärkte sich mit einemmal.

»Du meinst«, begann er nach einer Weile noch einmal, »die toten Hoger verwandeln sich in ... in diese Bestien?«

Coar nickte wortlos. Sekundenlang starrte sie noch an Skar vorüber auf das Bild, dann riß sie sich mit merklicher Anstrengung Ios und drehte sich um. »Logar erwartet dich«, murmelte sie. »Komm.«

Sie gingen die Treppe hinauf und durch einen zweiten, etwas kürzeren Gang, von dem mehrere Türen abzweigten. Coar deutete auf einen niedrigen, nur mit einem Vorhang verschlossenen Durchgang am Ende des Flures, ließ Skar an sich vorübergehen und folgte ihm in geringer Entfernung.

Skar trat zögernd auf die Tür zu, schlug den Vorhang beiseite und machte einen Schritt in den dahinterliegenden Raum hinein. Er war groß, rund und mit einer kuppelförmigen, bemalten Decke. Eine breite, ledergepolsterte Bank mit geschnitzten Beinen und Armlehnen zog sich kreisförmig um den gesamten Raum. Auch hier hingen - wie schon draußen in den beiden Gängen - Blumen und Bilder an den Wänden, und der Boden war mit dem gleichen kostbaren Mosaik wie dem der Flure ausgelegt. In der Mitte des kreisförmigen Raumes stand ein niedriger Tisch aus poliertem schwarzen Stein, in dessen Oberfläche ein kompliziertes Muster aus ineinander verschlungenen Linien und Strichen eingraviert war. »Logar«, sagte Coar knapp.

Skar musterte den Mann hinter dem Tisch eine Weile wortlos und nickte dann; eine Geste, deren Bedeutung überall bekannt sein mochte. Logar überraschte ihn, aber offenbar mußte er sich daran gewöhnen, daß in diesem seltsamen Land nichts seinen Erwartungen und Erfahrungen entsprach. Er hatte einen älteren Mann erwartet, etwas wie einen grauhaarigen würdigen Greis vielleicht, der die Geschicke der Stadt lenkte und alt und erfahren genug war, die Verantwortung für das Wohl ihrer Bewohner auf seinen Schultern zu tragen. Aber Logar war - wenn überhaupt - nicht viel älter als Del. Er war von kleiner, beinahe mädchenhafter Statur; hell-, beinahe weißhaarig und so schlank, daß er schon fast dürr wirkte. Seine Augen waren sqhmal und gleich denen Coars leicht geschlitzt. Ein dünner, wie mit einer feinen Tuschfeder gezeichneter Kinnbart versuchte vergeblich, seinem Gesicht einen männlichen Zug zu verleihen.

»Tretet näher, Skar«, sagte Logar, nachdem sie sich eine Weile gegenseitig gemustert hatten. Seine Stimme klang fordernd, selbstbewußt - die Stimme eines Mannes, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen -, aber nicht unfreundlich, und als Skar gehorsam nähertrat und sich nach einer entsprechenden Geste auf den freien Stuhl vor dem Tisch niedergelassen hatte, lächelte Logar sogar flüchtig.

Coar bewegte sich unruhig. Skar wandte den Kopf und warf ihr einen gleichermaßen fragenden wie beistandheischenden Blick zu. Logar war nicht so harmlos, wie er aussah, das spürte er. Einem naiven Jüngling hätte man nicht die Verantwortung über diese Stadt anvertraut. , »Coar hat mich bereits informiert, daß Ihr müde und verwundet seid, Skar«, begann Logar. »Ich werde mich kurz fassen. Aber Ihr werdet verstehen, daß wir gewisse ... Vorsichtsmaßnahmen beachten müssen. Es kommen nicht oft Fremde nach Cearn.« Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte auf und verschränkte die Hände unter dem Kinn. Es waren schmale, dünnfingrige Hände, auf denen sich die Äderchen wie dünne blaue Linien abzeichneten. Die Hände einer Frau oder eines Künstlers, dachte Skar. Nicht eines Kriegers.

»Man berichtet mir, Ihr wäret direkt aus der Wüste gekommen, Ihr und Euer Freund?«

Skar nickte.

»Ihr wußtet von Cearn?«

»Nein«, sagte Skar nach sekundenlangem Zögern. Plötzlich fühlte er eine starke innere Spannung. Von dem, was er in den nächsten Augenblicken sagte, mochte ihr beider Leben abhängen, mit Sicherheit ihr Schicksal in dieser sonderbaren Stadt. Und er spürte, daß Logar genau wußte, wie angespannt er plötzlich war. Die gelöste, fast freundschaftliche Stimmung, in der sie sich gegenüberzusitzen schienen, war nicht mehr als Staffage, eine dünne Tünche aus Floskeln und mühsam aufrechterhaltenem Schein, der weder ihn noch Coar oder Logar täuschte. Dies hier war der entscheidende Kampf, ein Schlagabtausch mit Worten und Blicken statt mit Waffen, aber trotzdem ein Kampf, der erbarmungslos bis zum Ende geführt werden würde. Und er hatte das Gefühl, von vornherein der Verlierer zu sein.

Er schüttelte den Kopf und ließ sich auf dem lehnenlosen Hokker zurücksinken, so weit es ging. »Nein«, sagte er noch einmal. »Wir wußten nichts von diesem Wald oder Eurer Stadt. Wir ... hatten bereits aufgegeben, als wir den Wald fanden. Niemand außerhalb der Nonakesh weiß von Euch, glaube ich.«

»Warum seid Ihr dann so tief in die Wüste vorgedrungen?«

Skar lachte rauh. »Freiwillig gewiß nicht, Logar. Wir hatten keine Wahl.«

»Ihr wurdet verfolgt? Von wem?«

Skar seufzte. »Von Banditen. Quorrl, genauer gesagt.«

»Quorrl?« Logar runzelte die Stirn, starrte einen Moment die Tischplatte an, als gäbe es dort etwas Besonderes zu entdecken, und hob dann ruckartig den Blick. »Was ist das: Quorrl?« fragte er.

»Ihr wißt nicht, was Quorrl sind?« Diesmal war Skars Verblüffung echt.

Zwischen Logars Brauen entstand eine steile Falte. »Die Fragen stelle ich hier, Skar«, sagte er barsch. »Nimm an, wir wissen wirklich nicht, was Quorrl sind. Oder nimm an, wir wissen es und wollen nur herausfinden, ob du die Wahrheit sprichst, das bleibt sich gleich.« Er lächelte wieder, aber diesmal war es ein bloßes Verziehen der Gesichtszüge ohne echte Bedeutung. Und Skar hatte den Eindruck, daß dies genau der Effekt war, den Logar beabsichtigt hatte.

»Quorrl ...«, begann er unsicher, »sind ... nun eben Quorrl.« Er lächelte unsicher, aber auf Logars Gesicht war nicht die geringste Reaktion auf seine Worte zu lesen. »Nomadisierende Räuber. Meuchelmörder, Banditen ... es gibt viele Namen, die auf die Fischgesichter zutreffen würden. Del und ich waren auf dem Weg nach Elay, um an einem Feldzug teilzunehmen, als wir in einen Hinterhalt gerieten. Wir mußten fliehen, aber der einzige Weg, der uns blieb, war der in die Nonakesh.« Logar nickte ein paarmal, senkte erneut den Blick und begann mit den Fingerspitzen die Linien auf der Tischplatte nachzuzeichnen. »Und dann habt ihr euch verirrt«, sagte er, ohne aufzusehen. »Ihr wart müde, verängstigt und verletzt, und ihr habt den Rückweg nicht mehr gefunden.«

»Ja. Es war ein wenig dramatischer, aber darauf läuft es wohl hinaus.«

Logar sah nun doch auf, blickte Skar lange und nachdenklich in die Augen und lächelte dann. »Dein Freund ist sehr schwer verwundet«, sagte er ruhig. »Ihr hattet kein Wasser und keine Pferde und keine Nahrungsmittel, und dein Freund war kaum kräftig genug, um aus eigener Kraft laufen zu können. Und in diesem Zustand habt ihr euch fünf Tage lang durch die Wüste geschleppt. Ihr müßt wirklich sehr gewaltige Krieger sein, dein Freund Del und du.«

Skar tauschte einen raschen Blick mit Coar, aber das Gesicht der jungen Kommandantin blieb ausdruckslos. Nur in ihren Augen stand ein warnendes Funkeln.

»Du mußt zugeben, Skar, daß deine Worte nicht sehr glaubhaft klingen«, fuhr Logar ruhig fort. In seiner Stimme war keine Feindschaft, nicht einmal Vorwurf. Und trotzdem spürte Skar, daß sein und Dels Leben nur mehr an einem dünnen Haar hingen. Einem Haar, an das Logar bereits das Messer angesetzt hatte. »Natürlich hatten wir Pferde«, sagte er unwirsch und vielleicht heftiger, als gut war. »Sie starben in der letzten Nacht, kurz bevor wir auf die Grenzen eures Reiches stießen. Wir hatten reines Glück, und ...« Er spürte, wie er mehr und mehr den Faden verlor, und brach verärgert ab, Logar irritierte ihn. Sein Verhalten paßte in kein Schema, das er kannte. Er war nicht feindselig, und seine Freundlichkeit war nicht einmal von jener distanzierten Kühle, die gegenüber einem Fremden angemessen schien, dessen Absichten und Ziele man noch nicht kannte, den man aber auch nicht verletzen wollte. Und trotzdem spürte Skar, daß Logar mit der gleichen lächelnden Ruhe, mit der er ihm einen Platz angeboten hatte, auch sein Todesurteil aussprechen würde.

»Ich weiß nicht, wofür du uns hältst«, sagte er barsch. »Aber wir sind weder Spione noch Diebe oder Räuber. Wir sind nichts als zwei erschöpfte Satai, die sich hierhergeschleppt haben und nach Ruhe und Wasser gesucht haben. Denn wir eines eurer Gesetze übertreten oder ein Tabu verletzt haben, so bitte ich um Verzeihung, und -«

Logar brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Niemand unterstellt euch so etwas«, sagte er sanft. »Aber ihr müßt verstehen, daß wir vorsichtig sind. Es kommen nicht oft Fremde nach Cearn, doch seid ihr auch nicht die ersten, denen es gelungen ist. Die Wüste - die Nonakesh, wie du sie nennst - mag schrecklich und tödlich sein, doch von Zeit zu Zeit gelingt es einem besonders Mutigen - oder Verzweifelten -, sie zu überwinden. Nicht alle, die in friedlicher Absicht zu kommen vorgaben, waren es wirklich. Und nicht alle, die es waren, blieben es.«

Skar nickte müde, obwohl er sich darüber im klaren war, wie Logars Worte wirklich gemeint waren. Sie mochten sich wie eine Entschuldigung anhören, aber sie waren es nicht. Eine Erklärung, gemischt mit - wenn überhaupt - einer winzigen Spur des Bedauerns, aber der gleichen Art des Bedauerns, die ein Scharfrichter verspüren mochte, wenn er das Schwert niedersausen ließ. Er hatte von Anfang an geargwöhnt, daß Del und er keineswegs die ersten waren, die die tödlichen Sanddünen der Nonakesh durchquert und diesen Wald gefunden hatten. Schon die Tatsache, daß Logar das Tekanda beinahe wie seine Muttersprache beherrschte, bewies diesen Verdacht. Aber der Gedanke führte einen anderen, wesentlich beunruhigenderen im Geleit. Er hatte noch nie von diesem Wald - von Cearn, Went und seinen Bewohnern - gehört, weder direkt noch in Form von Gerüchten. Dachte man den Gedanken konsequent zu Ende, so blieb nur eine einzige logische Schlußfolgerung: Daß schon viele Cearn erreicht, aber noch keiner den Rückweg gefunden hatte.

»Andererseits«, drängte sich Logars Stimme in seine Überlegungen, »berichtete mir Coar, daß du der Garde im Kampf gegen die Hoger beigestanden hast. Wenn nur die Hälfte von dem, was sie erzählt hat, stimmt, möchte ich einen Mann wie dich nicht zum Feind haben.« Sein Blick heftete sich auf den wuchtigen Griff des Sataischwertes in Skars Gürtel. »Findest du es nicht auch seltsam, daß ein Mann, der fünf Tage gedurstet hat und angeblich mehr tot als lebendig ist, wie zehn meiner besten Krieger kämpfen soll?« Skar hielt Logars Blick gelassen stand. »Du sagst es«, gab er mit absichtlicher Herablassung zurück. »Zehn deinerbesten Krieger.«

Logar zuckte zusammen, aber wenn ihn Skars Worte ärgerten, so gab er sich wenigstens Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.

»Außerdem«, fuhr Skar im gleichen Tonfall fort, »habe ich um mein Leben gekämpft, nicht um das deiner Reiter. Ich kenne weder dein Volk noch seine Gebräuche, Logar, aber dort, wo ich herkomme, ist es üblich, bis zum letzten Atemzug um sein Leben zu kämpfen. Wenn dies bei euch anders ist, bitte ich um Vergebung, daß ich mich euren Sitten in diesem Punkt nicht angeschlossen habe.« Logar lachte leise. »Du gefällst mir, Skar«, sagte er leise. »Auch wenn ich immer noch nicht weiß, ob du die Wahrheit sagst oder mir etwas vormachst. Trotzdem wirst du Verständnis dafür haben, wenn ich dich um deine Waffe bitte. Wenigstens so lange, bis beschlossen ist, was weiter mit euch geschieht. Ich verstehe Coars Gefühl dir gegenüber durchaus. Ohne dein Eingreifen wären mehr unserer Krieger gefallen, vielleicht alle. Trotzdem ist sie in ihrem Bedürfnis, ihre Dankbarkeit auszudrücken, vielleicht ein wenig zu weit gegangen.« Er stand auf, kam mit federnden Schritten um den Tisch herum und streckte auffordernd die Hand aus. Skar zog die Waffe halb aus dem Gürtel, zögerte einen Herzschlag lang und warf Logar dann mit einer trotzigen Bewegung das Tschekal zu. Logar fing die Klinge geschickt auf und legte sie in Griffweite neben sich auf den Tisch.

»Coar wird dich nun zu unserer Heilerin geleiten«, sagte er. »Danach kannst du ausruhen. Ich werde dich rufen lassen, wenn ich entschieden habe, was geschehen soll.«

Skar wollte noch etwas sagen, aber Coar trat rasch hinzu und legte ihm die Hand auf die Schulter. Ihre Finger drückten kurz und heftig zu; zu rasch, daß Logar die Bewegung sehen konnte, aber fest genug, um Skar zum Schweigen zu bringen. »Komm«, sagte sie.

Skar wandte sich zögernd um und ging auf den Ausgang zu. Er hatte sich eine Klärung der Situation erhofft, aber er war fast verwirrter als zuvor. Unter der Tür wollte er noch einmal stehenbleiben und sich zu Logar umdrehen, aber Coar versetzte ihm einen Stoß in den Rücken, der ihn durch den Vorhang und auf den Gang hinausstolpern ließ.

»Verzeih«, sagte sie halblaut, als sie ein paar Schritte gegangen und außer Hörweite Logars waren. »Aber es ist besser, wenn du jetzt nicht redest. Besser für dich.« Skar schenkte ihr einen verwunderten Blick. Bisher hatte er Coar, nicht zuletzt wegen ihres Ranges als Kommandantin der Königlichen Garde, für relativ hochgestellt gehalten. Ein Irrtum, wie er allmählich einzusehen begann. Titel und Ränge mußten nicht überall das gleiche Gewicht haben.

Sie durchquerten den Gang und gingen die kurze Treppe hinunter auf den Ausgang zu. Neben der Tür stand jetzt ein Posten; ein in dunkles Grün gekleideter Wächter mit Speer, Schild und Kurzaxt. Seine Haltung signalisierte alles andere als Wachsamkeit, und wenn er Skar auch voller Mißtrauen musterte, war der vorherrschende Ausdruck auf seinem Gesicht doch der der Langeweile.

Coar gab ihm einen knappen Wink, worauf er - ohne sonderliche Hast oder auch nur Eile an den Tag zu legen - zur Tür trat und den Riegel zurückschob. Es schien heißer geworden zu sein, seit sie das Gebäude betreten hatten. Das dichte Blätterdach Wents filterte das Sonnenlicht zu Tausenden und Abertausenden winziger gelber Lichtflecke, die wie glänzende Blumen im Gras schimmerten, aber die Luft war merklich wärmer geworden, und wenn sie auch nicht mit der mörderischen Hitze der Nonakesh zu vergleichen war, so machte sich doch bereits trotz der frühen Stunde eine drückende, unangenehme Schwüle bemerkbar, die im Laufe des Tages sicher noch schlimmer werden würde. Coar deutete wortlos nach links und ging, von einer nur schlecht verhüllten Nervosität erfüllt, voraus. Went war mittlerweile vollends erwacht. Die taufeuchte Stille des Morgens war dem Raunen und Wispern einer Stadt gewichen, in dem sich das Lärmen spielender Kinder, Rufe, Gelächter und die Laute von Menschen, die ihren Betätigungen nachgingen, mit dem Rauschen der Blätter und dem leisen, einlullenden Geräusch des Windes mischten. Aber Skar hatte keine Gelegenheit, sich mehr als einen ersten flüchtigen Eindruck von Went zu verschaffen. Coar schritt rasch vor ihm aus und geleitete ihn zu dem halbkugeligen Gebäude zurück, in das man Del und die verletzten Gardistinnen geschafft hatte. Der Weg erschien ihm länger als zuvor, aber das mochte an seiner Verwirrung liegen. Außerdem war er nicht sicher, daß sie den gleichen Weg genommen hatten wie zuvor. Went war ein Labyrinth, ein riesiger, offener Irrgarten ohne sichtbare Wände oder Mauern, aber nichtsdestoweniger ein Labyrinth, in dem er sich allein und ohne Führer wahrscheinlich schon nach wenigen Schritten hoffnungslos verirrt hätte. Coar blieb am Fuße der breiten, aus Holz und Pflanzenfasern errichteten Rampe, die zu dem in fast zehn Metern Höhe gelegenen Eingang hinaufführte, stehen. »Ich muß dich jetzt allein lassen«, sagte sie entschuldigend. »Aber du kannst beruhigt hinaufgehen. Larynn und ein paar der anderen sind oben. Sie erwarten dich.«

Skar sah unwillkürlich an sich herab. Der Riß an seiner Seite - eine gezackte, rotgeränderte Wunde, die zur Hälfte von seinem Harnisch verdeckt wurde - war von Larynns Salbe noch immer taub und schmerzte kaum. Aber er wußte auch, daß das nicht so bleiben würde. Er nickte, setzte einen Fuß auf die Rampe und blieb noch einmal stehen, als Coar sich zum Gehen wenden wollte.

»Ich hoffe, du bekommst unseretwegen keine Schwierigkeiten«, sagte er. Coar machte eine wegwerfende Handbewegung und lächelte; beides wirkte nicht echt. »Kaum. Logar macht manchmal einen sehr grimmigen Eindruck, aber er ist in Wirklichkeit nur halb so gefährlich, wie er es gerne wäre.« Sie schien selbst zu merken, wie wenig glaubhaft ihre Worte auf Skar wirkten, denn sie wechselte abrupt das Thema. »Thoranda wird sich um deine Wunden kümmern und dir einen Raum zuweisen, in dem du ruhen kannst. Ich habe Befehl gegeben, dich ungestört schlafen zu lassen, so lange du willst. Und nun geh, Skar. Ich ... habe zu tun.« Sie lächelte noch einmal, jetzt deutlich nervös und unsicher, und wandte sich dann ruckartig ab, um zu gehen.

Skar sah ihr noch eine Weile nach, ehe er die Hand nach Geländer ausstreckte und langsam die Rampe emporstieg. E eine freitragende, stützenlose Konstruktion aus wagemuti€ spannten Balken und Tauen, die alles andere als kräftig a und unter jedem seiner Schritte spürbar erzitterte. Aber er vor wenigen Augenblicken selbst gesehen, wie Coars Kriel nen mit ihren Pferden hinaufgeritten waren, ohne auch nur Sekunde zu zögern. Die Erbauer Wents mußten eine Kunstfertigkeit in der Verarbeitung von Holz und Pflanzen erlangt haben. Drinnen war es - wie schon in Logars Haus - kühl und sch Ein kleiner, vollkommen leerer Vorraum nahm ihn auf. E ein, sah sich unschlüssig um und ging dann durch die erst Tür. Dahinter lag ein niedriger, aus Bast und lebenden grünen Ranken geflochtener Gang, der nach wenigen Schritten wied vor einer Tür endete. Gedämpfte Stimmen und die Geräusch Menschen schlugen ihm entgegen. Er zog den Kopf ein, un nicht an dem niedrigen Türsturz zu stoßen, und betrat de grenzenden Raum. Er war niedrig, aber groß. Eine Handvox Coars Kriegerinnen hielt sich darin auf, und nach wenigen Al blicken gewahrte er Larynn. Sie befand sich in der Gesellsch; ner alten, in ein einfaches graues Gewand gekleideten Frag bei seinem Eintreten aufgesehen hatte und ihn nun mit unverhohlener Neugierde musterte.

Larynn löste sich aus der Gruppe und kam mit fede~ Schritten auf ihn zu. »Skar«, sagte sie. In ihrer Stimme schi~ was wie ehrliche Freude mitzuschwingen. »Wir haben bereu dich gewartet. Das«, sie deutete mit einer flüchtigen Geste an Frau, mit der sie geredet hatte, »ist Thoranda. Unsere Hei Sie wird sich um deine Wunden kümmern.«

»Das habe ich schon ein paarmal gehört, heute mor« knurrte Skar gereizt. Er wußte, daß Larynn es nur gut meinte aber zu der Erschöpfung und der Müdigkeit kamen nun noch Ungeduld und Verwirrung hinzu. Auf der einen Seite er jetzt weniger als zuvor, ob sie den nächsten Tag noch er leben würden und auf vier anderen Seite würde er umheet und eel sehen, aber dieses ständige Hin und Her war beinahe mehr, als er in seinem momentanen Zustand verkraften zu können glaubte. »Der Kratzer heilt schon von selbst«, fuhr er übellaunig fort. »Was mich im Moment mehr interessiert, ist Del. Wie geht es ihm? Wird er überleben?«

»Er wird leben«, antwortete Thoranda an Larynns Stelle. Sie hatte eine dunkle, rauchige Stimme, die so gar nicht zu ihrem graugewordenen Haar und dem schmalen Gesicht passen wollte, das mit Falten und unzähligen winzigen, wie mit einem dünnen Messer in die Haut gegrabenen Runzeln bedeckt war. Die Stimme einer jungen Frau, dachte Skar verblüfft. Es war, als hätte sich ihre Stimme geweigert, im gleichen Maße wie ihr Körper zu altern.

»Er wird leben«, sagte sie noch einmal, »und wenn er ein wenig Glück hat, wird er sogar seinen Arm wieder bewegen können. Du solltest zu euren Göttern beten, wenn ihr welche habt. Habt ihr Götter?«

Skar nickte verwirrt. »Nein«, sagte er, »das heißt - ich glaube nicht an sie. Del tut es.«

Thoranda lächelte, aber die Augen in ihrem schmalen Gesicht blieben ernst. »So bete für deinen Freund, Skar. Auch meiner Kunst sind Grenzen gesetzt.« Skar betrachtete die Heilerin genauer. Ein dumpfes Gefühl, sich falsch und dumm benommen zu haben, ergriff von ihm Besitz. Die Herren Wents mochten über ihr Schicksal entscheiden, wie sie wollten - für diese Frau waren Del und er nichts als zwei Menschen, die krank waren und Hilfe benötigten. Er senkte verlegen den Blick und fingerte unschlüssig an der leeren Schwertscheide herum. Lag es an seiner Erschöpfung, an all dem Neuen und Überraschenden, das auf ihn eingestürmt war, oder einfach an Thoranda, an der fast greifbaren Selbstsicherheit und Güte, die diese alte Frau ausstrahlte, daß mehr und mehr in ihm das Gefühl wuchs, den Boden unter den Füßen zu verlieren?

Thoranda berührte ihn sanft an der Schulter, schob seinen Arm beiseite und besah sich stirnrunzelnd den Riß über seinen Rippen. »Leg den Harnisch ab«, sagte sie bestimmt. Etwas war in ihrer Stimme, das keinen Widerspruch duldete. Skar löste die ledernen Halteriemen um Nacken und Hüfte, beugte sich leicht nach vorne und bewegte die Schultern, um den schweren Lederpanzer abzustreifen. Thoranda besah sich den Schnitt mit unbewegtem Gesicht, tastete mit geschickten Fingern über die Wundränder und verschwand dann mit schnellen Schritten im Hintergrund des Raumes, um gleich darauf mit einer hölzernen Schale voll Wasser und einem sauberen Tuchstreifen über dem Arm zurückzukehren.

»Setz dich dorthin«, sagte sie mit einer Kopfbewegung zu einer hölzernen Bank neben dem Eingang. Skar gehorchte, und Thoranda machte sich routiniert an seiner Wunde zu schaffen. Skar zuckte zusammen, als ein scharfer Schmerz wie ein winziges Messer unter seine Rippen und bis in die Schulter hinauffuhr.

Thoranda wusch die Wunde sorgfältig aus und legte einen straffen, mit einer kühlenden Salbe beschmierten Verband um seine Brust. Ihre Hände waren erstaunlich kräftig, aber sie fügten ihm nur soviel Schmerz zu, wie unumgänglich war. Skar wollte aufstehen, aber die Heilerin schob ihn mit sanfter Gewalt auf den Sitz zurück und schüttelte den Kopf. »Bleib«, sagte sie ruhig. »Ich gehe rasch ein paar Kräuter holen. Danach kannst du ruhen, wenn du möchtest.«

Skar nickte. Thoranda hockte dicht vor ihm, und obwohl er in der dämmerigen Beleuchtung des Raumes ihr Gesicht nicht deutlich zu erkennen vermochte, war er plötzlich sicher, daß sie früher einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein mußte. Ihr Haar war, obwohl grau und von ersten weißen Strähnen durchzogen, noch immer dicht und lang und verströmte einen angenehmen, harzigen Geruch, und ihre Bewegungen waren trotz ihres Alters noch flüssig und elegant. Sie stand auf, wusch sich flüchtig die Hände und verließ dann rasch den Raum.

Skar setzte sich ebenfalls auf, lehnte sich gegen die Wand und betrachtete das halbe Dutzend Gardistinnen aus zusammengekniffenen Augen. Die Mädchen unterhielten sich leise, steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, und ab und zu warf eine von ihnen einen hastigen, verstohlenen Blick zu ihm hinüber. Sie hatten ihre Rüstungen abgelegt und trugen nur noch dünne, sackähnliche Gewänder, und obwohl die meisten Verbände um Arme, Beine oder Köpfe trugen, erinnerte jetzt weder ihr Aussehen noch ihr Benehmen daran, daß diese Kinder noch vor wenigen Stunden in voller Rüstung durch den Wald gesprengt und einen Kampf auf Leben und Tod ausgefochten hatten.

Larynn kam zu ihm hinüber, ließ sich neben ihm auf die Bank sinken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Ihr Kleid raschelte, und als Skar genau hinsah, fiel ihm auf, daß der Stoff ganz gegen seinen ersten Eindruck fein und anschmiegsam wie Seide war. Das dünne Material spannte sich um ihre Schultern und ließ ihre kleinen, mädchenhaften Brüste deutlich hervortreten. Wie lange, dachte er, war es her, daß er das letzte Mal eine Frau gehabt hatte?

Er ertappte sich plötzlich dabei, daß er sie anstarrte, und senkte verlegen den Blick. Larynn lächelte, aber sie besaß Takt genug, die Situation zu überspielen. »Du warst bei Logar?«

Skar nickte. »Man merkt es wohl«, sagte er hastig.

»Logar ist ein seltsamer Mann«, nickte Larynn. »Er macht sich einen Spaß daraus, Fremden einen Schrecken einzujagen. Ich glaube, er spielt gerne den Geheimnisvollen. Urteile nicht vorschnell über ihn. Er mag manchmal seltsam erscheinen, aber er ist gerecht.«

»Er ist noch sehr jung, für einen Mann in seiner Position.«

»So alt wie Del - schätze ich«, erwiderte Larynn. Sie nahm die Arme herunter, zog die Beine unter den Körper und legte die Hände dicht nebeneinander auf die Oberschenkel. Vom kleinen Finger ihrer linken Hand fehlte das letzte Glied. Aber es war eine sehr alte Wunde, die sauber vernarbt war. »Hier bei uns zählt ein Mann nach dem, was er leistet. Ist das bei euch anders?«

Skar glaubte, eine leichte Spur von Spott in ihrer Stimme zu vernehmen, aber als er in ihr Gesicht sah, erkannte er nichts außer Neugierde.

Er lächelte. »Manchmal schon«, gestand er. »Aber hier bei euch ist vieles anders als da, wo ich herkomme.« Er unterdrückte ein Gähnen, ließ den Kopf gegen die Wand sinken und schloß die Augen. Die Müdigkeit kehrte nun mit Macht zurück, und diesmal wehrte er sich nicht dagegen. In seinen Gliedern breitete sich eine wohltuende, bleierne Schwere aus.

»Wie ist es dort, wo du herkommst?« fragte Larynn.

»Wo ich herkomme?«

»Deine Heimat. Deine Stadt.«

Skar zuckte die Achseln. »Heimat ...«, murmelte er. »Ich habe keine ... Heimat.« Larynn runzelte verwirrt die Stirn. »Aber jeder Mensch hat irgendeinen Ort, an den er gehört.«

»Mag sein«, gestand Skar. »Aber Del und ich sind Satai. Wir ... wir leben nicht an einem bestimmten Ort. Manchmal bleiben wir eine Zeit, wenn es uns irgendwo gefällt, aber meist ziehen wir durch das Land, ohne länger als ein paar Tage an einem bestimmten Ort zu bleiben.«

»Und dieses Leben macht euch Spaß?«

»Warum nicht?« sagte Skar. »Es bringt auf jeden Fall Abwechslung.«

»Und Gefahren.«

»Natürlich.« Er schwieg für einen Moment, konnte sich aber die Spitze nicht verkneifen, zu sagen: »Zumindest gibt es dort, wo wir herkommen, keine Hoger.« Thorandas Rückkehr bewahrte sie davor zu antworten. Die Heilerin kniete erneut neben Skar nieder und reichte ihm eine Schale mit einer farblosen, scharf riechenden Flüssigkeit.

»Was ist das?«

»Ein Tee aus Kräutern und Moos«, antwortete Thoranda. »Trink. Er wird dich müde machen und deinem Körper die Kraft zurückgeben, die er verbraucht hat.« Skar schob die Schale von sich weg und schüttelte den Kopf.

»Zuerst möchte ich Del sehen.«

»Trink trotzdem«, beharrte Thoranda. »Der Trank wirkt nicht sofort. Ich führe dich zu deinem Freund.«

Skar zögerte noch einen Moment, setzte dann die Schale an die Lippen und trank mit kleinen, vorsichtigen Schlucken. Trotz ihres scharfen Geruches schmeckte die Flüssigkeit mild und angenehm, und er spürte beinahe augenblicklich, wie sich ein wohltuendes Gefühl der Wärme in seinem Magen ausbreitete. Er leerte die Schale bis auf einen winzigen Rest und stellte sie neben sich auf den Boden. Dann stand er auf und sah die Heilerin auffordernd an.

Thoranda wandte sich um und forderte ihn mit einer stummen Geste auf, ihr zu folgen. Auch Larynn erhob sich und ging hinter ihm und der Heilerin her. Sie durchquerten den Raum und stiegen über eine breite Treppe nach oben. Thoranda begleitete ihn bis zu einer kleinen, dunklen Kammer dicht unter dem Dach des Gebäudes und deutete wortlos auf den Eingang.

Skar schob sich an ihr vorbei und kniete neben dem einfachen Lager aus Blättern und Stroh nieder, auf das man Del gebettet hatte. Der junge Satai schlief. Sein Gesicht glänzte noch immer fiebrig, aber sein Atem ging jetzt ruhiger. Seine verwundete Schulter war unter einem dicken Verband verborgen, der Arm war geschient und zusätzlich mit dünnen Lederriemen am Körper festgebunden, um ihn ruhigzustellen.

Er blieb lange neben dem reglos daliegenden Körper des jungen Satai hocken. Seine Augen brannten plötzlich, aber das schob er auf die Müdigkeit, die nun immer machtvoller über ihm zusammenschlug. Schließlich stand er auf, wandte sich um und trat, zu Larynn und Thoranda auf den Gang hinaus.

Die Heilerin deutete auf einen zweiten Durchgang auf der anderen Seite des Korridors. »Deine Kammer«, sagte sie. »Leg dich jetzt hin und schlafe.«

Diesmal widersprach Skar nicht.

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