Sie brauchten noch eine gute halbe Stunde, um den Fuß des Hügels und damit die Stadt zu erreichen. Schon von weitem drangen ihnen Lärm und ein aufgeregtes Durcheinander von Stimmen und Rufen entgegen, und der Weg hinauf zur eigentlichen Burg war gedrängt voll. Es gab schwerfällige Ochsenkarren, Esel, Kamele und Maultiere, die mit Vorräten, Zelten, Tonkrügen, Fässern und Kisten beladen waren und sich in einer schier endlosen Kolonne die grob gepflasterte Straße zur Festung hinaufquälten. Das Stimmengewirr wurde so laut, dass sie nicht einmal mehr dann mit Rother hätte reden können, wenn sie es gewollt hätte, und ein paar Mal wurden sie in dem Gewimmel aus Menschen, Tieren und hoch beladenen Fahrzeugen voneinander getrennt. Niemand nahm Notiz von ihnen. So auffällig ihre weißen Mäntel bisher gewesen waren, so normal war der Anblick bewaffneter christlicher Ritter hier offensichtlich. Beim Ritt durch die Siedlung bemerkte Robin, dass auf die meisten Häuser mit roter Farbe das Tatzenkreuz der Templer aufgemalt war. Sie gehörten dem Orden. Safet mochte als Sammelpunkt für die verschiedenen christlichen Heere dienen, aber diese Stadt stand ganz eindeutig unter dem Befehl der Templer. Die Häuser waren hellbraun verputzt, doch da, wo dieser Putz abbröckelte, sah man denselben Naturstein, aus dem auch die Burg gebaut war.
Vom Zeltlager her wehte Bratengeruch herüber, der Robin das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Ihr Magen knurrte hörbar und erinnerte sie daran, dass sie seit Tagen von nichts anderem als abgestandenem Wasser und schmalen Rationen lebte, die selbst ohne den anstrengenden Ritt kaum ausgereicht hätten, ihren Hunger zu stillen.
Eine hölzerne Brücke führte über einen Graben, der vor dem Burgtor in den nackten Fels geschlagen worden war. Hinter dem Fallgatter bog der Torweg scharf nach rechts ab, ein Anblick, der Robin auf schon fast unheimliche Art an den Zugang zu Sinans Bergfestung erinnerte. Der Weg führte parallel zum Burggraben wie ein Tunnel durch die meterdicke Mauer der Festung; ein gemauerter Tunnel, in dem nur trübes Zwielicht herrschte. Wie Speere aus Licht stachen einige Sonnenstrahlen durch das Dunkel. Sie fielen durch faustgroße Löcher hoch über ihnen in der gewölbten Decke, vermutlich Pechnasen, um Angreifer, die durch den Tunnel stürmten, mit siedendem Öl zu begießen. Der Hufschlag ihrer Pferde hallte laut im Tunnel wider, und nach der Hitze des Mittags war es hier drinnen angenehm kühl. Nach allem, was sie auf dem Weg hierher erlebt hatten, hätte sich Robin in dieser uneinnehmbar scheinenden Festung sicher fühlen müssen, aber das genaue Gegenteil war der Fall: Sie fühlte sich eingesperrt und gefangen, so sehr, dass sie das Gefühl hatte, kaum noch atmen zu können. Als Robins Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte sie Wächter in weißen Waffenröcken, die in den Nischen des Tunnels auf gemauerten Bänken kauerten. Die meisten schenkten den beiden Reitern mit den weißen Mänteln kaum Aufmerksamkeit, was sie im ersten Moment erleichterte; aber nur im wirklich allerersten Moment. Danach war sie erschüttert, wie leicht es in dieser Gewandung war, alle Wachen zu passieren und die Festung zu betreten.
Nach kaum dreißig Schritten machte der Tunnel eine scharfe Biegung und öffnete sich auf den Burghof. Das helle Tageslicht blendete Robin. Knechte eilten herbei, um ihr und Rother aus den Sätteln zu helfen und ihre Pferde zu versorgen, aber Robin sah im allerersten Moment nur verschwommene Schemen. Jemand sprach sie an, wandte sich dann aber mit einem wortlosen Achselzucken ab, als sie nicht antwortete, und Robin blinzelte ein paar Mal und fuhr sich schließlich mit dem Handrücken über die Augen, um die Tränen fortzuwischen. Sie spürte, wie sie dabei auch den Schmutz und Staub auf ihrem Gesicht noch weiter verschmierte, tröstete sich aber damit, dass der Unterschied wahrscheinlich kaum noch auffiel.
Der Hof war voller Menschen. Gesinde, Männer in leinenen Bußgewändern und barfuss, Ritter und Turkopolen, Waffenknechte in Waffenröcken aller Farben. Auf der linken Seite des Hofes lagen die Stallungen. Eine breite Treppe führte hinauf zum östlichen Wehrgang. Genau gegenüber des Ausgangs aus dem Tortunnel lag eine kurze Treppe, die hinauf zum mit prächtigen Steinmetzarbeiten versehenen Torbogen des Hauptportals des Palas führte, dem Wohnbereich der Burg.
Besonders ins Auge sprang Robin jedoch eine Sänfte aus dunklem Holz, die mit scharlachroten Vorhängen verhängt war. Eine Gruppe junger, ausnehmend schöner Männer saß in der Nähe auf dem nackten Boden oder den Treppenstufen. Sie trugen Wämser, auf die das goldgelbe Kreuz des Königreichs Jerusalem gestickt war. Dicht bei der Sänfte standen Ritter in voller Montur - langes Kettenhemd, schwarzer Schild, schwarzer Waffenrock. Ihre Gesichter waren verdeckt durch ein feinmaschiges, ebenfalls schwarzes Kettengeflecht, das unter dem Nasenschutz ihrer normannischen Helme eingehakt war. Im allerersten Moment dachte Robin an Johanniter und wunderte sich ein wenig, diese Ordensritter inmitten einer Templerburg zu sehen. Dann bemerkte sie, dass die Ritter kein weißes Kreuz auf dem Waffenrock trugen, wie es bei den Johannitern üblich war. Auch schien sich niemand in die Nähe dieser schwarzen Ritter oder der Sänfte zu wagen. Knechte wie Ritter machten einen weiten Bogen um die Schwarzgewandeten, wenn ihr Weg sie über diesen Teil des Hofs führte.
Rother warf ihr einen warnenden Blick zu, auf den sie aber nur mit einem hilflosen Schulterzucken antworten konnte. Sie wusste nicht, wer diese Männer waren, aber ganz offensichtlich gefielen sie ihm ebenso wenig wie ihr. Rother wirkte weiter unschlüssig, während Robin ihr Unbehagen abschüttelte - schließlich waren sie hier in einer Ordensburg! - und den Fremden neugierig entgegenging, als der Vorderste plötzlich herumfuhr, mit einer hölzernen Rassel herumlärmte und mit heiserer Stimme »Unrein! Unrein!« rief.
Erschrocken zuckte Robin zurück. Die rechte Hand des Ritters war mit Verbänden umwickelt und wirkte unförmig, als wären die Finger unter dem schmutzigen Stoff deutlich dicker als die der anderen Hand oder als hätte er mehr Finger, als er haben sollte ... Seine Rassel war mit einer groben Schnur an der Hand festgebunden. Das Gesicht des schwarzen Ritters war nicht zu sehen, denn er trug einen Gesichtsschutz aus Kettengeflecht, der nur die Augen freiließ.
Eine Hand griff nach Robins Schulter. Sie wurde ruckartig zurückgezogen und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren. Mit hastig rudernden Armen fand sie ihre Balance wieder, fuhr noch in der gleichen Bewegung heraus auf dem Absatz herum und wollte wütend auffahren, machte aber dann nur ein überraschtes Gesicht. Es war niemand anderer als Rother, der sie so unsanft zurückgerissen hatte. »Was ...?«
»Du solltest diesen Rittern besser nicht zu nahe kommen«, sagte Rother rasch. Er zog die Hand zurück; so hastig, als wäre es ihm unangenehm, sie berührt zu haben, und wich rasch um einen weiteren Schritt zurück.
»Was soll das?«, fragte Robin verärgert. »Wer sind diese Männer? Und wieso glauben sie, ich wäre unrein?«
Rother lächelte flüchtig. »Nicht du«, sagte er. »Sie sind unrein. Niemand darf ihnen nahe kommen. Sie wollten dich warnen.«
»Warnen?« Robin sah verwirrt über die Schulter zu dem Ritter in Schwarz zurück, der seinen Weg unbeeindruckt fortsetzte.
»Wovor?«
»Das sind Ritter vom Orden des Heiligen Lazarus«, antwortete Rother. »Du hast noch nie von ihnen gehört?« Robin verneinte, und Rother fuhr mit einer erklärenden Geste - und einem übertrieben geschauspielerten Schaudern und einer entsprechenden Grimasse - fort: »Sie alle haben die Lepra. Du darfst ihnen nicht nahe kommen. Alles, was sie berühren, wird unrein.«
Robin wollte antworten, doch in diesem Augenblick öffnete sich das hohe Tor des Palas. Eine Gruppe Männer kam die Treppe herab, angeführt von einer schlanken Gestalt in einem prachtvollen roten Waffenrock, den zwei Ritter vom Orden des Heiligen Lazarus stützen mussten.
»Wer ist das?«, fragte Robin stirnrunzelnd. »Noch ein leprakranker Ritter?«
»König Balduin«, flüsterte Rother. Seine Stimme bebte vor Ehrfurcht.
Robin fuhr überrascht zu ihm herum. Ihr Blick irrte unstet zwischen Rother und der ausgemergelten Gestalt zwischen den beiden Lazarusrittern hin und her. »König Balduin?«, wiederholte sie ungläubig. Diese Jammergestalt? Sie war trotz ihrer Überraschung klug genug, diese letzten beiden Worte nicht laut auszusprechen, aber irgendwie schien Rother sie trotzdem zu hören, denn aus seinem Gesicht wich auch noch das allerletzte bisschen Farbe, und in seinem Blick erschien ein Ausdruck puren Entsetzens. Er sagte kein Wort, aber er blickte Robin fast flehend an, nicht weiterzusprechen. Als Robin sich wieder zur Treppe umwandte, sah sie aus den Augenwinkeln, wie sich Rother auf das linke Knie hinabsinken ließ und demütig das Haupt senkte; und nicht nur er. Rasch und so gut wie lautlos sank - mit Ausnahme der Ritter in den schwarzen Rüstungen - jedermann auf dem Hof auf die Knie, bis sie selbst praktisch die Einzige war, die noch aufrecht stand.
Hastig holte sie ihr Versäumnis nach, aber möglicherweise doch nicht schnell genug, denn nicht nur Rother starrte sie weiter beinahe verzweifelt an. Hier und da drehte sich ein Kopf in ihre Richtung. Stirnen wurden strafend gerunzelt, und Robin glaubte die missbilligenden Blicke, die sie in den Rücken trafen, beinahe körperlich zu spüren. Und das Schlimmste war, dass auch die ausgemergelte Gestalt in dem roten Wappenrock den Kopf drehte und kurz in ihre Richtung sah. Ihr Gesicht war durch einen Schleier verhüllt, sodass Robin nur einen schmalen Streifen seiner Stirn erkennen konnte, die blass wie Marmor war. Dennoch glaubte sie seinen Blick durch den feinmaschigen Stoff des Schleiers hindurch zu spüren, und für einen winzigen Moment war sie vollkommen sicher, dass Balduin seinen Weg unterbrechen und sie ansprechen würde. Aber der König ging an ihr vorüber, ohne auch nur im Schritt zu stocken, und Robin schalt sich in Gedanken eine Närrin. Sie nahm sich eindeutig zu wichtig. Für den König war sie nur ein Ritter unter Dutzenden hier auf dem Hof, wenn nicht Hunderten. Warum sollte er sie ansprechen?
Der König und seine beiden Begleiter waren nicht allein aus dem Haus gekommen. In einigem Abstand folgten ihnen eine Gruppe weltlicher Ritter in bunten Waffenröcken sowie einige Templer in vollem Ordensornat, bei deren Anblick Robins Herz unwillkürlich schneller zu schlagen begann.
Rother nickte verstohlen in Richtung des vordersten Templers, eines hoch gewachsenen Mannes mit asketischem, fast schon ausgezehrt wirkendem Gesicht, dessen schwarzes Haar an den Schläfen bereits grau zu werden begann. »Odo von Saint-Amand«, flüsterte er. »Unser Großmeister. Und der grimmig Blickende hinter ihm ist Gerhard von Ridefort, der Ordensmarschall.«
Also hatte Dariusz nicht übertrieben, dachte Robin. Ganz offensichtlich war die gesamte Führungsspitze des Ordens hier zusammengekommen; und wohl nicht nur des Templerordens.
Ein Ritter im gelben Waffenrock, dessen Wappen eine zersprengte Kerkerkette zeigte, lachte schallend auf, als hätte er ihre Verblüffung bemerkt und amüsiere sich köstlich darüber. Was natürlich der pure Unsinn war. Robin saß mittlerweile wie alle anderen auf ein Knie herabgesunken und mit gesenktem Haupt da und beobachtete ihn und die anderen Ritter verstohlen aus den Augenwinkeln. Dennoch fiel ihr auf, wie sehr sich dieser Ritter von den meisten Männern hier unterschied. Nahezu alle anderen Gesichter (einschließlich ihres eigenen, wie sie vermutete) waren verhärmt und ausgezehrt, von den Spuren überstandener Strapazen gezeichnet oder vernarbt. Sie sah nirgendwo ein Lächeln oder auch nur einen Ausdruck wirklicher Zuversicht - außer auf dem Gesicht dieses Mannes. Es war nicht nur sein Lachen, das auf dem plötzlich so still gewordenen Burghof ungewohnt und beinahe störend wirkte. Er selbst strahlte eine Zuversicht und Kraft aus, die Robin selbst über die Entfernung hinweg spürte.
»Wer ist das?«, fragte sie im Flüsterton.
»Rainald de Châtillion«, antwortete Rother ebenso leise.
»Fürst von Oultrejourdain und sicher einer der tapfersten Ritter des Königreichs. Kaum jemand hat so viele Heiden erschlagen wie er.« Obwohl er flüsterte, konnte Robin deutlich die Begeisterung in seiner Stimme hören, die Rother allein beim Klang dieses Namens verspürte. Und auch wenn sie selbst noch nie von diesem angeblich so tapferen Recken gehört hatte, glaubte sie Rother fast zu verstehen.
Rainald de Châtillion war ihr praktisch auf Anhieb sympathisch - was sie fast ebenso unmittelbar mit einem heftigen schlechten Gewissen erfüllte. Er war von stattlicher Statur und hatte schulterlanges, hellblondes Haar, das im hellen Licht der Nachmittagssonne fast weiß schimmerte, und alles an ihm schien pure Lebenskraft und Energie auszustrahlen. Er war nicht einmal wirklich so groß, wie Robin im allerersten Moment geglaubt hatte, aber die unbändige Kraft, die er ausstrahlte, ließ jeden anderen Mann in seiner Nähe seltsam klein wirken. Seinem wettergegerbten Gesicht sah man deutlich an, dass er schon lange unter der Sonne des Orients lebte.
Abermals meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Auch wenn es ihr selbst fast albern vorkam, so hatte sie doch das absurde Gefühl, sich irgendwie gegen Salim zu versündigen, wenn sie diesen gut aussehenden jungen Ritter auch nur zu lange ansah. Und außerdem war da noch Rother. Auch wenn Robin nicht einmal in seine Richtung sah, konnte sie seine Blicke doch fast körperlich spüren. Auch wenn er sich mit ihrer Erklärung über ihre Beziehung zu Salim zufrieden gegeben hatte, so war sein Misstrauen doch noch lange nicht endgültig zerstreut. Besser, sie ließ ihn nicht zu deutlich sehen, wie sehr sie einen Mann bewunderte ...
Als sie wieder in Richtung der Sänfte blickte, stemmten die hübschen Jünglinge die Sänfte des Königs gerade in die Höhe, und der Zug verließ, begleitet von den unheimlichen schwarzen Rittern des Lazarusordens, den Burghof. Robin atmete innerlich auf, auch wenn sie die Erleichterung, die sie beim Anblick der abziehenden Ritter überkam, selbst nicht ganz verstand. Sie hatte das unheimliche Gefühl gehabt, dass etwas Schreckliches geschehen würde, wenn sie noch lange in der Nähe des Königs und seiner unheimlichen Begleiter bliebe.
»Wir müssen Bruder Horace suchen.« Rothers Stimme holte sie in die Wirklichkeit zurück, während er ächzend aufstand und sich den Staub vom Knie klopfte; was angesichts seines vollkommen verdreckten Aufzuges einigermaßen lächerlich wirkte. »Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren. Bruder Dariusz wartet auf die Pferde und saubere Kleider.«
»Das wäre ja fast ein Grund, sich erst einmal in aller Ruhe die Burg anzusehen«, antwortete Robin, wurde aber sofort wieder ernst, als sie Rothers Blick begegnete. Sie deutete auf den Torbogen, durch den der König verschwunden war.
»Was ist mit ihm?«
»Mit wem?«
»Balduin«, antwortete Robin. »Der König. Was fehlt ihm?«
Der Ausdruck von Verständnislosigkeit auf Rothers Gesicht nahm eher noch zu. »Du ... weißt nicht, dass der König krank ist?«
Robin schüttelte den Kopf. »Ich war in den letzten beiden Jahren ... anderweitig beschäftigt«, sagte sie. Und in der Zeit davor hatte sie sich wenig für den König interessiert; so wenig, wie sie es auch im Grunde jetzt noch tat. Die Könige von Outremer wechselten so schnell, dass es sich kaum lohnte, sich ihre Namen zu merken. Dennoch hatte sie gehört, dass es um König Balduins Gesundheit nicht zum Besten stand. Nicht umsonst nannte man ihn auch (hinter vorgehaltener Hand) überall den kranken König. Aber das ...
»Du weißt es wirklich nicht«, sagte Rother, der nun ehrlich verblüfft klang. Er senkte die Stimme. »Der König hat Lepra.«
Robin riss ungläubig die Augen auf. »König Balduin ist aussätzig?«, entfuhr es ihr.
Rother gestikulierte ihr hastig zu, leiser zu sprechen. »Du solltest dieses Wort vielleicht besser nicht verwenden.« Er fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und wich ihrem Blick aus. »Sprich mit Bruder Dariusz darüber, wenn du willst, aber jetzt lass uns unseren Auftrag erfüllen.«
Sie betraten den Palas über die Außentreppe. Rother bewegte sich schnell und so sicher, dass Robin nicht daran zweifelte, dass er den Weg kannte. Er war nicht zum ersten Mal hier. Robin wurde mehr und mehr bewusst, wie wenig sie im Grunde über den jungen Tempelritter wusste. Sie hatte nie darüber nachgedacht, warum Dariusz ausgerechnet Rother und sie nach Safet vorausgeschickt hatte, immerhin die beiden jüngsten und unerfahrensten Mitglieder seiner kleinen Truppe, aber zumindest was Rother anging, hatte sie nun die Antwort. Rother war nicht nur eindeutig schon einmal hier gewesen, sondern kannte sich ganz offensichtlich aus; die Schritte, mit denen er vorauseilte, waren die selbstverständlichen, zielsicheren Bewegungen eines Menschen, der sich auf vertrautem Terrain bewegt. Robin fragte sich, ob das nur auf die Baulichkeiten zutraf.
Im Inneren des Gebäudes war es kühl und so dunkel, dass Robin ohne Rothers Führung vollkommen hilflos gewesen wäre. Die Ritter, die ihnen entgegenkamen - ausnahmslos Templer - trugen hier drinnen weder Kettenhemden noch Wappenröcke, sondern schlichte, lange Gewänder, mit einer groben Schnur anstelle eines Gürtels. Sie sahen eher aus wie Mönche. Keiner von ihnen war bewaffnet.
Als sie das Treppenhaus erreichten, stieg Essensduft von unten zu ihnen herauf. Robins Magen knurrte erneut und diesmal so laut und nachhaltig, dass Rother im Gehen über die Schulter zurücksah und ihr einen amüsierten Blick zuwarf.
»Nicht mehr lange«, sagte er. »Wir reden mit Bruder Horace und überbringen ihm Dariusz’ Wünsche, und danach wird man uns sicher etwas zu essen geben.«
Robin lächelte matt. »Sieht man es mir so deutlich an?«
»Dass du Hunger hast?« Rother schüttelte den Kopf und verlangsamte seine Schritte gerade weit genug, damit sie zu ihm aufschließen konnte. »Nein. Aber du hast in den letzten Tagen noch viel weniger gegessen als ich. Und ich sterbe vor Hunger.«
Robin sah ihn nachdenklich an. »Du hast mich ziemlich aufmerksam beobachtet, wie? Hat Bruder Dariusz dir den Auftrag dazu erteilt?«
»Jedem von uns wird ein anderer Bruder zugewiesen, den er im Auge behält«, sagte Rother ausweichend.
»Das ist keine Antwort«, sagte Robin.
»Und wenn?«, fragte Rother trotzig.
Diesmal war es Robin, die ihm die Antwort schuldig blieb. Vielleicht wollte sie sie gar nicht wissen. Von allen, die sie seit ihrem Weggang aus dem Fischerdorf getroffen hatte, war Rother der Einzige, für den sie so etwas wie Sympathie empfand, und vielleicht sogar ein bisschen mehr, denn er war zugleich auch der Einzige, der ihr nicht mit Misstrauen oder unverhohlener Verachtung begegnet war. Der Gedanke, dass sein freundliches Verhalten nichts anderes als Kalkül gewesen sein sollte, schmerzte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte.
Endlich erreichten sie einen schmalen Gang mit Schießscharten auf der einen Seite und drei Türen auf der anderen. Rother klopfte an eine dieser Türen. Eine Stimme drang dumpf durch das dicke Holz. Robin konnte die Worte nicht verstehen, und sie bezweifelte auch, dass Rother es tat. Dennoch schien ihm diese Antwort zu genügen, denn er schob den Riegel zurück und trat, ohne zu zögern, in den dahinter liegenden Raum. Robin folgte ihm.
Genau zwei Schritte weit, bevor sie so plötzlich stehen blieb, als wäre sie gegen ein unsichtbares Hindernis gelaufen. Ihr Atem stockte, und sie konnte selbst spüren, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich, während sie den Komtur von Safet anstarrte, der in einem hochlehnigen Stuhl hinter einem niedrigen Tisch saß und ihr ruhig entgegensah.
Wie oft hatten Bruder Dariusz und Rother den Namen des Komturs von Safet genannt und wie oft hatte sie ihn gehört und - obwohl er ungewöhnlich genug war - nicht verstanden?
»Bruder ... Horace ...?«, murmelte sie fassungslos. Ihr Herz begann zu klopfen.
»Das ist richtig«, antwortete Horace. Sein Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos, und selbst in seinen Augen zeigte sich allenfalls eine Spur vager Neugier, während er den Kopf auf die Seite legte und sie mit einem raschen Blick von Kopf bis Fuß taxierte. Robin suchte vergeblich nach irgendeiner Spur von Erkennen in seinem Blick. »Und Ihr seid ...?«
»Ich bin Bruder Rother«, antwortete Rother, bevor Robin Gelegenheit fand, selbst etwas zu sagen. Mit einer entsprechenden Handbewegung (und einem raschen, deutlich verwirrten Blick in Robins Richtung) fügte er hinzu: »Das ist Bruder Robin.«
Horace blickte Robin noch einen halben Herzschlag lang mit unveränderter Miene an, bevor er sich mit deutlicher Anstrengung von ihrem Anblick losriss und zu Rother umdrehte. Ein fast nur angedeutetes Stirnrunzeln erschien auf seinem Gesicht, und auch der Tonfall seiner Stimme schien sich um eine Winzigkeit zu ändern und klang nun ganz leicht missbilligend. »Und was führt Euch zu mir, Bruder?«
Rother wirkte im allerersten Moment fast hilflos. Ganz offensichtlich hatte er eine andere Begrüßung erwartet, und ebenso offensichtlich war er nicht nur verstört über Horaces Reaktion, sondern auch ein wenig verärgert. Er sah noch einmal rasch zu Robin hin (war das Vorwurf, was sie plötzlich in seinen Augen las?), bevor er sich wieder an den Komtur wandte und mit einer tiefen, dennoch aber nicht übermäßig respektvoll wirkenden Verbeugung fortfuhr. »Verzeiht, dass wir Euch ohne Anmeldung stören. Ich weiß, dass Ihr ein viel beschäftigter Mann seid, und im Augenblick wohl noch mehr als sonst. Aber ich habe eine persönliche Botschaft von Bruder Dariusz für Euch.«
»Dariusz?« In Horaces Augen leuchtete nun doch ein schwaches Interesse auf. Er beugte sich leicht in seinem Stuhl nach vorn und legte den Kopf auf die andere Seite. Wieder streifte sein Blick flüchtig Robins Gesicht, und diesmal war sie vollkommen sicher, nicht die mindeste Spur von Wiedererkennen oder irgendeinem anderen Gefühl darin zu lesen. Konnte es sein, dass Horace sie nicht erkannte? Das konnte sich Robin nur schwer vorstellen. Sie selbst hatte im allerersten Moment alle Mühe gehabt, sich ihre Überraschung - und ihre Wiedersehensfreude! - nicht zu deutlich anmerken zu lassen, und vermutlich hätte Rother beides dennoch bemerkt, hätte er ihr in diesem Moment direkt ins Gesicht geblickt. Sicher, es war gute zwei Jahre her, dass Horace und sie sich das letzte Mal gegenübergestanden hatten. Seit dem Gefecht auf der Sankt Christophorus hatte Robin ihn nicht mehr gesehen; so wenig wie irgendeinen anderen der Ritter, die zusammen mit ihr in Genua an Bord des Schiffes gegangen waren. Er war deutlich älter geworden; viel mehr als die zwei Jahre, die seither ins Land gegangen waren. Sein Gesicht war schmaler geworden und wirkte nun wie das eines Raubvogels. Er hatte graue Schläfen bekommen, und viel von der Wärme und Herzlichkeit, die Robin früher in seinen Augen gelesen hatte, war nun etwas anderem gewichen, von dem sie gar nicht so genau wissen wollte, was es war.
Dennoch zweifelte sie nicht einen Moment lang daran, dass er sie ebenso erkannt hatte wie sie umgekehrt ihn. Was ging hier vor?
»Bruder Dariusz, ja«, bestätigte Rother, der seine gewohnte Ruhe und Selbstsicherheit nun rasch wiederfand. »Er befindet sich zusammen mit einem kleinen Heer weltlicher Ritter und freiwilliger Kämpfer auf dem Weg nach Safet. Sie sind noch einen halben Tagesritt entfernt.«
Horace hob die Hand und unterbrach ihn. »Lasst mich raten, Rother. Er hat Euch vorausgeschickt, um für ihn und Eure Brüder frische Kleider zu holen und alles für ihr Eintreffen hier vorzubereiten.«
Rother wirkte ein ganz kleines bisschen verwirrt. »Ja«, bestätigte er, »aber hier ...«
»Wenn das so ist, muss ich Euch enttäuschen«, fiel ihm Horace erneut ins Wort. Er lächelte dünn, schüttelte zugleich aber auch den Kopf. »Ich fürchte, uns stehen weder die Mittel noch das Personal zur Verfügung, Bruder Dariusz den Empfang zu bereiten, der ihm und seinen Begleitern zweifellos gebührt. Dariusz wird das verstehen, wenn er erst einmal hier eingetroffen ist.«
Rother wand sich wie ein getretener Wurm. »Verzeiht, Bruder Horace«, sagte er fast gequält. »Aber das ist es nicht allein.«
»Nein?« Horaces linke Augenbraue rutschte ein Stück weit an seiner Stirn nach oben. Sein Gesicht blieb weiterhin vollkommen unbewegt. »Sondern?«
»Ich fürchte, ich muss Euch um ein Dutzend Pferde für Dariusz und den Rest unserer Brüder bitten«, antwortete Rother voll unübersehbaren Unbehagens. Sein Blick wanderte unstet über den Boden, den Tisch, selbst die Armlehnen des Stuhles, auf dem Horace saß, hütete sich aber, dem Blick des hochrangigen Tempelritters zu begegnen. »Bruder Robins Stute und mein Hengst waren die einzigen Pferde, über die wir noch verfügten.«
»Was ist geschehen?«, erwiderte Horace, zwar noch immer mit ungerührtem Gesicht, aber nun in hörbar interessierterem, vielleicht alarmiertem Ton.
»Ein Hinterhalt«, antwortete Rother. Robin hatte Mühe, ihn nicht überrascht anzusehen, und Horace zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen.
»Ein Hinterhalt?«, wiederholte er. »Es fällt mir schwer zu glauben, dass ein Mann wie Dariusz in einen Hinterhalt reitet. Berichtet, Bruder.«
Rother gehorchte. Mit wenigen Worten erzählte er, was sie in dem niedergebrannten Dorf vorgefunden hatten und was danach geschehen war. Zu Robins nicht geringer Überraschung hielt er sich dabei Wort für Wort an die Wahrheit, auch wenn Dariusz bei dieser Schilderung vielleicht nicht so gut wegkam, wie er es sicherlich gerne gehabt hätte. Sie hatte fest damit gerechnet, dass Rother das Verhalten seines Ordensbruders in einem besseren Licht schildern würde, aber er blieb bei den Tatsachen, und er ließ auch seine (und Robins) persönliche Einschätzung am Schluss nicht aus, dass sie es einzig purem Glück und dem verfrühten Eintreffen der Nachhut zu verdanken hatten, dass die improvisierte Schlacht nicht einen noch viel schlimmeren, blutigen Ausgang für die Tempelritter genommen hatte. Horace hörte schweigend zu, aber sein Mienenspiel und sein Blick, der sich mit fast jedem Wort, das ihm zu Gehör kam, weiter verfinsterte, ließ keinen Zweifel daran, was er von Dariusz’ wenig weitsichtiger Strategie hielt. Als Rother zu Ende gekommen war, schwieg er eine geraume Weile, und für dieselbe Zeit schien sein Blick geradewegs durch den jungen Tempelritter hindurchzugehen und sich auf einen Punkt irgendwo im Nichts zu richten. Schließlich seufzte er tief, räusperte sich und ließ sich wieder in seinen Stuhl zurücksinken. Das schwere Möbelstück aus uraltem Holz ächzte hörbar.
»Ja, das klingt ganz nach meinem alten Freund Dariusz«, sagte er. »Ich danke Euch, dass Ihr Euch bei der Schilderung der Ereignisse an die Wahrheit gehalten habt, Bruder Rother - auch, wenn Dariusz Euch zweifellos aufgetragen hat, es damit in diesem einen Fall vielleicht einmal nicht ganz so genau zu nehmen.«
Er hob die Hand, als Rother widersprechen wollte. »Nichts anderes als das, was Ihr mir gerade berichtet habt, hätte ich geglaubt, Rother. Und nun verlangt Dariusz selbstverständlich nach frischen Pferden und sauberen Mänteln für seine Männer. Ein Mann wie er kann schwerlich auf einem Maultier in die Burg einreiten, und noch dazu in einem zerrissenen Mantel.« Er schüttelte seufzend den Kopf. »Obwohl ich versucht bin, ihn genau das tun zu lassen. Möglich, dass er danach ein wenig über die Bedeutung des Wortes Hochmut nachdenkt.« Er seufzte erneut. »Aber keine Sorge, Rother. Natürlich werde ich es nicht tun. Und ich werde ihm auch nichts von unserem Gespräch berichten, sondern mir seine Version der Geschehnisse anhören. Macht Euch keine Sorgen.«
»Das ist sehr freundlich von Euch, Bruder«, begann Rother, »aber ich ...«
Horace unterbrach ihn abermals, indem er mit einer unerwartet raschen Bewegung aufstand. »Nun gut«, seufzte er. »Dann geht hinunter zum Stallmeister, Rother. Sagt ihm, dass er Euch so viele Pferde geben soll, wie Ihr braucht. An frischer Kleidung herrscht im Moment leider ein gewisser Mangel. Dafür gibt es umso mehr blutige Mäntel, die auf einen neuen Besitzer warten.«
Sein Blick wurde hart, und auch wenn diese Härte ganz gewiss nicht Rother galt, schien der junge Ritter darunter doch sichtlich zusammenzuschrumpfen. »Bruder Dariusz wird die Schmach überstehen, so in die Stadt einzureiten, als käme er vom Schlachtfeld.« Er wedelte, plötzlich fast ungeduldig, mit der Hand. »Du bist entlassen, Bruder Rother. Geh und richte dem Stallmeister meine Worte aus, und danach fragst du nach Marius, meinem persönlichen Mundschenk. Er soll dir und Bruder Robin so viel zu essen geben, wie ihr wollt. Ich bin sicher, ihr habt einen anstrengenden Ritt hinter euch.«
Rother schien noch etwas sagen zu wollen. Einen Moment lang rang er sichtlich mit sich selbst, dann aber nickte er nur knapp, verbeugte sich tief und entfernte sich rückwärts gehend. Als er bei der Tür angekommen war und sich umwandte, wollte auch Robin folgen, aber Horace hielt sie mit einer raschen Geste zurück.
»Bruder Robin - bleibt.«
Robin sah ihn überrascht an, und auch Rother hielt mitten in der Bewegung inne und blickte irritiert über die Schulter zurück. Diesmal war sie sicher, sich das misstrauische Funkeln in seinen Augen nicht nur einzubilden.
»Ich habe noch einige Fragen an dich, bevor uns die Glocke zum Gebet ruft«, sagte Horace.
Rother starrte ihn und Robin noch immer abwechselnd und mit immer größer werdender Verwirrung an, bis Horace demonstrativ den Kopf wandte und ihm einen kurzen, aber eisigen Blick zuwarf. Dann führte er seine unterbrochene Bewegung hastig zu Ende, trat aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Robin wollte etwas sagen, doch Horace gebot ihr mit einer raschen Geste, still zu sein, war mit drei schnellen Schritten an der Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Wie eine Küchenmagd, die sichergehen will, nicht beim neuesten Klatsch und Tratsch belauscht zu werden, lugte er auf den Gang hinaus, schloss die Tür erst nach einer geraumen Weile wieder und sehr leise und legte den Riegel vor. Einen Moment lang blieb er vollkommen reglos stehen, bevor er sich umdrehte und sie mit einem ebenso langen wie undeutbaren Blick maß.
»Bruder Robin«, murmelte er. »Oder sollte ich besser sagen ... Schwester?«
»Horace?«, murmelte Robin verständnislos.
Horace seufzte. »Wenn man ein Unheil nicht ausmerzt, dann wird es einen immer wieder einholen«, sagte er kopfschüttelnd.
»Bruder Abbé hatte Recht.«
»Bruder Horace?«, fragte Robin erneut; und mittlerweile vollkommen verstört. Sie wusste einfach nicht mehr, was sie von Horaces sonderbarem Benehmen halten sollte.
Der Komtur deutete durch nichts an, ob er Robins Verwirrung bemerkte oder nicht. Robin vermochte seinem Blick nicht standzuhalten. »Ich habe behauptet, du hättest den Anstand gehabt, zusammen mit der Sankt Christophorus unterzugehen«, sagte er. »Er beharrte darauf, du würdest das nicht tun.« Er seufzte. »Er hatte Recht.«
»Bruder Horace?«, murmelte Robin zum dritten Mal. Ihre Stimme zitterte. Ihr Blick glitt mit wachsender Verunsicherung über Horaces Gesicht und blieb schließlich an seinen so gnadenlos erscheinenden, durchdringenden Augen hängen, in denen noch immer nicht das geringste Gefühl zu erkennen war. »Ich ... ich verstehe nicht ...«
»Was?«, unterbrach sie Horace. Sein Gesicht blieb vollkommen starr und unbewegt. »Wenn sich jemand einen Spaß mit dir macht?« Und plötzlich begann er zu lachen, trat auf sie zu und schloss sie so ungestüm in die Arme, dass ihr die Luft wegblieb.
Robin stand ein paar Augenblicke lang wie gelähmt da, bis Horace sie wieder losließ und hastig einen Schritt zurückwich. Augenscheinlich war ihm seine kleine Entgleisung peinlich, denn er trat einen Moment lang unbehaglich von einem Bein auf das andere und wich ihrem Blick aus, aber Robin sah trotzdem, dass die Härte aus seinem Blick verschwunden war und einem amüsierten Funkeln Platz gemacht hatte; und einem Ausdruck so tiefer Erleichterung und Freude, wie sie es bei diesem unerbittlichen Mann niemals erwartet hätte.
»Bitte verzeih«, sagte er und räusperte sich unbehaglich. »Ich war ...«
»Überrascht?«, schlug Robin vor, als Horace nicht weitersprach.
Der Tempelritter schüttelte den Kopf. »Unendlich erleichtert, dich lebend wiederzusehen«, sagte er, »und allem Anschein nach zumindest äußerlich unversehrt. Du bist doch unversehrt, oder?«
Robin hatte nicht das Gefühl, dass Horace tatsächlich eine Antwort auf diese Frage erwartete, und selbst wenn es so gewesen wäre - sie hätte in diesem Moment gar nichts sagen können. Ihre Verwirrung hatte ein Ausmaß erreicht, das ihr fast körperlich den Atem nahm. Sie deutete nur ein Nicken an, das Horace aber als Antwort vollkommen zu genügen schien, denn der Ausdruck von Verlegenheit wich nun endgültig von seinen Zügen.
»Das ist gut«, sagte er. »Ich danke Gott, dass er so gut auf dich acht gegeben hat.« Er schlug das Kreuzzeichen vor Brust und Stirn. »Wir alle waren in großer Sorge, als wir hörten, dass du dich in der Gewalt des Alten vom Berge befindest.«
Robin starrte ihn an. Es dauerte einen Moment, bis ihr wirklich klar wurde, was Horace da gerade gesagt hatte. »Ihr ... ihr habt gewusst, dass ich noch lebe?«
Nun trat ein fast amüsiertes Funkeln in die Augen des hoch gewachsenen Tempelritters. »Gott achtet auf jedes einzelne seiner Schäfchen«, antwortete er. »Und wir auch.«
»Seit wann?«, entfuhr es Robin. Dann wurde ihr klar, wie leicht es wäre, diese Frage falsch zu verstehen, und sie fügte fast hastig hinzu: »Ich meine: Seit wann habt ihr es gewusst?«
»Wir haben nach dir gesucht«, antwortete Horace. »Hätte dieser Sklavenhändler dich nicht weggeschafft, wären wir zwei Tage später bei dir gewesen. Als uns zu Ohren kam, dass seine Karawane von Assassinen überfallen worden ist, haben wir schon das Schlimmste befürchtet.« Sein Blick wurde ganz leicht spöttisch.
»Aber wie es aussieht, hat sich ja alles zum Besten gewendet.«
Robin schwieg eine geraume Weile, in der sie Horace nur ansah. Als sie schließlich weitersprach, war ihre Stimme leiser, gefasst, aber nicht ganz frei von Vorwurf. »Ich nehme an, es hat ganz gut in Eure Pläne gepasst, den Sohn des Alten vom Berge mit einer Christin verheiratet zu sehen?«
Sie bedauerte die Worte augenblicklich, aber es war zu spät.
Horace lächelte unerschütterlich weiter, aber es war ein Lächeln, das nun um mehrere Grade kühler wirkte. »Es hat ganz gut in unsere Pläne gepasst«, antwortete er, »dich am Leben und in Sicherheit zu wissen. Was Bruder Abbé damals getan hat, war ein schwerer Fehler, der nicht nur ihn, sondern den ganzen Orden in große Gefahr hätte bringen können. Zugleich war es vor Gott richtig, denn das Leben jedes einzelnen Menschen ist heilig, und es steht auch dem Mächtigsten unter uns nicht zu, es gegen Argumente der Politik aufzuwiegen.«
Und so etwas sagte ein Mann, dachte Robin verstört, der gerade im Begriff stand, das Leben Tausender zu opfern, nur aus Gründen der Politik und des Machterhalts heraus?
»Und was das Verheiratetsein angeht«, fuhr Horace fort, »so wurde euer Bund nicht nach den Gesetzen der Christenheit und schon gar nicht vor Gott geschlossen, wenn ich richtig informiert bin.«
Auch darüber würde sie nachdenken müssen, dachte Robin, von allem, was er bisher gesagt hatte, vielleicht sogar am intensivsten. Bei aller Wiedersehensfreude, die sie empfand, sollte sie nicht vergessen, wie mächtig und auch gefährlich dieser Mann war. Horace hatte zweifellos die Wahrheit gesagt - er würde niemals so weit gehen, sie zu töten, um diesen Schandfleck vom ohnehin alles andere als blütenweißen Gewand des Templerordens zu tilgen, aber es gab andere Wege, einen Menschen unschädlich zu machen. Zugleich hatte sie das sichere Gefühl, dass er ihr mit diesen Worten eine Frage gestellt hatte, auf die er eine Antwort erwartete. Stattdessen stellte sie selbst eine.
»Wenn ihr all das gewusst habt, warum habt ihr niemals einen Boten zu mir geschickt? Wieso ist keiner von euch gekommen?«
Seinem weiter abkühlenden Lächeln nach zu urteilen, war dies eine Frage, die ihr ganz eindeutig nicht zustand. Er beantwortete sie trotzdem. »Warum sollten wir? Es war alles gut so, wie es gekommen ist. Und es wäre auch weiter gut geblieben, hätte dieser Narr Dariusz einfach getan, was man ihm aufgetragen hat.«
»Und was wäre das gewesen?«, fragte Robin.
Horaces Blick verdüsterte sich, doch sie spürte auch, dass sein Zorn nicht ihr galt. »Nichts anderes, als seine Männer hierher zu führen, ohne nebenbei seine eigenen Pläne und Absichten zu verfolgen.« Er schüttelte zornig den Kopf. »Wenn es wahr ist, was Rother gerade berichtet hat ...«
»Es ist wahr«, sagte Robin.
Horace fuhr mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln fort. »... dann hattet ihr mehr Glück als Verstand. Wären es Krieger gewesen, auf die ihr in diesem Dorf gestoßen seid, und nicht feige Wegelagerer und Banditen, dann wäre jetzt keiner von euch noch am Leben. Wir brauchen die Männer für die bevorstehende Schlacht gegen Saladins Truppen, und nicht, um ein paar Halsabschneider und Tagediebe zu jagen.«
Anscheinend, dachte Robin, hatte Horace doch nicht wirklich zugehört. Die Männer, gegen die sie gekämpft hatten, mochten Plünderer gewesen sein, aber es konnte durchaus sein, dass sie sich in dem bevorstehenden Kampf Saladins Truppen anschlossen. Aber sie ersparte es sich, darauf hinzuweisen. »Ist Bruder Abbé ... auch hier?«, fragte sie stattdessen.
»Ja«, antwortete Horace. »Du wirst später Gelegenheit haben, mit ihm zu reden. Doch wir sollten unser kleines Gespräch nicht zu lange fortsetzen, um nicht das Misstrauen deines kleinen Freundes zu erregen.«
»Rother?«, fragte Robin. Ohne dass sie selbst genau hätte sagen können, warum, war es ihr unangenehm, dass Horace Rother als ihren Freund bezeichnete.
»Ja.« Horace nickte. »Er ist ohnehin schon misstrauisch geworden. Ich nehme an, Dariusz hat ihm aufgetragen, dich ganz genau im Auge zu behalten.«
Eine Erinnerung schoss Robin durch den Kopf: Sie sah Rothers Hand, die nach dem Dolch in seinem Gürtel tastete. Sie hütete sich, Horace davon zu erzählen, doch möglicherweise schwieg sie einen Moment zu lange, und wahrscheinlich spiegelte ihr Gesicht in diesem Moment sehr deutlich das wider, was sie empfand, denn Horace nickte, so als hätte sie seine Frage beantwortet, und fuhr in kühlerem Tonfall fort: »Ja, das habe ich mir gedacht. Wir müssen überlegen, wie wir weiter mit Rother verfahren.«
»Wie meint Ihr das?«, fragte Robin erschrocken.
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Horaces Lippen. »Vielleicht gibt es ja eine wichtige Nachricht, die sofort nach Jerusalem gebracht werden muss oder zu einem noch viel weiter entfernten Ort. Und vielleicht muss sie auf den Weg gebracht werden, bevor Dariusz und die anderen hier eintreffen.«
Robin dachte einen Moment lang über seine Worte nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Bitte, tut das nicht.«
Alles in allem würde sie Rother damit keinen Gefallen erweisen, das wusste sie. Dariusz wäre nicht Dariusz, würde er nicht seine Schlüsse aus dem plötzlichen Verschwinden des jungen Tempelritters ziehen, und wie sie selbst schmerzhaft hatte erfahren müssen, war er kein Mann, der vergaß oder gar vergab. Und sein Arm reichte weit.
»Dir liegt eine Menge an diesem Jungen, nicht wahr?«, fragte Horace.
»Rother ist kein Junge«, erwiderte Robin, aber Horace wischte ihre Worte mit einer Bewegung fort, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen.
»Er ist ein Kind«, sagte er. »Er mag aussehen wie ein Mann und sich zumindest einbilden, sich wie ein solcher zu benehmen, aber er bleibt ein Junge.« Er schüttelte den Kopf, und sein Blick verdüsterte sich noch weiter. Seine Stimme wurde leiser. »Wie die meisten. Gott möge uns verzeihen, aber wir schicken eine Armee von Kindern in den Krieg.«
Robin wusste nicht genau, was sie darauf sagen sollte, doch Horace schien auch keine Antwort zu erwarten. Er starrte noch einen Moment ins Leere, dann seufzte er tief, gab sich einen sichtbaren Ruck und ging mit schnellen Schritten um den Tisch herum. Er ließ sich schwer in seinen Sessel fallen, bevor er mit veränderter, nunmehr rein sachlicher Stimme fortfuhr: »Wie wird sich dein Schwiegervater in dem Krieg verhalten, der dem König von Jerusalem droht?«
Robin fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Die Stimmung hatte sich von einem Augenblick auf den anderen geändert, und ihr war, als wäre die Temperatur im Raum plötzlich um mehrere Grade gefallen. Sie überlegte fast verzweifelt, wie sie Zeit gewinnen konnte, um sich eine Antwort auf diese unerwartete Frage zurechtzulegen. Sie hatte keine Ahnung, was Sheik Raschid al-Din Sinan plante. Bis vor wenigen Tagen hatte sie ja noch nicht einmal etwas von der bevorstehenden Schlacht geahnt.
»Ich ... weiß es nicht«, gestand sie schließlich und rettete sich in ein Schulterzucken und ein verlegenes Lächeln. »Salim hat nie mit mir über Politik gesprochen.«
»Das wundert mich«, sagte Horace. »Bruder Abbé rühmt dich als einen der kostbarsten Spitzel unseres Ordens, Bruder. Sollte er sich so in dir getäuscht haben?«
»Salim hat nie mit mir über Politik gesprochen«, sagte Robin noch einmal. »So wenig wie sein Vater.«
»Du warst zwei Jahre lang bei ihnen«, beharrte Horace. »Nicht als Gefangene oder als Gast, sondern als Eheweib seines Sohnes.«
»Mit dem er so wenig über Politik und seine Pläne gesprochen hat, wie es ein christlicher König mit dem Weib seines Sohnes täte«, antwortete Robin.
Horace seufzte. Seine Fingerspitze malte unregelmäßige Kreise auf dem verwitterten Holz der Tischplatte. »Verzeih die Wahl meiner Worte, Robin«, sagte er nach einer Weile, und ohne sie direkt anzusehen. »Sie war ungeschickt. Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber es wäre von großer Bedeutung für uns alle, zu wissen, wo Sinan steht.«
Robin war enttäuscht. Nach der ehrlichen Wiedersehensfreude, die sie in Horaces Augen gelesen hatte, tat der Gedanke doppelt weh, dass sie auch für Abbé und Horace am Ende nichts weiter als ein nützliches Werkzeug war. Dennoch überlegte sie einen Moment lang angestrengt. »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Aber so, wie ich Raschid kennen gelernt habe, wird er abwarten, bis sich zeigt, wer der Stärkere ist - und dann den Schwächeren unterstützen.«
Horace hob überrascht den Blick. »Ich wüsste nicht, dass jemand den Alten vom Berge jemals für einen Einfaltspinsel gehalten hätte.«
»Ich weiß nicht, was Ihr mit diesem Wort ausdrücken wollt«, antwortete Robin steif. »Sheik Sinan ist ein Mann von großem Ehrgefühl und mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit.«
»Sheik Raschid al-Din Sinan?«, vergewisserte sich Horace.
»Der Alte vom Berge? Wir sprechen von demselben Mann? Dem Obersten der Assassinen? Dem Herrn der Meuchelmörder und Attentäter und Giftmischer?«
Robin gemahnte sich zur Vorsicht, als sie den lauernden Unterton wahrnahm, der plötzlich in Horaces Stimme war. Zweifellos hatte Horace sogar Recht, von seinem Standpunkt aus - aber wo war letzten Endes der Unterschied, ob man einen Attentäter oder ein ganzes Heer aussandte, um seine Feinde zu töten?
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Horace: »Ich beginne mich zu fragen, ob du nicht vielleicht zu lange Zeit bei den Assassinen verbracht hast.«
Robin zuckte die Achseln. »Ihr wolltet meine Einschätzung hören, Bruder Horace. Ich kann Euch nicht mehr sagen als das, was ich gesehen habe. Wenn Sheik Sinan etwas zutiefst verabscheut, dann ist es die Willkür des Starken dem Schwächeren gegenüber.«
Das war ganz und gar nicht das, was Horace hatte hören wollen, das sah sie ihm an, aber Robin war es leid zu lügen, ganz davon abgesehen, dass es ihr vermutlich nichts genutzt hätte. In einem gewissen Sinne schien Horace tatsächlich ihre Gedanken zu lesen.
»Gottes Wege sind wahrlich sonderbar«, seufzte der Tempelritter schließlich. »Als wir hörten, dass Dariusz dich ausfindig gemacht hat und zusammen mit dir auf dem Weg hierher ist, waren wir in großer Sorge. Und doch scheint es mir, dass unser gütiger Herr den richtigen Moment erwählt hat, dich zu uns zurückzubringen.«
»In Sorge?«, fragte Robin. »Weshalb?«
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Komturs. »Du hast vorhin gefragt, warum sich keiner von uns bei dir gemeldet oder wir dir nicht wenigstens eine Nachricht gesandt haben. Ich will dir deine Frage beantworten: Wir hielten es nicht für nötig. Gott hat dich damals in Abbés Komturei gesandt, um uns alle vor einer großen Gefahr zu warnen, und er hat dich auf Raschids Burg geschickt, solange du dort sicher warst. Aber das bist du nun nicht mehr.«
»Wieso?«, erkundigte sich Robin alarmiert. »Gibt es denn nicht ein Bündnis zwischen den Assassinen und uns?«
Horace nickte, schüttelte aber gleich darauf den Kopf. Sein Zeigefinger fuhr fort, kleine, unregelmäßige Kreise auf die Tischplatte zu zeichnen. »Der Einfluss des Ordens ist leider nicht so groß, wie es gut wäre, und auch nicht so groß, wie manche von uns glauben. Jerusalem missbilligt unser Bündnis mit den Assassinen schon seit langem, und es gibt auch innerhalb des Ordens mehr als eine Stimme, die dagegen ist, dass sich Gottes Krieger mit dem Herrn der Diebe und Meuchelmörder einlassen.« Robin wollte protestieren, doch Horace hatte dies offensichtlich vorausgesehen und hob abwehrend die Hand, noch bevor sie überhaupt etwas sagen konnte. »Das sind nicht meine Worte, Kind. Ich kenne Raschid. Ich weiß, dass er ganz genau der Mann ist, als den du ihn mir gerade geschildert hast. Doch meine Stimme allein zählt nicht. Nein.« Er seufzte tief. »Ich fürchte, ganz gleich, ob nun Saladin obsiegt oder unsere Truppen triumphieren - wer immer die Vormacht in Galiläa und den Ebenen bis Damaskus erringt, der wird als Nächstes die Assassinen vertreiben.«
»Aber ... warum?«, murmelte Robin hilflos.
»Vielleicht gerade weil Raschid Sinan der Mann ist, als den du ihn kennen gelernt hast. Wir leben in schlimmen Zeiten, mein Kind. Und schlimme Zeiten sind schlechte Zeiten für aufrechte Männer.«
»Und was ... bedeutet das?«, fragte Robin leise. Ihr Herz begann zu klopfen.
Bevor Horace antworten konnte, drang ein helles Glockengeläut durch das schmale Fenster herein, und er erhob sich mit einem Ruck und so schnell, als hätte er nur auf dieses Zeichen gewartet, um nicht antworten zu müssen. »Kommt mit mir, Bruder«, sagte er, mit sonderbarer Betonung und einem angedeuteten Lächeln. »Die Stunde des mittäglichen Gebetes ist gekommen. Die Zeit, dem Herrn für all das zu danken, was er uns in seinem Land so überreich beschert.«
Robin fragte sich, wie Horace diese Worte wohl meinte. Eigentlich war er kein Mann, der Andeutungen oder Ironie schätzte, doch in diesem Moment war sie sich dessen ganz und gar nicht mehr sicher.