17. KAPITEL


Noch vor einer Stunde hätte sie den bloßen Gedanken empört von sich gewiesen, feige davonzurennen, aber sie war nicht die Einzige; aus dem widerwilligen Zurückweichen der Templer war längst eine planlose Flucht geworden, die allmählich auch vom Rest der christlichen Truppen Besitz ergriff. Robin konnte nicht sagen, wer zuerst gewichen war, Raimunds Reiterei oder die Templer, aber es spielte auch keine Rolle: Die Schlacht war entschieden, und nicht nur Odos Truppen wichen zurück. Nur eine Hand voll Unbelehrbarer hatte sich um Ridefort geschart, der noch immer unerschütterlich das Baussant in die Höhe reckte, und so gewaltig die Übermacht auch war, an dieser Stelle zumindest hielten sie stand. Fahne und Reiter ragten wie ein Fels aus blutbeflecktem Weiß und besudeltem Silber aus einem kochenden Meer schwarzer Mäntel und Turbane und blitzender Pickelhauben und Speere, und über ihnen flatterte trotzig das schwarzweiße Banner im Sturm, das die Schlacht entfesselt hatte.

Einen ganz kurzen Moment lang überlegte Robin sogar ernsthaft, sich ihnen anzuschließen, und möglicherweise hätte sie es sogar getan, wäre es nicht ausgerechnet Ridefort gewesen, der das Häufchen Unerschrockener anführte. Aber sie verwarf diesen Gedanken fast ebenso schnell wieder, wie er ihr gekommen war. Er war nur noch ein schwaches Echo von etwas gewesen, woran zu glauben man sie gelehrt hatte; Gewohnheit, keine Überzeugung mehr. Salim hatte Recht gehabt, dachte sie bitter. Trotz allem, was sie zu wissen geglaubt hatte, hatte sie die bevorstehende Schlacht vor allem als großes, aufregendes Abenteuer gesehen. Aber an diesem Grauen erregenden Gemetzel war nichts Abenteuerliches. Die Welt, in der sie noch vor einer Stunde gelebt hatte, hatte nichts mehr mit der gemein, durch die sie nun torkelte. Nichts war so, wie es sein sollte. Alles, woran sie je geglaubt hatte, was ihr je wichtig gewesen war, war zerbrochen, in Stücke gerissen und mit den Schreien der Sterbenden verweht. ... Sie wollte nur noch weg hier.

Aber wohin? Je weiter sie sich dem Rand des Schlachtfeldes näherte, desto auswegloser erschien ihr ihre Lage. Die Schlacht hatte längst um sich gegriffen wie ein Feldbrand, der außer Kontrolle geraten war.

Die flüchtenden Truppen waren auf das siegreiche Heer Balduins gestoßen und rissen es einfach mit sich, und die Sarazenen setzten nach und lösten das ganze Heer der Christen im Chaos auf. Robin hatte längst die Orientierung verloren. Über dem Schlachtfeld brodelte der Staub so heftig, als ritte sie durch dichten Nebel, und die kämpfenden Gestalten ringsum schienen sich mehr und mehr in unheimliche Schatten zu verwandeln, die wie Gespenster aus den wirbelnden Schwaden auftauchten und wieder darin verschwanden. Robins Nase blutete noch immer und machte ihr das Atmen schwer, und Staub und Schweiß brannten in ihren Augen und machten sie fast blind. Zum Feldlager, hatte Salim gesagt. Aber in welcher Richtung lag es? Plötzlich wurde ihr klar, dass sie sich inmitten der beiden ineinander verkeilten Heere hoffnungslos verirrt hatte. Sie wusste nicht mehr, wo sie war, und noch viel weniger, wohin sie sich wenden sollte. Ringsum herrschte unbeschreiblicher Lärm. Fliehende jammerten in Panik, Ritter versuchten Befehle zu brüllen, die niemand mehr hörte, Verwundete und Sterbende schrien ihr Leid heraus, verängstigte Pferde wieherten. Überall ertönte Schwertergeklirr, und die Luft war brütend heiß und dazu so voller Staub, dass sie kaum noch atmen konnte.

»Bruder Robin! Hier!«

Im gleichen Moment, in dem die Stimme verzerrt und schrill durch das Schreien und den Schlachtenlärm an ihr Ohr drang, prallte irgendetwas mit einem dumpfen Schlag gegen ihre Seite. Robin wischte den Pfeil weg, der sich im Geflecht ihres Kettenhemdes verfangen hatte, ohne es durchdringen zu können, und hielt, von einer wilden Hoffnung erfüllt, nach dem Besitzer der Stimme Ausschau, die ihren Namen gerufen hatte. Etwas Weißes und Silbernes blitzte irgendwo links von ihr auf und verschwand wieder, und noch einmal glaubte sie zu hören, wie ihr Name gerufen wurde.

Ein zweiter, diesmal besser gezielter Pfeil flog so dicht an ihrem Helm vorbei, dass sie tatsächlich das Geräusch hören konnte, mit dem sein gefiedertes Ende an dem Eisen vorbeistrich. Robin duckte sich, zwang ihre scheuende Stute herum und sprengte auf die Insel aus aufblitzendem Weiß und schimmerndem Metall zu, die inmitten des Chaos vor ihr brodelte.

Es war nicht Salim. Für einen winzigen, von wilder Hoffnung erfüllten Moment glaubte sie eine gedrungene Gestalt zu erkennen, die ein mächtiges Bastardschwert schwang, dann riss der Vorhang aus Staub und tanzenden Schatten auf, und eine eisige Hand schien nach Robins Herz zu greifen und es zusammenzudrücken, als sie erkannte, dass es auch nicht Bruder Abbé war, der ihren Namen gerufen hatte. Vor ihr erhob sich eine Festung aus lebenden Körpern und Eisen, über der trotzig ein schwarzweißes Banner flatterte. Im allerersten Moment dachte sie, es wäre Ridefort gewesen, der sie erkannt und ihren Namen gerufen hatte, dann jedoch erblickte sie die riesige, breitschultrige Gestalt, die unmittelbar neben dem Ordensmarschall im Sattel eines gewaltigen Streitrosses saß und ihr zuwinkte. Dariusz?, dachte sie verwirrt. Ganz egal, was auch immer er ihr zu Beginn der Schlacht gesagt hatte: Warum sollte sich Dariusz in einem solchen Moment wie diesem um sie sorgen?

Die Reihen der Templer teilten sich, als sie näher kam, um sie hindurchzulassen, und Robins Pferd griff fast ohne ihr Zutun schneller aus. Keuchend vor Erschöpfung und nicht mehr in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen, langte sie neben Dariusz’ und dem Marschall an und starrte verständnislos in die dunklen Augen des grauhaarigen Tempelritters, die sie durch den schmalen Sehschlitz seines Helmes mit einem Ausdruck wirklicher Sorge musterten. Robin versuchte erst gar nicht, dieser Erkenntnis irgendeinen Sinn abzugewinnen - aber Dariusz’ Blick machte ihr klar, dass er tatsächlich Angst um sie gehabt hatte und nun sehr erleichtert war, sie lebend und unversehrt wiederzusehen. Sie wollte etwas sagen, doch Dariusz schnitt ihr mit einer groben Bewegung das Wort ab und bedeutete ihr mit einer zweiten, eindeutig befehlenden Geste, hinter ihm und Ridefort Aufstellung zu nehmen. Als sie gehorchte und ihr Pferd an ihm vorbeilenkte, griff er wortlos zu und pflückte zwei abgebrochene Pfeile aus ihrem Kettenhemd; Robin hatte nicht einmal bemerkt, dass sie getroffen worden war.

»Bleib hinter mir!«, schrie Dariusz. »Ganz egal, was passiert!«

Robin hätte gar nicht anders gekonnt, als seinem Befehl Folge zu leisten. Es mochten gute zwei Dutzend Ritter sein, die sich um Ridefort und das Baussant geschart hatten, und der Druck der von allen Seiten auf sie einstürmenden Angreifer wurde so groß, dass sich ihre Pferde kaum noch bewegen konnten, selbst wenn sie es gewollt hätten.

Dennoch wurden sie Schritt für Schritt zurückgedrängt. Robin duckte sich, als sie einen Schatten aus den Augenwinkeln heraus auf sich zufliegen sah. Der Speer verfehlte sie, traf den Ritter hinter ihr und prallte wirkungslos an seiner Rüstung ab; dennoch war seine Wucht so gewaltig, dass der Mann taumelte und aus dem Sattel gestürzt wäre, wäre er nicht gegen den Reiter neben sich geprallt und von diesem aufgefangen worden. Und immer mehr und mehr Sarazenen stürmten heran. Die Templer in ihren schweren Rüstungen und auf ihren gepanzerten Pferden bildeten ein nahezu unüberwindliches Hindernis, an denen sich die Flut der säbelschwingenden Angreifer brach wie Meeresbrandung an einem unüberwindlichen Riff, und kaum einer der Angreifer überlebte auch nur den ersten Zusammenprall. Doch ihre Zahl schien unerschöpflich, und statt sie einzuschüchtern oder gar in die Flucht zu schlagen, schien ihnen der Anblick der flatternden schwarzweißen Fahne nur immer mehr Kraft und Kampfeswillen zu verleihen. Langsam, aber unbarmherzig, Schritt für Schritt und eine schreckliche Spur aus toten und sterbenden Männern und verwundeten Tieren und zerbrochenen Waffen und blutgetränkten Kleidern zurücklassend, wurden Ridefort und sein kleines Häufchen unerschrockener Verteidiger zurückgedrängt. Auch ihre Zahl schmolz zusammen. Ganz langsam nur, aber sie wurden weniger.

Und schließlich zerbrach auch die lebende Festung, inmitten derer sich Ridefort, Dariusz und sie selbst befanden. Es war ein einzelner Reiter, der die Katastrophe auslöste. Robin sah, wie er zwei, drei wuchtige Schwerthiebe mit einem besonders hartnäckigen Angreifer austauschte, der mit zwei Schwertern gleichzeitig und ohne Schild kämpfte; eine Technik, die sie ein paar Mal auch bei Salim beobachtet hatte, und ihr Herz machte einen erschrockenen Sprung in ihrer Brust, als sie sah, dass der Reiter ganz in Schwarz gehüllt war und sich auch sein Gesicht hinter einem schwarzen Tuch verbarg, dann aber wurde ihr klar, dass er viel größer und deutlich älter war als Salim. Der Tempelritter trieb den schwarz gekleideten Sarazenen, rücksichtslos darauf vertrauend, dass seine schweren Rüstungen die Schwerthiebe abwehren würde, vor sich her und verließ dabei die geschlossene Reihe, die die gepanzerten Pferde bisher gebildet hatten.

Es war nicht nur sein Todesurteil.

Der brutalen Kraft seiner Hiebe hatte der Sarazene nichts entgegenzusetzen. Mit seinen beiden Schwertern gelang es ihm, die ersten zwei oder drei Schläge noch abzuwehren, dann zerschmetterte ein Hieb des gewaltigen Breitschwerts nicht nur seine Klinge, sondern grub sich auch tief in seine nur von dünnem Stoff geschützte Schulter. Der Mann stürzte tödlich getroffen vom Pferd, doch auch um den Ritter war es geschehen. Nicht mehr inmitten seiner Kameraden, war er dem Angriff von nahezu einem Dutzend Kriegern zugleich schutzlos ausgeliefert. Der Reiter verschwand einfach unter einer Flut heranstürmender Gegner, und noch bevor er zusammenbrach, drängten weitere Sarazenen heran und versuchten die Lücke zu verbreitern, die der Reiter in der Verteidigungslinie der Templer hinterlassen hatte. Mit dem Mut der Verzweiflung warfen sich die Ritter den Angreifern entgegen, doch diesmal nutzte ihnen alle Tapferkeit nichts mehr. Die Lücke verbreiterte sich, und die gesamte Formation begann zusammenzubrechen.

»Zurück!«, schrie Ridefort. »Zieht euch zurück! Alles zu mir! Verteidigt die Fahne!«

Seine Männer versuchten es, aber die Formation, einmal im Auseinanderbrechen begriffen, war nicht mehr zu halten. Aus der lebenden Festung, als die er und seine Hand voll verbliebener Getreuer dem Ansturm des Sarazenenheeres bisher noch getrotzt hatten, wurde ein heilloses Durcheinander. Die bisher nahezu unüberwindliche geschlossene Formation zerfiel in Dutzende erbitterter Einzelkämpfe und Handgemenge, in denen sich die erdrückende Überzahl der Gegner nun endgültig durchzusetzen begann.

Dennoch zögerte Dariusz, seinem Befehl zu folgen. Sein Pferd tänzelte so nervös auf der Stelle, dass er es mit einem brutalen Ruck am Zaumzeug zur Ruhe bringen musste. »Fliehen?«, keuchte er. »Wir sollen wie die Feiglinge vor diesen Heiden davonlaufen? Das kann nicht Euer Ernst sein, Marschall.«

»Das ist nicht nur mein Ernst, Bruder Dariusz«, antwortete Ridefort gereizt. »Das ist ein Befehl! Gehorcht!«

Dariusz riss sein Pferd herum, allerdings nur, um den Angriff eines Sarazenenkriegers abzuwehren, dem es gelungen war, die Reihen der Templer zu durchbrechen.

»Ich werde nicht feige davonlaufen!«, schrie er, noch bevor der getroffene Krieger vollends aus dem Sattel gesunken war. »Unsere Regeln ...«

»Unsere Regeln«, unterbrach ihn Ridefort, und seine Augen blitzten so wütend auf, dass Robin es selbst hinter den schmalen Sehschlitzen seines Helmes noch erkennen konnte, »verbieten es uns nicht, unser Leben zu retten, wenn ein Kampf keine Aussicht auf Erfolg mehr hat, Bruder Dariusz! Im Gegenteil! Ich werde nicht die Leben tapferer Männer sinnlos opfern, die wir später noch bitter brauchen! Begreift Ihr denn nicht, Ihr Narr?« Ridefort machte eine wütende Geste mit dem Baussant in die Runde.

»Das sind nicht Faruk Schahs flüchtende Truppen! Das ist Saladins ganzes verdammtes Heer! Sie haben uns eine Falle gestellt, und wir sind blind hineingerannt!«

Er wiederholte seine wütende Bewegung mit der Lanze, an deren Ende das Banner flatterte. »Wir ziehen uns ins Tal zurück. Dort können wir uns zu einem neuen Angriff sammeln. Gehorcht Ihr, oder soll ich Euch Eures Kommandos entheben?«

Die Situation kam Robin mit jedem Atemzug bizarrer und unwirklicher vor. Sie befanden sich inmitten einer tobenden Schlacht, und diese beiden Ritter hatten nichts Besseres zu tun, als über die Auslegung ihrer Ordensregel zu streiten?

Und doch, so absurd es ihr auch vorkam, es vergingen noch einmal zwei oder drei endlose schwere Herzschläge, bis Dariusz schließlich sein Schwert senkte und widerwillig nickte. Doch obwohl sie sein Gesicht hinter dem schweren Helm nicht erkennen konnte, spürte sie doch, dass die Angelegenheit für ihn damit noch lange nicht erledigt war.

»Los!«, fuhr Dariusz sie an. »Du hast den Marschall gehört!«

Sie gehörten mit zu den Letzten, die vor den heranstürmenden Sarazenen zurückwichen. Obwohl sie nur ein kleines Grüppchen waren, eine Hand voll Reiter in einem Heer berittener Gestalten, erhob sich doch aus den Reihen der Sarazenen ein johlendes Triumphgeschrei, als das Baussant endlich herumschwenkte und sich dann zurückzog, und für einen winzigen Moment verstand Robin Dariusz beinahe. Es spielte keine Rolle, ob ein Dutzend Reiter mehr oder weniger auf dem Schlachtfeld war, doch das heilige Banner der Tempelritter zurückweichen zu sehen musste den Sarazenen ebenso viel Kraft geben, wie es den Templern und ihren Verbündeten nahm. Dennoch war Rideforts Entscheidung die einzig richtige gewesen. Aller Tapferkeit und Kraft zum Trotz hätten sie dem Ansturm so oder so nur noch wenige Augenblicke standhalten können, und das Baussant fallen zu sehen hätte eine noch ungleich verheerendere Wirkung auf die Kampfmoral der Truppen gehabt.

Falls es in dem nahezu in Auflösung begriffenen Heer noch so etwas wie Kampfmoral gab. Robin tat, was Dariusz ihr befohlen hatte, und versuchte sich möglichst in seiner Nähe zu halten, und nachdem die kleine Schlacht um das Baussant innerhalb der großen Schlacht vorüber war, gesellten sich immer mehr und mehr Reiter zu ihnen, um ihren Rückzug zu decken, doch sie hatte längst den Überblick nicht nur über ihre eigene Lage, sondern auch den Verlauf der Schlacht verloren. So etwas wie eine Ordnung oder nach strategischen Gesichtspunkten vorgehende Truppenteile schien es nicht mehr zu geben. Es wurde einfach überall rings um sie gekämpft, und Robin konnte selbst nicht mehr sagen, welche Seite im Moment im Vorteil war oder ob überhaupt eine. Sie glaubte zu spüren, dass es um die Sache der Christen nicht gut bestellt war, doch es konnte ebenso gut genau anders herum sein. Das Gelände zwischen dem Flussufer und dem Tal, in dem der so katastrophal beendete Angriff seinen Anfang genommen hatte, brodelte einfach vor Menschen. Hier und da bildeten sich kleine Inseln versprengter Fußsoldaten, die der Flut der Feinde standzuhalten - oder einfach ihr Leben zu retten - versuchten, indem sie sich Rücken an Rücken gegenseitig Deckung gaben oder in kleinen Gruppen zusammenfanden, um sich gegen den übermächtigen Feind zu stemmen, und zumindest um diese Männer stand es tatsächlich nicht gut. Wer nicht einfach niedergeritten wurde, der wurde von den Sarazenen mit Schwertern, Keulen oder Speeren niedergemacht oder ging unter einem Hagel von Pfeilen zu Boden, und nur zu oft sah sie berittene Gestalten mit spitzen Helmen und runden Schilden, die flüchtende Krieger wie die Tiere hetzten.

Sie erblickte jedoch auch immer wieder einzelne, gepanzerte Ritter, die sich gegen eine drei-, vier- oder auch fünffache Übermacht hielten. Die meisten von ihnen fielen letztendlich doch, aber ihre schweren Waffen und die Rüstungen, Helme und Schilde verlangten ihren Feinden einen fürchterlichen Blutzoll ab. Wie immer die Schlacht letzten Endes auch ausgehen mochte, der Preis, den die Sarazenen dafür bezahlen mussten, würde ungleich höher sein als der ihrer Gegner.

Auch Robin wurde ununterbrochen angegriffen, und mindestens zweimal spürte sie einen harten Schlag, wenn ein weiterer Pfeil von ihrer Rüstung abprallte. Vermutlich hatte sie es nur Dariusz zu verdanken, dass sie den Rückweg zum Tal überhaupt überlebte; warum auch immer - er griff mindestens zweimal ein, um ihr beizustehen, als sie in Bedrängnis geriet, und vermutlich sogar öfter, ohne dass sie es bemerkte. In Robins Kopf überschlugen sich die Gedanken viel zu sehr, als dass sie tatsächlich darüber nachdenken konnte, doch es schien, als hätte sie in dieser Schlacht nicht einen, sondern gleich zwei Schutzengel.

Doch vielleicht war selbst das nicht genug.

Sie hatten das rettende Tal fast erreicht. Rings um sie herum wurde immer noch gekämpft, aber längst nicht mehr so heftig wie bisher, und vor ihnen lagen vielleicht noch hundertfünfzig oder zweihundert Pferdelängen. Robin wollte gerade erleichtert aufatmen, als sie etwas sah, das ihr vor Entsetzen schier die Kehle zuschnürte.

Die schmale Schlucht, die in das rettende Tal hineinführte, war plötzlich nicht mehr leer. Reiter strömten heraus. Hunderte, Aberhunderte von Reitern.

Aber es waren keine Templer, Johanniter oder christliche Ritter. Es waren Gestalten auf kleinen, schlanken Pferden, die spitze Helme und Rundschilde trugen und in bunte Burnusse gehüllt waren!

Neben ihr schrie Dariusz wütend auf, und auch Ridefort brüllte irgendetwas, das sie nicht verstand, und die vielleicht sechzig oder siebzig Reiter, auf die ihre Anzahl mittlerweile wieder angewachsen war, schloss sich binnen eines einzigen Augenblickes wieder zu einer perfekt ausgerichteten, geraden Linie zusammen. Als gäbe es die gewaltige Übermacht gar nicht, auf die sie zusprengten, nahmen die Reiter ihre typische Angriffsformation ein, und statt zu tun, worauf Robin instinktiv wartete, nämlich ihre Tiere herumzureißen und ihr Heil in der Flucht zu suchen, wurden sie plötzlich wieder schneller und senkten auf dem allerletzten Stück ihre Lanzen.

Robin hatte keine Lanze mehr, und hätte sie eine gehabt, es hätte ihr nichts genutzt. Dariusz schlug plötzlich mit dem Schild zu und versetzte ihrem Pferd einen Hieb gegen den Hals, der es zwar nicht taumeln ließ, aber nachhaltig aus dem Tritt brachte, sodass sie ein kurzes Stück zurückfiel und alle Hände voll damit zu tun hatte, nicht abgeworfen zu werden, und diese winzige Zeitspanne reichte. Als Robin die Gewalt über ihr Tier zurückerlangt hatte, prallten die beiden Reitertrupps aufeinander.

Die Erde erzitterte. Es war, als führe ein gigantischer Hammer auf einen noch gigantischeren Amboss herab. Für einen Moment schien die Welt aus nichts anderem als dem Krachen der aufeinander prallenden Körper zu bestehen, und vor Robins ungläubig aufgerissenen Augen wiederholte sich das Wunder, dessen Zeuge sie schon einmal geworden war: Ungeachtet der gewaltigen Überzahl der Sarazenen schienen die Templer das feindliche Heer einfach zu zermalmen. Die schiere Wucht ihres Angriffes ließ die Reihen der Sarazenen einfach zusammenbrechen. Es waren Saladins Truppen, nicht die Tempelritter, die zurückwichen, und für einen ganz kurzen Moment sah es beinahe so aus, als sollte sich das Schlachtenglück noch einmal wenden. Und vielleicht wäre es Ridefort und seinen Männern tatsächlich gelungen, das Schicksal noch einmal herumzureißen, allein durch den beispiellosen Mut seiner Männer und ihren unbedingten Willen zu siegen, denn die Truppen, die sich ihnen entgegengeworfen hatten, wankten nicht nur, sie begannen zurückzuweichen, und Panik machte sich unter Mensch und Tier breit.

Plötzlich war es, als lege sich der Schatten einer riesigen Hand über das Schlachtfeld. Robin hob erschrocken den Blick. Auf den Felsen oberhalb des Talausgangs standen Männer. Hunderte von Männern, die kurze, geschwungene Hornbögen in den Händen hielten. Und der Himmel war schwarz von Pfeilen. Ihr blieb gerade noch Zeit, den Arm mit dem zerbrochenen Schild in die Höhe zu reißen, aber nicht mehr, um wirklich zu begreifen, was geschah, bevor die Geschosse wie tödlicher schwarzer Regen auf sie herunterzuprasseln begannen.

Keiner der aus großer Entfernung abgeschossenen Pfeile vermochte ihre Rüstung oder ihren Helm zu durchschlagen, doch die pure Wucht der Geschosse riss ihren Arm zurück und warf sie im Sattel nach hinten, und so gut geschützt sie auch sein mochte, ihr Pferd war es nicht. Das Tier schrie gequält auf, als sich gleich vier oder fünf Pfeile gleichzeitig durch seine Schabracke bohrten und tief und quälend in sein Fleisch bissen, stieg auf die Hinterläufe hoch und warf sie ab, und Robin konnte sich gerade noch mit einer verzweifelten Bewegung zur Seite rollen, um nicht unter dem sterbenden Pferd begraben zu werden. Seine im Todeskampf zuckenden Hufe streiften ihren Helm, und der Schlag war so gewaltig, dass ihr schwarz vor Augen wurde und sie einen Moment lang mit aller Kraft gegen die Bewusstlosigkeit kämpfen musste.

Als sich die schwarzen und blutroten Schleier vor ihren Augen wieder verzogen, bot sich ihr ein Anblick, den sie nie wieder wirklich vergessen sollte. Sie hatte trotz allem Glück gehabt. Dariusz’ Stoß mit dem Schild hatte sie weit genug zurückgeworfen, sodass der Regen aus tödlichen schwarzen Pfeilen sie nur gestreift hatte. Dariusz selbst und der Rest ihrer Ordensbrüder hatten weniger Glück.

Hunderte, wenn nicht Tausende von Pfeilen regneten von der Höhe der Felsen aus auf sie herab, trafen Ritter und Sarazenen, christliche und muslimische Pferde ohne Unterschied und verwandelte den bisher so unaufhaltsam erscheinenden Ansturm der Tempelritter in ein einziges Chaos aus zusammenbrechenden Pferden und stürzenden Menschen. Robin beobachtete entsetzt, dass die allermeisten Pfeile Saladins eigene Männer trafen, deren wollene Mäntel und Burnusse ihnen keinen Schutz vor dem Tod boten, der erbarmungslos aus dem Himmel auf sie herabregnete. Vielleicht blieb der Angriff der Templer einfach stecken, weil sie plötzlich über einen Berg aus zusammenbrechenden Pferden und Männern stolperten. Die verzweifelte Hoffnung, die sie für einen Moment noch gehabt hatte, wurde von einem Atemzug auf den anderen von Entsetzen und schierem Grauen abgelöst, als sich die Schlacht vor ihr in reines Chaos verwandelte.

Als der Pfeilregen nach der dritten oder vierten Salve aufhörte, war kaum noch einer der Tempelritter im Sattel. Neun von zehn Pferden lagen tot oder sterbend am Boden, viele hatten ihre Reiter unter sich begraben, und nur einige wenige Tiere galoppierten reiterlos davon. Die Anzahl der Opfer unter Saladins Reitern musste ungleich größer sein, doch aus dem schmalen Tal strömten immer noch mehr und mehr Sarazenen heran, für die die Templer nun, ohne ihre gewaltigen Schlachtrösser, leichte Opfer sein mussten. Wie durch ein Wunder sah sie, wie sich Ridefort inmitten des Getümmels aufrichtete und die schwarzweiße Fahne der Templer schwenkte, und in der breitschultrigen Gestalt neben ihm erkannte sie niemand anderen als Dariusz, der mit einer fast trotzigen Bewegung seinen Schild hob und sich schützend neben dem Ordensmarschall aufbaute.

Auch Robin taumelte mühsam auf die Füße. Der zerbrochene Schild war beim Sturz vollends von ihrem Arm geglitten, und sie hatte auch ihr Schwert fallen gelassen. Mühsam bückte sie sich danach und hob es auf, und ohne wirklich zu denken, wollte sie herumfahren und zu Dariusz, Ridefort und den anderen laufen. Doch als hätte er die Bewegung gespürt, drehte sich der breitschultrige Ritter neben Ridefort plötzlich um und machte eine winkende Bewegung mit dem Schwert in ihre Richtung.

»Robin!«, schrie er. »Flieh! Wir sehen uns in Safet!«

Загрузка...